Was Frauen im 21. Jahrhundert aus der Urgeschichte lernen können. Von Helke Sander
Als ich 1968 anfing, nach den Ursachen für die weltweite Unterdrückung der Frauen zu suchen, musste ich immer weiter in der Menschheitsgeschichte zurückgehen und dabei feststellen, dass seit der Trennung von den Affen vor ca. 7 Millionen Jahren bis vor ca. 10.000 Jahren nach allem, was wir bisher wissen, von einer Unterdrückung der Frauen keine Rede sein kann. Vor ca. 3.000 Jahren begann sich langsam und nicht überall gleichzeitig das Bild zu ändern. Die neu entstehenden verschiedenen monotheistischen Religionen gingen einher mit einer sich differenzierenden Gesellschaft, in der es schon Arbeitsteilung gab, Herrscher und Sklaven und zunehmend rechtlose und Männern unterworfene Frauen. Am Himmel verdrängten die männlichen Götter die bisher hauptsächlich verehrten weiblichen Fruchtbarkeits- und Naturgottheiten.
Was war in der Zwischenzeit geschehen, dass es zu dieser Umkehrung kommen konnte, die bis heute ihre zerstörende Kraft entfaltet?
Um es vorweg schon zu sagen: Niemand war daran schuld. Alles hatte zu tun mit Fortschritt und mit Entwicklung der menschlichen Intelligenz, die uns zu dem machte, was wir heute sind, aber auch die Ursache sind für all die Probleme, die sich bis heute angehäuft haben. Von ein paar Affenmenschen am Anfang ging es hin bis zu heute fast 10 Milliarden Menschen, die in der Lage sind, ihre Lebensgrundlagen für uns alle zu zerstören.
Das führe ich etwas später genauer aus.
Die religiösen Führer, die christlichen Päpste, Pfarrer, Kaplane, die islamischen Mullahs und Imame, die jüdischen Rabbiner, die von sich behaupten, einen direkten Draht zu Gott zu haben, bauen ihre heutige Vormachtstellung auf Lügen über den Anfang der Geschichte auf.
Die evangelikalen Christen z.B. setzen den Anbeginn der Welt und der Menschheit auf ca. 6000 Jahre zurück fest und lehren dies auch an einigen amerikanischen Schulen. Papst Johannes Paul II hat erst im Jahr 1996 anerkannt, dass an der Evolutionstheorie, also daran, dass im Lauf der Millionen Jahre sich die Menschen von den Affen weg entwickelten, etwas dran sein könnte. Vorher gingen Christen davon aus, dass Gott die Menschen an einem Tag schuf und sie als Herrscher über alle anderen lebenden Wesen und die Natur einsetzte. Unsere frühen Vorfahren dagegen betrachteten sich nicht als Herrscher über die Natur, sondern als ein Teil der Natur. Die Evolutionstheorie wird heute nicht mehr aktiv von der Kirche bekämpft, aber auch nicht besonders geschätzt. Vor allem halten alle monotheistischen Religionsführer über das Kleingedruckte letztlich daran fest, dass der Mann derjenige ist, der über die Frau bestimmen kann und die Frau nur in einem eingeschränkten Kreis ein eigenes Gebiet hat, das aber immer vom Mann akzeptiert werden muss, der die Gewalt über den Körper der Frau behält, was immer noch zu verschärften Abtreibungsgesetzen führen kann, wie es das Beispiel Polen neuerdings zeigt. Frauen haben in vielen Ländern immer noch keine gleichen Bürgerrechte, mal abgesehen davon, dass in Diktaturen auch Männer nicht über diese Rechte verfügen.
