Sabine Haupt: Lichtschaden. Zement. Roman. 2021. Rezension von Rolf Löchel
Sabine Haupt: Lichtschaden. Zement. Roman. 2021.
verlag die brotsuppe, Biel/Bienne 2021. 320 Seiten, 33,00 €. ISBN 978-3-03867-036-0.
Rezension von Rolf Löchel
Für Erzählungen und kunstfertig komponierte Romane voller tiefgründiger und überraschender Reflexionen, Ideen und Überlegungen ist die an der Universität Fribourg lehrende und forschende Literaturwissenschaftlerin Sabine Haupt spätestens seit ihrem Erzählband Blaue Stunden und dem drei Jahre darauf folgenden Roman Der blaue Faden bekannt. Unternahm sie in ihren Erzählungen eine „kleine Quadratur der Liebe“, so gesellte sie Franz Kafkas „Mann vom Lande“ und Becketts Duo Estragon und Wladimir eine nachgeborene Schwester im wartenden Geiste zu.
Nun hat Haupt mit Lichtschaden. Zement ein weiteres Mal unter Beweis gestellt, mit wie viel Finesse sie ihre literarischen Werke komponiert und dabei stilistische Formen, Themen und Motive auf vielfache Weise kunstvoll miteinander verschlingt und zugleich ein erzählerisches Talent von seltenem Format entfaltet, das öfter einmal ganz wunderbare Metaphern einfließen lässt wie etwa die vom „Mückentanz der Gedanken“ (49).
Der Roman beginnt mit den Reflexionen des assoziativen inneren Monologs einer sterbenden Frau, die sofort Neugier und Interesse der Lesenden wecken. Wie ist sie in die fatale Situation geraten? Welches Genre erwartet die Lesenden? Ein Thriller gar? Zugleich evoziert schon der erste Satz „Der Lebenswille hat etwas Obszönes.“ (7) Assoziationen an briefliche Mitteilungen eines der klassischen Hochliteratur zugerechneten Autors, der die Ansicht vertrat, „[b]ei richtigem Aufbau“ eines Romans müsse bereits „in der ersten Seite der Keim des Ganzen stecken“. Steckt er hier vielleicht sogar bereits im ersten Satz? Nein, ganz sicher nicht. Der Generalbass klingt in ihm zwar schon an, doch ist ‚das Ganze’ des Romans um einiges zu komplex, um seinen Keim in nur einen Satz zu packen – zudem entsprießt er sogar mehreren ‚Keimen’. So lässt er ebenfalls schon auf ersten Seite nicht nur an eine der Größen des deutschen Literaturkanons denken, sondern auch an ein Werk eines als Unterhaltungs- ja Trivial- und Schundliteratur geschmähten Genres. Denn die sterbende Petra Hella Mandler hat zwar ein Rätsel gelöst, doch ebenso wie die Aliens einer kultigen SF-Erfolgsparodie leider „vergessen, wie die Frage lautete“ (ebd.).
Der gut 50-jährige Lebensweg, der Hella, wie sie in dem Roman zumeist genannt wird, in ihre missliche Lage führte, lässt sich nicht eben als gradlinig charakterisieren. Denn sie kann sich zwar eines „Hang[s]“, „alles hemmungslos zu Ende zu denken“ (150), rühmen, nicht aber, alles zu Ende zu führen. So beinhaltet ihre Vita ein abgebrochenes Physikstudium, eine frühe Mutterschaft, eine Weltreise, Studien der Volks- und Betriebswirtschaft sowie eine Ausbildung zur Physiotherapeutin. Außerdem ist sie vielseitig gebildet und könnte mit Kenntnissen von der Archäologie über Mythologie und Genealogie bis hin zur Botanik brillieren.
Die Lesenden haben es also mit einer gestandenen Intellektuellen zu tun. Allerdings ist sie nicht, wie leicht zu vermuten wäre, mit Forschung und Lehre an irgendeiner universitären Einrichtung beschäftigt, sondern ihres Zeichens Hotelmanagerin, die ganz ernsthaft „behauptet, Zement sei besser als Sex“ (163). Natürlich nicht schlechthin, aber doch gegen die Leiden, die ein sakralisierter Lendenwirbel bereitet.
