Fembio-Specials Frauen aus Wolfsburg
Fembio-Special: Frauen aus Wolfsburg
Geleitwort zu dem Buch "Frauen in Wolfsburg" von Luise F. Pusch
Frauenemanzipation ist ohne genaue Kenntnis der Frauengeschichte nicht möglich. (Gerda Lerner)
Dies ist ein wichtiges, schönes Buch, das ich mit großem Interesse von der ersten bis zur letzten Seite gelesen habe, und - ehrlich gesagt – damit hatte ich nicht gerechnet. Verwöhnt durch die ständige berufliche Beschäftigung mit großen Frauen aller Epochen und Länder, dachte ich: "Naja, mal sehen. Wolfsburg ist ja nicht grade München oder Berlin, wo es von spannenden historischen Frauengestalten nur so wimmelt." Ich wurde eines besseren belehrt. Hannelore Könne und Bärbel Lang haben, zusammen mit den vielen Wolfsburger Frauen, die ihre Lebensgeschichten ausgepackt haben, uns da wirklich einen Meilenstein hingestellt! Das Buch ist etwas ganz Besonderes, gerade weil es von Frauen erzählt, die sind "wie du und ich". Es geht dabei nämlich nicht pauschal vor, wie es sonst in der Geschichtsschreibung geschieht, wenn "das Volk" oder "die Frauen" auch mal zufällig ins Blickfeld geraten. Jede Frau bekommt vielmehr ihr eigenständiges Porträt, als sei sie für die Geschichte Wolfsburgs, ja Deutschlands genau so wichtig und interessant wie etwa für sich selbst oder für ihren privaten Kreis. Und beim Lesen stellte ich fest: Sie sind es. Jede dieser Frauen ist wichtig für alle, die ihnen in diesem Buch begegnen wollen. Denn Wolfsburg ist schließlich keine Stadt wie jede andere. Wolfsburg verkörpert deutsche Geschichte im zweiten Drittel dieses Jahrhunderts wie kaum eine andere Stadt: Die Verbrechen (die überwiegend auf das Konto der Männer gehen) wie auch die Strafe dafür, die alle traf. Dann das "Sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen", wie ein Kapitel des Buchs überschrieben ist, das weitgehend Sache der Frauen war. Schließlich mühsamster Aufbau und das sogenannte "Wirtschaftswunder", das an den Frauen allerdings zunächst vorbeiging. Wohl zum ersten Mal erfahren wir die "weibliche Seite der Medaille" so ausführlich und eindrücklich aus erster Hand: Für mich war die Lektüre deshalb auch eine geballte Ladung Unterricht in jüngster Geschichte in anschaulichster Form. Hier ein paar Passagen, die mich auf die eine oder andere Weise besonders angesprochen haben.
"Als einziges Kleidungsstück erhielt sie ein kariertes Kleid, aber keine Unterwäsche" (die jüdische Zwangsarbeiterin Hedy Bohm über VW) "Nach der Ankunft in Güterwagen suchten sich die Meister einige Personen für Tätigkeiten im Volkswagen–Werk heraus. Die weniger leistungsfähigen Personen wurden u.a. mit dem Schneiden von Blechen beschäftigt, wo auch Bronislawa Jamroza barfuß und halb nackt bei Wind und Wetter zu arbeiten hatte. Sie hatte vor der Verschleppung ihr Haus nicht mehr aufsuchen dürfen und trug die leichten Sommersachen, in denen sie ihre Arbeit am Fluß verließ." (Bronislawa Jamroza) "Drei Tage lang saß sie mit ihren vier Kindern – das Jüngste vier Jahre alt – unter einer Eiche, ehe sie bei einem Bauern zwei Zimmer erhielt. " (Gerda Mendl) "Tauschgeschäfte kamen nicht in Frage, da sie nichts besaß, was sie hätte tauschen können." (Frieda Scheibner) "Die Lehrerin war mit ihr sehr unzufrieden, weil sie kein Papier zum Schreiben mitbrachte. Beim besten Willen gab es in den Nachkriegsjahren kein Papier in Wolfsburg zu kaufen." (Monika Retmann) "Ich hatte gar keine Zeit für einen Mann, außerdem hatte ich ja meine Kinder" (Gerda Mendl) "Als Betroffene bemängelte sie die ungleiche Bezahlung der Frauen und der kriegsversehrten Männer, die besser entlohnt wurden, obwohl ihnen die Frauen halfen, damit die Männer ihren Arbeitsplatz überhaupt ausfüllen konnten." (Gerda Mendl) "Vor allem ist sie dankbar, daß sie in einer sehr harmonischen Familie leben durfte, in der es niemals größere Meinungsverschiedenheiten gegeben habe." (Dora Schubert - Das Erfolgsgeheimnis dieser Familie: Sie bestand nur aus Frauen. Dora Schubert "lebte ein Leben lang mit Mutter und Schwester zusammen"). "Freizeit hat es immer nur wenig gegeben. Ihrer Vorliebe fürs Chorsingen hat sie aus Zeitmangel niemals nachgeben können. (Marlies Schumann) "In der Schiebedachabteilung waren fast nur jüngere Frauen beschäftigt. ... Die Vorgesetzten waren Männer. Erst in den 80ern bekamen sie auch weibliche Vorgesetzte." (Monika Retmann)
Alle diese Frauen haben gearbeitet wie verrückt. Nun tun Frauen das ja sowieso – zwei Drittel der Arbeit auf dieser Welt werden bekanntlich von Frauen geleistet – aber üblicherweise wird uns das nicht so übersichtlich und beharrlich, Lebenslauf für Lebenslauf, vorgeführt. Über Dina Lauriente heißt es: "Die Imbißgaststätte erforderte von 10 Uhr früh bis 1.00 oder 2.00 Uhr nachts ihre Anwesenheit, sommers und winters, ohne einen Tag Urlaub in den ersten fünf bis sechs Jahren".