Diese Verfälschung der Geschichte geht auch da weiter, wo man sie gar nicht vermutet. So kann man in Fernsehbeiträgen über die Anfänge der Demokratie zwar hören, dass in griechischen Stadtstaaten für die Anfänge dieser Staatsform einige Voraussetzungen geschaffen wurden, aber verschwiegen wird von Philosophen und Historikern meist immer noch, dass diese „demokratischen“ Strukturen sich nur auf männliche reiche Bürger Athens bezogen und Frauen und Sklaven und „Barbaren“ davon ausgenommen waren. Und wenn dies ab und zu doch erwähnt wird, wird nicht auf die Folgen dieser Entscheidungen verwiesen, obwohl schon damals die Grundlagen geschaffen wurden, Frauen dumm zu halten, indem sie weitgehend von der Bildung ausgeschlossen wurden. Und dieser Ausschluss wurde die nächsten Jahrtausende durchgesetzt und ist noch heute weit verbreitet. Wo auch immer wir hinschauen: immer wieder wird der Anteil der Frauen an der Entwicklung zum intelligenten Menschen einfach vergessen. Bestsellerautoren wie Yuval Harari oder der weltberühmte Biologe E. O. Wilson lassen die Evolution sich entwickeln, ohne Frauen dabei überhaupt zu erwähnen oder sie behaupten mit leicht widerlegbaren Argumenten, dass Männer sich von Anfang an auch um die Kinder kümmerten, was schon damals nicht stimmte und heute auch noch wenig verbreitet ist. Insofern ist es kein Wunder, dass am Ende dabei herauskommt, dass die Frau nur das Gefäß für den Samen des Mannes ist, was definitiv falsch ist. Im Gegenteil: der noch bei den Griechen unbewusst vorhandene Neid auf die gebärfähige Frau veranlasste Zeus, den obersten Gott am griechischen Götterhimmel, aus seinem Kopf Athene zu gebären. Diese „fake news“ stehen auf der gleichen Stufe wie später die „Jungfrauengeburt“ Marias. Heute kommt aus akademischen Kreisen die Botschaft, dass die Biologie keine Rolle spielt, dass es keine Mütter und Väter mehr geben soll, sondern ominöse geschlechtslose Eltern mit und ohne Gebärmutter – oder ein anderes Wort ohne „Mutter“ darin. Sinn dieser verbreiteten Lügen ist es jeweils, den Anteil der Frauen an der menschlichen Entwicklung möglichst klein zu halten und am besten ganz zu leugnen. Auf die Bildung der Frauen wurde kein Wert gelegt, mit der der Männer ist es allerdings auch nicht weit her. Der heute international verbreitete Kalender beginnt mit dem Jahre Null. Wenn man nicht weiß, dass davor einige Millionen Jahre menschlicher Entwicklung liegen, dann sind diese 2000 Jahre bis heute eine lange Zeit, die auch Männer normalerweise als Bezugspunkt haben. Vor 2000 Jahren waren die Frauen in der entwickelten Welt schon in ihren Rechten beschnitten. Das wird aus heutiger Perspektive für „natürlich“ gehalten. Die langen Jahrhunderttausende, in denen es anders war, werden nicht mehr erwähnt oder es wird nichts mehr davon gewusst.
Was geschah nun wirklich in unserer Menschheitsgeschichte und warum und ab wann ging es für uns Frauen schief? Denn gemessen an der Gesamtentwicklung von mehreren Millionen Jahren sind die letzten 3.000 Jahre ja eigentlich kaum erwähnenswert, in denen sich das Dilemma entwickelte und durch die wachsende Weltbevölkerung immer neue Ungerechtigkeiten hervorbringt.
Stellen wir uns eine Zeit vor ca. 2 Millionen Jahren vor. Diese Menschen konnten aufrecht gehen, waren noch ziemlich behaart und suchten nur für sich ihre Nahrung. Sie veränderten sich zunehmend körperlich und besonders betraf diese Veränderung Frauen. Ihre Schwangerschaft dauerte nun länger als noch bei den Affen, das Kind wurde bei der Geburt immer schwerer, der Kopf größer, ebenso das Gehirn und das Kind blieb sehr viel länger unselbständig und auf die Mutter angewiesen, deren ganzer Körperbau sich veränderte, was durchaus die Schmerzen bei der Geburt vergrößerte. Außerdem verloren die Menschen, d.h. auch die Frauen ihr Fell, an dem sich nun das Kleinkind nicht mehr festhalten konnte. In den meisten Büchern zur Evolution werden die Vorteile des Fellverlusts für die Männer beschrieben: sie konnten nun schwitzen, ausdauernder rennen und dadurch etwas größere und schnellere Tiere jagen als noch mit Fell. Für Frauen hatte dieser Fellverlust nicht nur Vorteile, sondern wie geschildert, schwerwiegende Nachteile. Sie fanden eine intelligente Lösung, nämlich Tragegestelle oder Beutel aus biegsamen Pflanzenmaterialien, in denen sie das Kind transportieren und die Hände frei haben konnten. Diese Erfindung war ein sensationelles und überlebenswichtiges Ereignis und mit nichts an vorher entwickelten Werkzeugen zu vergleichen. Es zeugte von Voraussicht und Organisation. Diese Erfindung führte zu anderen, wie z.B. zur Erfindung ähnlicher Netze oder Behältnisse zum Fischen. Aber die Erfindung der Tragebehälter für Kinder war für Frauen absolut überlebenswichtig, die daraus abgeleiteten anderen Erfindungen erleichterten nur allgemein für alle das Leben.
