Sexueller Missbrauch und das Übergehen der Fachstellen
Offener Brief des Frauennotrufs Mainz Ein «Bild der Zerrissenheit» kritisierte FDP-Fraktionschefin Birgit Homburger vergangenes Wochenende im März, sei bei der Aufklärung der Missbrauchsfälle in Internaten vor allem der katholischen Kirche entstanden. Dieses „Bild der Zerrissenheit“ gibt letztlich auch die Berichterstattung zu dem Thema wieder, genauso wie die Herangehensweise an das Thema sexuelle Gewalt auf allen gesellschaftlichen und politischen Ebenen – gleichgültig, ob sich die Übergriffe in Kirchen, Sportvereinen, sonstigen Institutionen oder (wie meist) innerhalb der Familie ereignet haben.
Hektisch werden Sonderbeauftragte eingesetzt, Runde Tische gegründet, die Veränderungen von Gesetzen geplant. Selten wird nach Ursachen geforscht bzw. werden Ursachen benannt – es sei denn sie liegen entfernter und berühren nicht unsere eigenen Grenzen. Eine Weile erschien das Zölibat als die Ursache für sexuelle Gewalt bestens geeignet. Es entspricht ganz dem Mythos, an dem seit jeher festgehalten wird: einer Art Triebstau, der sich entladen muss. Eine Diskussion um das Zölibat ist richtig, aber nicht im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch.
Da es sich zudem in der aktuellen Berichterstattung um Jungen handelt, die betroffen sind, schlägt der aktuelle Diskurs mehrere Fliegen mit einer großen dumpfen Klappe: zum einen die Homophobie, die angesichts des Selbstbewusstseins von sich verpartnerschaftlichenden homosexuellen Paaren erstarkt. Zum anderen das „gebeutelte männliche Geschlecht“, das in den letzten Jahren mehr und mehr zum eigentlich schwachen ernannt wurde, weil ja die gesamte Kinder- und Jugendförderung dem weiblichen zugestanden wurde. Fast ausschließlich männliche Opfer tauchen in den Presseberichten auf. Was ihnen gemeinsam ist: sie waren Kinder, als der sexuelle Missbrauch geschah, und es ist lange her. So lange, dass die Verjährungsfrist vorbei ist und es keinen Ermittlungsauftrag mehr gibt. Es stellt sich die Frage, wie der öffentliche Umgang mit dem Thema wäre, wenn es sich um Mädchen oder gar Frauen als Betroffene gehandelt hätte? Und weiter: Wie wäre es, wenn es sich um nicht verjährte Fälle handeln würde, in denen eine Ermittlung stattfinden könnte?
Diese Fragen könnte man den Fachfrauen und –männern stellen, die seit Jahrzehnten in diesem Bereich arbeiten und nicht nur mit Betroffenen sprechen, sondern auch die Berichterstattung dazu beobachten. Seit mehr als dreißig Jahren arbeiten Frauennotrufe und –beratungsstellen zu den Themen Vergewaltigung, sexueller Missbraucht, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz etc. Jahr für Jahr stellen sie ihre Opferzahlen vor – solche die selten im Hellfeld der polizeilichen Ermittlung auftauchen. Es sind in der Regel Mädchen und Frauen, die vor ihrem 1. und bis zum 80. Lebensjahr sexuelle Gewalt erlebten, durch Väter und Mütter, Familienmitglieder, MitschülerInnen, Lehrkräfte, SporttrainerInnen, Geistliche. Die Täter sind zum Großteil männlich. In den letzten Jahren wird mehr und mehr deutlich, dass auch viele Jungen und Männer betroffen sind.
Die Opfer schweigen lange aus Scham und weil sie sich mitschuldig fühlen. Mitschuldig, weil der Missbraucher in der Regel kein Fremder, sondern eine vertraute Person ist, die das bestehende Machtverhältnis missbraucht und dem Opfer eine Mit-Verantwortung einredet oder auflastet. Unterschiedliche Machtverhältnisse herrschen zwischen Erwachsenen und Kindern, also z.B. Lehrkräften und Schülerschaft, zwischen älteren und jüngeren Geschwistern, bei Vorgesetzten und Lehrlingen, Pfarrer und MessdienerInnen und - hier gehen die Meinungen weit auseinander - zwischen Männern und Frauen, Jungen und Mädchen in unserer Gesellschaft. Dieses Machtverhältnis – das sexuelle Gewalt innerhalb der Geschlechter negiert, bagatellisiert und tabuisiert – wirkt am subtilsten und ist am schwersten anzuerkennen. Weil es uns alle betrifft und alle unsere Lebensbereiche – von der Sprache, die über Gewalt und Ungleichheit berichtet, über die Abhängigkeiten durch unterschiedliche Berufschancen, bis hin zu Wertigkeiten und Rollenzuweisungen.
Auch dazu könnten die Fachfrauen gefragt werden – es scheint aber in den Momenten der an Hysterie grenzenden Aufregung nicht gewollt. Bei sexueller Gewalt geht es in den allermeisten Fällen nicht um eine sexuelle Triebrichtung, es geht um Dominanz, Macht und Unterdrückung. Darum findet sie sich oft in Institutionen und Einrichtungen (auch in solchen Familien), in denen starre hierarchische Strukturen herrschen und gleichzeitig grenzachtende Regeln fehlen, die den respektvollen Umgang händeln.
Sexualität wird benutzt – als Mittel zum Zweck, als perfide schambesetzte Waffe und als Möglichkeit, angeblich verschwommene Grenzübergänge zu schaffen. Aus diesem Grund – um die Gewalt besser von der Sexualität abzugrenzen – sprechen viele Fachstellen heutzutage von „sexualisierter“ Gewalt.
Zurück zu den Fachstellen, zum Thema Sexualisierte Gewalt: Kaum ein Frauennotruf, eine Wildwasser-Einrichtung, eine Frauenberatungsstelle wurden in den letzten Wochen angefragt. Kirchenmänner werden als Experten eingesetzt, Kriminologen zu Hintergründen interviewt. Kaum jemand sucht nach Klärung bei denen, die seit Jahrzehnten Kontakt zu den Opfern haben, Fortbildungen zum Thema anbieten, die Ermittlungen begleiten - also genau die, die all die Jahre das Thema benannt, enttabuisiert haben. Vielmehr waren diese nicht selten Beschimpfungen ausgesetzt, weil sie angeblich, um ihre eigenen Pfründe zu sichern, mit Übertreibungen und hohen Fallzahlen wuchern würden.
So fehlen Vertreterinnen der Fachstellen sowohl an den aktuellen Runden Tischen zum Thema und oft in der Berichterstattung. Weder ihre Erfahrungen aus der Vergangenheit noch aus der gegenwärtigen Arbeit mit Betroffenen scheinen interessant. Aber wenn weder die gesellschaftlichen Ursachen, noch die Geschichte zum komplexen Thema Sexualisierte Gewalt innerhalb unseres Zusammenlebens und die heutige aktuelle Situation ausreichend dazu beleuchtet werden, dann wird es ein kurzes Aufflackern der Empörung und des Abscheus bleiben, ähnlich wie bei den zurückliegenden pressewirksamen Einzelfällen mit Tätern wie Josef Fritzl in Österreich. Danach ist wieder Schweigen. Ändern wird sich nichts, weder für Opfer noch für Täter – zum Schaden für alle.
(verantwortlich: Anette Diehl)
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