Nun besteht der Roman im Weiteren zwar – zumindest weitgehend – aus Rückblenden, doch nur über die wenigsten der genannten Lebensstationen wird Näheres berichtet. Dafür tauchen Kindheitserinnerungen etwa an die „brüchigen Stimmen alter Frauen“ (170) in der Stube des „finsteren, engen“ (172) Bauernhauses ihrer Urgroßmutter auf, die durch eine unerquickliche Reise zu ihren missliebigen Verwandten in Heuchelheim evoziert werden. Denn Hella lebt zwar im Schweizerischen Oberwallis, stammt aber aus Mittelhessen.
An besagtem sakralisierten Lendenwirbel leidet Hellas wesentlich jüngerer Liebhaber Raffaele, ein ehemaliger katholischer Priester, der nach einer Panikattacke auf der Kanzel sein Würdenamt verlor und nun als Logistiker in einem weltumspannenden Baukonzern tätig ist. In seinem sakrischen Leiden manifestiert sich sein ungebrochener Gottesglaube als Pathologie, die ihn zwar nicht starr und steif, den Geistlichen aber geistig doch zu einer gewissen Unbeweglichkeit verdammt. Statt zur Linderung der Beschwerden wie üblich heiße Fangopackungen oder erwärmte Sand- und Moorbäder einzusetzen, sondern ausgerechnet Zement als Heilmittel zu erproben, ist eine der extravaganten Ideen Hellas. Natürlich soll der Baustoff nicht in seiner steinharten Form eingesetzt werden, sondern als – wie Hella sagen würde – harzige Konsistenz, die sich dem Körper anschmiegt und ihn zugleich festigt und hält. Hat sich Hella in ihrem langjährigen Schweizer Exil einige Ausdrücke des landesüblichen Idioms angewöhnt, welche die Assimilation der Deutschen signalisieren, und „harzig“ (20) statt zäh oder „tönt“ (280) statt klingt sagen lässt, so gehört es zu den sprachlichen Angewohnheiten Raffaeles, ein pastorales „gewiss“ in seine Reflexionen oder Rechtfertigungen einzuflechten. Doch auch Hella entfährt der zugleich bekräftigende, Unsicherheit kaschierende und der Selbstvergewisserung dienende Ausdruck gelegentlich. Sie hat sich also nicht nur ihrer Schweizerischen Umgebung, sondern auch – ein wenig zumindest – ihm angepasst. Nur in ihrer Art allerdings, nicht aber in ihrem Wesen.
In Hella und Raffaele, den beiden ProtagonistInnen des Romans, konterkariert dieser wie nebenbei Geschlechterklischees und -zuschreibungen. So ist es etwa Hella, die die Liebesbeziehung der beiden ausgesprochen proaktiv anbahnt. Allerdings kehrt Haupt die gängigen Vorstellungen über Männer und Frauen keineswegs einfach um.
Zwar haben die Liebenden die eine oder andere Gemeinsamkeit, so sind sie etwa beide Intellektuelle und erinnern sich im Laufe des Geschehens an prägende Kindheitserlebnisse, doch erweisen sie sich in wesentlichen Fragen schnell als AntipodInnen. So zeiht der gläubige Katholik Hella in einem ihrer zahlreichen theologisch-philosophischen Streitgespräche, die sie etwa über Religion im Allgemeinen und die Seele im besonderen oder über Esoterik und Spiritismus bis hin zum Solipsismus führen, zwar der „protestantische[n] Ahnungslosigkeit“ (96), tatsächlich aber ist sie eine beinharte Atheistin, die seine Ausführungen über die „Auferstehung des Fleisches“ (91), ebenso „laut zu lachen“ (ebd.) reizt wie die Lesenden. Das liegt nicht nur an humoristischen Wortspielen, bei denen Raffaele Hellas „Seele“ schon einmal ganz „schön auf den Geist [geht]“ (96), obgleich er bekennen muss, dass ihm „verschlossen“ bleibt, „was wirklich in ihr vorg[eht]“ (105).
Zu den theologisch-philosophischen Reflexionen beider gesellen sich erkenntnistheoretische über die „Grenzen des Verstandes“, die „nicht die Grenzen der Welt“ (167) sind, oder sprachlich-philosophische etwa darüber, dass es „schon komisch“ sei, „was die Wörter mit den Dingen machen“ (65).