Jede neue Fähigkeit der Menschen beruhte darauf, dass es ein Problem gab, für das eine Lösung gefunden werden musste. Die größten Probleme hatten Frauen aus den geschilderten biologischen Veränderungen. Darum mussten sie aus schierer Notwendigkeit ihre Intelligenz entwickeln. – oder aussterben. Möglicherweise kannten sie auch schon ausgeprägte Menstruationsschmerzen. Sie hatten aus begreiflichen körperlichen Gründen nicht das Bedürfnis, soviel herumzurennen wie die Männer, sondern erkundeten eher ihr Umfeld in der Nähe, was sie essbare und heilsame Pflanzen entdecken ließ und was gleichzeitig einen Fixpunkt für die Kinder und die Kommunikation unter Frauen darstellte und zur Grundform des späteren Hauses und Dorfes wurde. Nach vielen Jahrtausenden der Entwicklung kamen den sich entwickelnden Menschen die Unterschiede zwischen Frauen und Männern zum ersten Mal ins Bewusstsein und sie begannen, darüber zu staunen. Dieses Staunen wiederholen heute vor unser aller Augen Kleinkinder. Eines Tages beginnen sie sich darüber zu wundern, dass die Mutter weicher ist und Brüste hat und ein Vater normalerweise eine tiefere Stimme. Dieses Staunen über Naturvorgänge und Unterschiede ließ alle unsere Vorfahren neue Wunder der Welt entdecken. Vorher nahmen sie hin, dass es unterschiedliche Geschlechter gab, nun machten sie sich Gedanken darüber und noch später fanden sie ähnliche Prinzipien bei anderen Säugetieren und vielen Pflanzen.
Eins der größten Wunder war – nach vielen tausend Jahren der Beobachtung – herauszufinden, dass es eine Verbindung der Menstruationszyklen zu den Mondphasen gab. (In manchen Gegenden der hochgelegenen Anden sollen Frauen eines Dorfes noch im vorigen Jahrhundert gemeinsam mit den Mondphasen menstruiert haben).
Wahrscheinlich zogen sich die Frauen in dieser Zeit zurück, um ihre Ruhe zu haben. Das verband Frauen untereinander. Dadurch bemerkten sie, dass sie sich körperlich von den Männern unterschieden und die Männer staunten über die Fähigkeiten der Frauen, gebären zu können. Sie konnten bluten, ohne krank zu sein, sie hatten eine geheimnisvolle Verbindung zum Mond, die schon vor über 15.000 Jahren zu den ersten Kalendern führte und zu rhythmischem Gleichklang von Blutungen und Mondphasen.
Als sich die Verhältnisse schon zu Ungunsten der Frauen entwickelt hatten, langsam seit Beginn des Neolithikums vor ca. 10.000 Jahren - wurden die früher freiwilligen Sitten der Frauen von Männern genau gegenteilig interpretiert. Sie wurden nun für unrein erklärt und für die Zeit ihrer roten Tage ausgeschlossen.
Dabei sind viele der blutigen Riten, die Männer im Lauf der Jahrtausende entwickelten, Versuche, die Fähigkeiten der Frauen nachzuahmen. Darauf ist vermutlich zurückzuführen, dass tausende von weiblichen Statuetten gefunden wurden, die alle das Geschlechtsteil betonen und häufig auch den Geburtsvorgang zeigen.
Jede neue Erfindung gab Grund zum Nachdenken. Das eine war ohne das andere nicht denkbar.