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Ein Buch, in dem Wolfsburger Frauen vorkommen und das sie selbst mitgestaltet haben, ist aber nicht nur wichtig für die Leserinnen und Leser von "auswärts", die sich nun besser informieren können. In erster Linie tut es den Wolfsburgerinnen selber gut. Die Psychologie spricht hier von "Spiegelung". Wenn ein Kind nicht "gespiegelt" wird, keine Aufmerksamkeit für seine Freuden, Leiden und Leistungen bekommt, kann es sich nicht entwickeln. Es erkrankt an Hospitalismus und verkümmert seelisch und geistig, selbst wenn für alle körperlichen Bedürfnisse gut gesorgt wird.
Das Buch Frauen in Wolfsburg leistet für die Frauen in Wolfsburg genau dies: Es spiegelt sie, indem es ihre Geschichte und ihre Leistung würdigt. Selbstverständlich können nicht alle Frauen, die hier gelebt, die Wolfsburg mit aufgebaut und geprägt haben, darin vorkommen. Aber in den einzelnen Lebensläufen werden die meisten Wolfsburgerinnen Aspekte ihrer eigenen Geschichte – die eben von der tradierten und wissenschaftlich aufgearbeiteten Geschichte der Männer sehr verschieden ist – wiederfinden.
Unsere Herrenkultur spiegelt normalerweise nur Männer wider; sie erhalten so routinemäßig die Botschaft, daß sie bedeutsam und wichtig sind. Die Frauen erhalten die entgegengesetzte Botschaft, daß sie nämlich nicht der Rede wert sind.
Die Menschen denken: Frauen werden nicht öffentlich gewürdigt, also haben sie wohl auch nichts geleistet, denn sonst würden sie ja gewürdigt. Die wenigsten machen sich klar, daß der Zusammenhang zwischen öffentlicher Würdigung und Leistung komplizierter ist. Die jeweils herrschende Klasse würdigt diejenigen, die ihr lieb und teuer sind, vorzugsweise also sich selbst und ihresgleichen. Die herrschenden Klassen können wechseln. Karl–Marx–Stadt heißt heute wieder Chemnitz, Leningrad heißt heute wieder St. Petersburg. Und in der von Nazis gegründeten "Stadt des KdF–Wagens", die später diesen belastenden Namen ablegt und sich Wolfsburg nennt, gibt es nach dem Krieg eine Heinrich–Heine–Straße, die in dem Buch "Frauen in Wolfsburg" auch dauernd vorkommt.
So wechseln zwar die Herrschenden, aber Männer sind es allemal. Erst heute erleben wir, in der wichtigsten sozialen Bewegung des Jahrhunderts, wenn nicht des Jahrtausends, daß die herrschende Klasse der Männer – jedenfalls in den Industrienationen – sich wandelt und allmählich von ihrem Sockel geholt wird von Frauen, die das Spiel durchschaut haben und es nicht mehr mitmachen. Die Erforschung der weiblichen Seite der Geschichte ist ein wesentlicher Teil dieser Arbeit, denn, um noch einmal die große US–amerikanische Historikerin Gerda Lerner zu zitieren: "... die bisher aufgezeichnete und interpretierte Darstellung der Vergangenheit der Menschheit [ist] nur partiell und lückenhaft, weil sie die Vergangenheit der Hälfte der Menschheit übergeht, und sie ist verzerrt, weil sie die Geschichte nur aus dem Blickwinkel der männlichen Hälfte der Menschheit wiedergibt." (Gerda Lerner, Die Entstehung des Patriarchats. Frankfurt/M. 1991, S. 21)
Das Buch "Frauen in Wolfsburg" ist ein einzigartiger Beitrag der Wolfsburgerinnen zur Komplettierung des Geschichtsbildes. Es hat – wie die Frauenbewegung selbst - einen sympathischen, entschieden antihierarchischen Zug. Souveränin ist das Volk, und das Volk der ersten Wolfsburgerinnen besteht aus: Fabrikarbeiterinnen, Hebammen, Kirchenfrauen, Zwangsarbeiterinnen, Unternehmerinnen, Hausfrauen, Spitzensportlerinnen, Lehrerinnen, Künstlerinnen, Ehefrauen von Gastarbeitern, Ärztinnen. Das Buch macht keinen Unterschied zwischen ihnen: Die ehemalige Zwangsarbeiterin wird genau so ausführlich gewürdigt wie die Politikerin, die Unternehmerin und die leitende Angestellte bei VW.
Das ergibt eine faszinierende Lektüre – die Frauen sagen sehr kluge Dinge, sie beobachten scharf und urteilen illusionslos, und sie haben Witz – von ihren bewundernswerten Leistungen einmal abgesehen.
Ich warte mit Spannung auf den zweiten Band!
(Künne, Hannelore. 1998. Frauen in Wolfsburg: Ein Blick in die Geschichte. Vorwort von Bärbel Lang. Geleitwort von Luise F. Pusch. Wolfsburg. Stadt Wolfsburg, Frauenbüro. ISBN 3-87327-031-5.)