Das Wort „Geschlechtsverkehr“, wiederum verwendet Raffael gern, „weil es erotische Gefühle mit Moral und Technik verknüpfte“ (11). Dabei unterschied sich beider Erfahrungsreichtum in Sachen Sexualität über lange Jahre hinweg grundsätzlich. Während Raffaele als Priester zölibatär lebte, hat Hella ein ausgesprochen lebhaftes Sexualleben mit zahlreichen Partnern vorzuweisen. Während eines Liebesaktes auf einem Stapel Hellas Verflossener geltenden Liebesbekundungen, führt das Raffaele zu der Frage „Wie oft […] man sein Herz verschenken [kann], ohne die Seele zu verlieren?“ (238). In ihm wiederum hat seine langjährige sexuelle Abstinenz eine „sexuelle Gier“ geweckt, die er Hella gegenüber „mit theologischen Grundsätzen [begründet]“ (15). Denn „beim Sex werde das Fleisch zu Geist, wie beim Abendmahl das Brot zum spirituellen Leib Christi“ (ebd.). Merkwürdig, dass sie da nicht ebenfalls in lautes Lachen ausbrach. Eine Begründung jedenfalls, die doch eher nach einer Rechtfertigung vor sich selbst klingt.
Nicht nur die ProtagonistInnen auch beider Familiengeschichten könnten unterschiedlicher nicht sein. Wurden Raffaeles italienische Vorfahren als Widerständler Opfer des nationalsozialistischen Terrors, so wurde er von Hellas deutschen Verwandten ausgeübt.
Verknüpft sind Reflexionen und (Liebes-)leben der beiden ProtagonistInnen mit handfesten Problemen der realen Welt des skrupellosen Kapitalismus, die sich hier in den mafiosen Umtrieben der Baufirma Hell-Zem & Lowforge manifestieren, in der Raffaele durch Vermittlung seines Vaters als Magazinverwalter untergekommen ist. Hintergrund der kriminellen Machenschaften ist, dass die Baubranche weltweit unter einer zunehmenden Sand-Knappheit leidet. Das klingt zwar abwegig, ist aber nicht nur im Roman, sondern auch in der realen Welt tatsächlich der Fall. Denn an den Ufern der Inseln und Kontinente des blauen Planeten gibt es Sand aufgrund des Jahrzehnte langen Raubbaus schon lange nicht mehr wie den sprichwörtlichen Sand am Meer. Und Wüstensand eignet sich wegen seiner andersartigen Beschaffenheit nicht zur Verarbeitung im Baugewerbe. So müssen etwa die an den Küsten lebenden Menschen auf der Kapverdischen Inselgruppe unter Lebensgefahr mit Schaufeln oder gar den bloßen Händen illegal Sand vom ufernahen Meeresboden schürfen, um überleben zu können, und zerstören damit zugleich mehr und mehr den Lebensraum der Fischen und damit ihre bisherigen Lebensgrundlage, die Fischerei.
Holdenegger, ein skrupelloser Kapitalist, erklärt zwar „Gefühlsduseleien“ und „Gutmenschentum sei[en] im Baugewerbe völlig fehl am Platz“ (140). Und überhaupt hätten die Menschen in anderen Ländern eine der europäischen überlegene „Mentalität“, der in ihrer „Weisheit“ das „Einzelschicksal“ (141) nicht viel gelte. Sich etwa über den Tod tausender Arbeiter auf WM-Baustellen in Katar zu erregen, sei daher „reinster Eurozentrismus“ (140). In solchen Passagen tritt besonders deutlich hervor, dass Haupts Roman auch hochpolitisch ist, zeigen sie doch, wie sich mithilfe des Kulturrelativismus Unterdrückung bis hin zum Mord rechtfertigen lässt. Für Raffaele und namentlich für Hella sind die Machenschaften von Hell-Zem & Lowforge hingegen Grund genug „Sabotagepläne“ (16) zu hegen.
Wird das Geschehen zunächst lange Zeit abwechselnd aus der Sicht der beiden ProtagonistInnen erzählt, so gesellt sich ihnen überraschend Raffaeles acht Jahre älterer Bruder Angelo als Erzählstimme hinzu. Mehr noch, anders als Raffaele und Hella tritt er als Ich-Erzähler auf. Da sind die Lesenden allerdings schon längst bestens über ihn und die nicht seltenen Untaten seiner jungen Jahre informiert und wissen etwa, dass Raffaele dem Älteren in beider Kindheit und Jugend nicht nur das Taschengeld abtreten musste, sondern auch von dessen dämonischen Phantastereien tyrannisiert und schließlich sogar von ihm vergiftet wurde.