Und so verlief das tägliche Leben:
Frauen und Männer suchten sich ihr Essen alleine, und teilten sich lange noch nichts. Bei hauptsächlich vegetarischer Nahrung, die nicht lange satthielt, blieb ihnen auch kaum etwas anderes übrig. Ständig waren sie auf Nahrungssuche.
Sie lebten in Gruppen, aus denen sie sich entfernen konnten, ohne dass jemand das verhindern konnte. In manchen Gruppen verließen eher die pubertierenden Jungen ihre angestammte Gruppe, in anderen waren es die Mädchen, die sich eine neue suchten. Bei Gefahr rotteten sie sich zusammen, flüchteten gemeinsam oder attackierten gemeinsam. Die Frage ist also, was hatten Frauen und Männer damals überhaupt miteinander zu tun?
Im Grunde war es der Sex.
Nun muss man sich den Geschlechtsverkehr bei Affen und frühen Menschen wahrscheinlich nicht besonders großartig vorstellen. Vielleicht war es eher wie bei den Bienen: Es gab einen Drang, über den niemand nachdachte, vergleichbar mit Hunger oder Durst oder dem Gefühl, sich entleeren zu müssen, was die Individuen zusammenführte und so kam es zum Geschlechtsverkehr. Bei den Bienen fallen die Männchen nach der Paarung tot zu Boden. Bei den Schimpansen zeigten die Weibchen durch die nicht beeinflussbare Schwellung ihrer Geschlechtsorgane an, dass sie zum Sex bereit waren. Ob es ihnen Spaß machte oder sie überhaupt darüber nachdachten, bleibt eine offene Frage. Das fragen wir uns normalerweise auch nicht bei männlichen und weiblichen Pflanzen, wie z.B. dem Sanddorn. Bei verschiedenen Gattungen ist es eben möglich, sich geschlechtlich zu vermehren, bei anderen nicht. Säugetiere sind zweigeschlechtlich und im Tierreich scheinen es allein die Bonobos zu sein, die ein Vergnügen aus diesen sexuellen Tätigkeiten ziehen und sie geben sich ihnen großzügig hin:
Es gibt bei ihnen praktisch keine Regeln und alle haben offenbar Spaß an möglichst häufigem und vielfältigem Sex. Frauen treiben es mit Frauen, Männer mit Männern, Junge mit Alten usw. Immer wieder kommt es auch in der Natur vor, dass sich Menschen entwickeln, die Merkmale von beiden Geschlechtern haben.
Das sind Ausnahmen, die sich auf gute und leider auch schlechte Weise für die Betroffenen auswirken können.
Soweit wir wissen, waren diese Menschen in Griechenland geschätzt. Heute in Juchatan leben die Muxes, sich als Frauen bezeichnende Männer, die sich als das dritte Geschlecht definieren und akzeptiert sind. In Indien gibt es die Hijra, Transgender oder intersexuelle Personen mit geachtetem Status.
Noch im Oktober 2021 waren auf dem Sender Phoenix Spielhandlungen zu sehen, in denen behauptet wurde, dass der stärkste Mann der frühen Menschengruppen der „Chef“ war. Bei den Schimpansen spricht man vom Alpha-Mann, der alle Frauen vögeln darf. Diese „Chefposition“ wird nun auf den heutigen Mann übertragen, weil der CHEF eine allen bekannte Größe ist. Man kann aber nicht Vorgänge bei den Schimpansen so einfach auf die werdenden Menschen übertragen. Sie könnten sich genauso gut wie die Bonobos verhalten haben, die ein relativ friedliches Leben führen und deren Gruppenmittelpunkt immer ein älteres Weibchen ist. Die Forscher lassen bei Behauptungen, die den Mann in den Mittelpunkt stellen, normalerweise aus, dass es noch heute in verschiedenen Gegenden vereinzelte kleine Gruppen gibt, bei denen die Frauen mehrere Männer haben. (Wikipedia: Polyandrische Gesellschaften kommen heute noch in Teilen Indiens, im Himalaya (Tibet, Kaschmir, Himachal Pradesh, Sikkim), in Bhutan, im Kongo, in Nord-Nigeria sowie bei den Nördlichen Paiute (Nordamerika), Marquesas und den Da-La (Indochina) vor, in der Antike auch in Sparta, wie Xenophon, Polybios, Plutarch und Nikolaos Damaskenos bezeugen). Diese Sitten bedienen aber keine bevorzugten und raffinierten sexuellen Spielarten, sondern hatten und haben immer etwas mit der Versorgungslage zu tun, was auch der Grund für die ersten Tauschgeschäfte zwischen den Geschlechtern war, wie wir noch sehen werden.
Sex war etwas, worüber sich die werdenden Menschen lange Zeit keinerlei Gedanken machten. Sex gehörte wie das Bedürfnis zu schlafen, wie Hunger und Durst oder das Gefühl, sich entleeren zu müssen, zu den Selbstverständlichkeiten des täglichen Lebens. Und niemand wusste zu diesen frühen Zeiten, dass dieser Sex zwischen Frauen und Männern zu Kindern führen konnte. Gleichzeitig war Sex mehr oder weniger die einzige Tätigkeit, bei der Frauen und Männer auch individuell zusammenkamen. Mit irgendwelchen Gefühlen oder gar Abhängigkeiten war Sex lange nicht verbunden. Das muss man sich immer vor Augen halten, weil es heute in den westlichen Gesellschaften meistens der Sex ist, der die Paare zusammenführt und nicht die Notwendigkeit gegenseitiger Versorgung. Fernsehsendungen über „den schönsten Tag des Lebens“ oder „Zwischen Tüll und Tränen“ bestärken das. Auch die aufwendigen türkischen Hochzeiten (über die es viele sehr unterschiedliche Filme gibt) lassen nicht unbedingt darauf schließen, dass es der schönste Tag im Leben der jungen Frau sein wird. Die Ehe könnte auch ein Zeichen des Gehorsams der Familie gegenüber sein und leider oft genug auch eher Zwang für Frau und Mann.
In den vielen Abhandlungen zur Urgeschichte werden aber Versorgung und Sexualität immer zusammen gedacht, was die Forschung in eine Falle führt.
Was viel wichtiger war und sich in den frühen Gesellschaften langsam entwickelte, Nachdenken voraussetzte und ein auf Bewusstsein gegründetes Verhältnis zum anderen Geschlecht, war der Beginn der gegenseitigen Versorgung. Ehe bedeutete die gegenseitige Verpflichtung, sich mit Nahrung zu versorgen und hatte rein gar nichts mit Sex zu tun.
Das wurde zu einem Zeitpunkt möglich, als die Geschlechter schon anfingen, sich auf unterschiedliche Nahrungsmittel zu spezialisieren.
Mit dieser Erfindung des Tauschs verließen wir endgültig das Tierreich und wurden zu Menschen. Es war DER Wendepunkt der Geschichte, ein Höhepunkt des Fortschritts und auf lange Sicht der Beginn allen Unheils.
Dieser Vorgang „Beginn des Tauschs“ wird von den meisten Archäologen und Historikern nicht ins Visier genommen, weil sie dann zugeben müssten, dass sie über die Frauen nicht wirklich nachgedacht haben. Darum wird auf unterschiedliche Weise auch heute noch in vielen unklaren Variationen behauptet, dass die gegenseitige Versorgung sich irgendwie natürlich eingestellt hat, eigentlich schon von Anfang an bestand und außerdem noch die Voraussetzung zur Entstehung der Kleinfamilie war, die immer auch beinhaltet, dass dort für Frauen der Sex stattzufinden hatte.
Auf die Sensation, dass zwei autonom handelnde und sich individuell selbst versorgende Geschlechter anfingen, eine Handelsbeziehung zu beginnen und dies das Ergebnis von Überlegung war, wird nicht eingegangen und nicht begriffen. Den Tausch zu etablieren war revolutionärer als die schnelle Verbreitung des Computers in unseren Tagen. Wie schon gesagt, die werdenden Menschen suchten nur für sich selbst die Nahrung, so wie es auch im Tierreich üblich ist. Dort kennen wir auch keine netten Löwen, Hyänen, Tiger usw., die ihren Verwandten das Fressen hinschieben. Die oft in er Forschung weitergegebenen Behauptungen, dass beide Eltern für die Kindererziehung und Ernährung aufkamen, wird nie überzeugend belegt. Es wäre auch verwunderlich, weil das Wissen um die Vaterschaft eher zu den jüngeren Erkenntnissen gehört.