Angelo, der in jungen Jahren nach lebensbedrohlichen Drogenexperimenten mit sich und seinem noch kindlichen Bruder in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wurde, ist überzeugt, dort einen „Lichtschaden zugefügt“ (203) bekommen zu haben, und phantasiert davon, als Dämon in einer „Stadt im Schoß der Erde“ gemeinsam mit seinen Ahnen, den „Troglodyten“ (208) und „präadamitischen Göttern“ (207), zu hausen.
Tatsächlich gelangt er später als nun wohl schon Mittfünfziger gemeinsam mit seinem Bruder ins Innere der Erde, in geheime Stollen und schließlich in Höhlen, die nie zuvor ein Mensch betreten hat, in denen aber ein merkwürdiges Wesen zu beheimatet scheint und jedenfalls tödliche Gefahren lauern.
Wie Haupt sich in das Innenleben und die Lebenswelt eines schizophrenen Menschen hineinzuversetzen und dies literarisch in die Rollenprosa der Figur umzusetzen versteht, lässt sich nur als virtuos bezeichnen. Und dies keineswegs nur, weil die Worte in seiner während eines psychotischen Schubs zerfallenden Sprache zu einer tieferen Bedeutung hin verschoben und Verlautbarungen zu „Verlautbohrungen“ oder Seelsorger zu „Seelsauger“ (267) werden. Überhaupt bedient sich die Autorin verschiedener narratorischer Formen und Textsorten vom inneren Monolog (nicht zuletzt eines Wahnsinnigen), einer cineastischen Erzählweise, die sich fast wie eine Regieanweisung ausnimmt, bis hin zu Einträgen in einem Notizheft und einem Manifest sowie ungelenker Liebesprosa in Briefen und e-Mails.
Auch in der Namensgebung ihrer Figuren lugt gelegentlich die Literaturwissenschaftlerin hervor. So verleiht sie etwa dem Marketingleiter eines Hotels einen Namen, der allen Studierenden der Germanistik schon in den ersten Semestern geläufig werden dürfte. Zumindest war das bis vor nicht allzu langer Zeit so. Nun, im Zeitalter der Digitalisierung wissen Studierende wohl eher, was es mit der Abkürzung BDSL auf sich hat. Dass der Vater der Protagonistin schon in den 1960er oder 70er Jahren ständig die Redewendung „Blut mag dicker als Wasser sein, in manchen Fällen aber ist es toxisch“ (179) im Munde geführt haben soll, ist hingegen eher unwahrscheinlich, wurde der eigentlich die Eigenschaft biologischer Gifte bezeichnende Begriff toxisch doch erst einige Jahrzehnte später zur wenig aussagekräftigen aber allgegenwärtigen Modemetapher.
Unüberbietbar ist hingegen Haupts humoristisches Talent, das von kaum merklichen Ironisierungen, über treffende Wortspiele bis hin zu einem pechrabenschwarzen Humor reicht, bei dem das Lachen im Halse gefriert. So etwa, wenn ein ehemaliges Foltergefängnis in ein Luxushotel umgebaut wird und sich das Hotelmanagement überlegt, „Yoga-Meditationen und ayurvedische Massagen“ (74) in das Wellnessprogram aufzunehmen, damit sich die künftigen Gäste nicht an der Vergangenheit des Gebäudes stören, weil die therapeutischen Anwendungen als „für den Ort ja wohl […] segensreiche Reinigung“ (ebd.) verkauft werden können.
Haupt mutet ihren Lesenden ein sich von der Realität zur Phantastik und wieder zurück steigerndes Crescendo faszinierenden Grauens zu und zeigt dabei, dass Literatur zwar nicht alles sagen kann, aber doch Vieles von dem, wovon die Philosophie schweigen muss. Dabei ist nichts, kein Begriff, keine Begebenheit, keine Erinnerung, kein Gespräch ohne vielfältige, verschachtelte, mehrdimensionale Bedeutung.
Bleibt also zu hoffen, dass die von einem fiktiven Verleger im jüngsten Kicherkrimi einer deutsch-schweizerischen Autorin getroffene Feststellung, je komplexer ein Buch sei, umso schlechter verkaufe es sich, für Haupts wunderbaren Roman nicht zutrifft.
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