Zudem wäre damals niemand auf den Gedanken gekommen, von Frauen zu verlangen, Jungfrau zu bleiben und auf einen einzigen Mann zu warten und dem auch noch zu gehorchen. Schon die Idee wäre absurd und konnte nicht einmal gedacht werden.
Erst Jahrtausende später wurde Sex in die sozialen Regeln einbezogen und das hat mit vielen Umwälzungen in der Art des Produzierens zu tun, was es auch allmählich möglich machte, sowohl individuelle sexuelle Vorlieben und neue Gefühle zu entwickeln, aber auch vorher unbekannte Herrschaftsformen hervorbrachte.
Von einer Individualisierung dieser sexuellen Tätigkeiten kann man erst sprechen, als die Bevölkerung wuchs, Viehwirtschaft und Landwirtschaft an Boden gewannen und das anfing, was wir mit Arbeit bezeichnen. Die wachsende Intelligenz der Menschen führte zu Fortschritt und der Fortschritt führte auf jeder Stufe zu vielen Erleichterungen, aber auch zu nachteiligen Veränderungen, die allerdings meist lange nicht erkannt wurden. Was oft nicht bedacht wird ist, dass jede Erfindung Erleichterung bringt, aber auch ein wenig von der vorherigen Autonomie wegnimmt. Zunächst wird das kaum bemerkt und es braucht oft lange Zeit, bevor die Nachteile ins Bewusstsein dringen, dann aber auch kaum mehr verändert werden können. So ist es bis heute geblieben.
Nehmen wir das moderne Beispiel der Lieferketten: Man kann sich online fast alle Produkte des täglichen Lebens bestellen und muss dafür nicht mehr aus dem Haus. Je mehr Leute davon Gebrauch machen, desto mehr verändern sich die Städte: Kleine Läden überleben nicht, die Straßen veröden, der Verpackungsmüll wächst ins Ungeheure und was die Attraktivität der Städte ausmachte, verschwindet. Ein anderes Beispiel:
Früher konnten Kinder auf den Bürgersteigen spielen, Erwachsene trafen sich dort, blieben stehen, unterhielten sich, hatten keine Angst, dass ihnen plötzlich jemand in den Rücken fährt. Die Fahrrad-und E-Rollerfahrer, die aus Angst vor Autos zunehmend auf die Bürgersteige ausweichen, machen nun diesen Ort zur Fortsetzung der Straße und entwickeln sich nebenbei zu den größten Verkehrsrüpeln überhaupt. Sie machen praktisch was sie wollen, weil sie nicht kontrolliert werden und sie verändern den Sinn von Bürgersteigen grundsätzlich und machen sie zu einer Verlängerung der Straße. Fußgänger tun gut daran, wie ein Auto darauf hinzuweisen, wenn sie auch nur 5 cm nach links oder rechts gehen wollen, weil die Radler praktisch ohne Vorwarnung und viel zu schnell, zu dicht, einzeln oder in Gruppen und in jeder Richtung an den Fußgängern vorbeizischen. Oder nehmen wir die weltweite Verbreitung der Autos. Alle waren froh über die immensen Vorteile dieser Fortbewegung.
Dass wir dadurch das Klima gefährden, kam lange niemanden in den Sinn. Usw.
Zurück zur Versorgung:
Vor ca. 3000 Jahren – also vor sehr kurzer Zeit in der Menschheitsgeschichte – begann sich sehr allmählich im Nahen Osten die Situation für die Frauen zu verschlechtern. Die Sexualität wurde in die sozialen Ordnungen einbezogen, zumindest für die Frauen. Es gab Arbeit und Arbeitsteilung, Viehhaltung und Landwirtschaft, Soldaten, Sklaven, männliche Herrscher und ein paar männliche Götter.
Heute wird in Deutschland fast an jedem 2. Tag eine Frau ermordet. Das steht aber nicht an gleich prominenter Stelle in den Zeitungen wie verbale Beleidigungen gegen – meist – männlichen Migranten oder Juden. Normalerweise kann man über Frauenmorde höchstens in Lokalzeitungen lesen. Wir müssen dankbar sein, auf die Internetseite von Kristina Wolff zu treffen, die die Fälle sammelt und dokumentiert und sich gegen die Bezeichnung „Opfer häuslicher Gewalt“ wendet, als sei dies etwas Unabänderliches, immer Dagewesenes und Natürliches. Diese Morde werden nun Femizide genannt. Frauen werden ermordet, weil sie Frauen sind.
Im größten Teil der Menschheitsgeschichte gab es keine Gewalt an Frauen. Sie wurden im Gegenteil verehrt.
In allen neuen patriarchalen Religionen wird in unterschiedlich brutaler Weise behauptet, Frauen seien unrein, dumm, schwach und deswegen werden ihnen heute noch in vielen Ländern gleiche Bürgerrechte verweigert.
Es gab z.B. in der Bundesrepublik in den sechziger und siebziger Jahren eine ganze Reihe türkischer Gastarbeiterinnen, die allein nach Westdeutschland gekommen waren, ziemlich schnell Deutsch lernten und sich vielfach feministischen Frauengruppen anschlossen. Heute ist davon nichts mehr zu finden und die Wenigen, die auf ihrer Selbstständigkeit bestehen, werden oft massiv bedroht. Stattdessen berichten Frauenärztinnen, dass oft weinende, kurz zuvor verheiratete 17-18jährige Frauen zu ihnen kommen, die 3 Monate nach der Hochzeit noch immer nicht schwanger sind und dafür von der Familie diskriminiert und als untauglich behandelt werden. Ebenso tragen nicht alle junge Mädchen freiwillig das Kopftuch oder werden freiwillig mit ihrem Cousin verheiratet. Die äußern sich aber nicht im Fernsehen. Dieses Problem ist bei den meisten Parteien nicht angekommen oder wird ignoriert. Wir haben zwar das Grundgesetz, aber es wird nicht auf alle angewendet.
Ich habe beschrieben, dass es während der Menschwerdung keine Frauenunterdrückung gab und dass die Anfänge dieses Elends, gemessen an der Zeit, die wir schon als Menschen leben, noch nicht lange her sind.
Frauen haben den größten Teil ihrer Entwicklung sich und ihre kleinen Kinder selbst versorgt.
Als sich die Tätigkeiten von Männern und Frauen hier und da änderten und beide anfingen, auch unterschiedliche Produkte zu sammeln und zu jagen, führte das zu gegenseitigen Begehrlichkeiten. Frauen hätten gerne etwas von den Lebensmitteln bekommen, die Männer erbeuteten und umgekehrt. Es muss einzelnen in den Kopf geschossen sein, dass es schön wäre, von einem eventuellen Überschuss einer anderen Person etwas zu bekommen. Das war ein absolut neuer und im Tierreich vollkommen unbekannter Gedanke. Diese bahnbrechende Erfindung, die uns endgültig von Tierreich trennten, ging vermutlich aus praktischen Gründen hauptsächlich von Frauen aus und betraf vermutlich auch zunächst Frauen.
Warum?
Frauen hatten untereinander viel Kontakt, ähnliche Erfahrungen (Menstruation, Schwangerschaft mit Begleiterscheinungen), sie halfen sich wie schon die Affenmütter mit den Kindern, sie hockten mehr als Männer an einem Ort zusammen, wenn die Umstände das erlaubten. Männer sammelten auch, aber mit verbesserten und spezialisierten Werkzeugen konnten sie mit Glück und durchaus nicht täglich auch größere Tiere erlegen und auf diese Weise nahm der gegenseitige Tausch zwischen autonomen Personen seinen Anfang. Viel Misstrauen musste überwunden werden, sicher wurde zunächst geklaut und betrogen und es gab Streit. Aber im Verlauf vieler Jahre - oder Jahrhunderte - begriffen alle, dass der Tausch viele Vorteile bot und sogar das Überleben sichern konnte. Voraussetzung waren Gruppen, in denen Männer und Frauen möglichst verschiedenartige Nahrung fanden und sich aushelfen konnten. Wenn z.B. heute die Männer nichts an Nahrung fanden, so konnten sie von den Frauen etwas bekommen und umgekehrt. Wie das jeweils funktionierte, wurde in strengen Ritualen und langen Entwicklungen zwischen den Geschlechtern festgelegt und in der Rückschau von den Forschern als Ehe definiert. Diese neuen Arrangements sollten die gegenseitige Versorgung sicherstellen.
Sex hatte damit nichts zu tun. Er konnte stattfinden, aber wie vorher auch, ohne in die neue Ordnung einbezogen zu sein. Allerdings ist vorstellbar, dass die gegenseitigen Versorgungsverpflichtungen auch gewisse Gefühlsbindungen zum Tauschpartner schufen und sich sexuelle Vorlieben zu entwickeln begannen. Dies alles spielte sich zwischen autonomen Personen ab, was nicht oft genug wiederholt werden kann. Vermutlich setzten sich neuen Verhaltensweisen fest, als auch das natürlich entstandene Feuer beherrschbar wurde, was sich über einige hunderttausende Jahre hinzog.
Wie schon geschildert, ließ die zunehmende Entwicklung dann vor ca. 10.000 Jahren auch die Vieh-und Landwirtschaft entstehen und damit zum ersten Mal auch richtige Arbeit und Arbeitsteilung. Je größer die zusammenlebenden Gruppen werden konnten, desto mehr differenzierten sich die Fähigkeiten und die Tätigkeiten und damit die Hierarchien. So zogen nun die am weitesten entwickelten Menschen hauptsächlich in Kleinasien den Tieren hinterher auf neue Weideplätze. Im Lauf der Zeit hatte sich ergeben, dass Männer mehr als in früheren Zeiten mit der Jagd befasst waren und später auch mit der Viehhaltung. Das stellte auf neue Weise die Ernährung sicher – jedenfalls solange es genügend Weideplätze gab und keine Krankheiten. Diese neuen Produktionsweisen überzeugten auch die Frauen. Das aber hieß, dass sie auch Teil der sich neu bildenden Hierarchien wurden und allmählich ihre frühere Autonomie verloren.
Die Kehrseite des Fortschritts zeigte sich auch hier wieder schleichend. Dazu kam, dass allmählich auch der Anteil der Männer an der Kinderproduktion bekannt wurde und sich neue Strukturen bildeten, die von den neuen Produktionsmöglichkeiten, die in Männerhand lagen, bestimmt wurden.
Letztlich läuft es daraus hinaus, dass die Intelligenz der Frauen, ihre Fähigkeit, Probleme zu lösen, einen großen Anteil an ihrem späteren Unheil und ihrer zunehmenden Rechtlosigkeit hatte. In einigen kurzen Jahrtausenden wurden Frauen weltweit in Abhängigkeit gebracht von den nun von Männern beherrschten Strukturen. Daran haben wir uns alle mehr oder weniger gewöhnt, weil die Erkenntnisse über die Geschichte sich normalerweise nur auf einige hundert Jahre beziehen und in Ausnahmen auf 2-3 Jahrtausende, in denen dieser erste Gau schon stattgefunden hatte. Er erscheint heute als natürlich, weil auch die patriarchalen Religionen schon auf der Zweitklassigkeit der Frauen beruhen. Was ist also heute politisch zu tun, um in einer Erde, die knapp vor dem Kollaps steht, noch etwas auszurichten? Die Entwicklung der Menschheit ist bestimmt durch die Zusammenarbeit der Geschlechter, durch die die Strukturen der sozialen Ordnung festgelegt wurden und nicht einfach rückgängig gemacht werden können.
Was aber als falsch bewiesen werden kann, ist der heute noch weit verbreitet Glaube, dass Frauen von Natur aus inferior sind, was dazu geführt hat, dass sie sich selber oft als zweitrangig erleben.
Was darum politisch unterstützt werden muss, ist alles, was das Nachdenken erleichtert und fördert. Dazu gehört: die Grundsicherung für Kinder, keine Aufhebung des Neutralitätsgebots (in Berlin fordern ausgerechnet die Grünen die Abschaffung des Gesetzes), kein Kopftuchzwang, keine Zwangsehen.
Damit muss Schluss sein. Und Femizide müssen in allen Ländern verfolgt und bestraft werden.
© Helke Sander, Januar 2022
Eine ausführliche Bibliographie zum Thema ist Bestandteil meines Buches:
„Die Entstehung der Geschlechterhierarchie“; Verlag Z&G 2017
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