Sabine Haupt: Die Zukunft der Toten. Erzählungen. 2022. Rezension von Rolf Löchel
Rezension von Rolf Löchel
Mit Die Zukunft der Toten hat die seit längerem auch mit fiktionalen Werken erfolgreich hervorgetretene Literaturwissenschaftlerin Sabine Haupt ihren dritten Erzählband vorgelegt. Schritt in ihrem vorherigen die Dämmerung der titelstiftenden blauen Stunde von Erzählung zu Erzählung zumindest metaphorisch voran, so setzt der neue – ebenfalls passend zum Titel – sogleich mit dem Ende ein. Also mit dem Tod, der in der ersten Geschichte der einer nahen Verwandten ist. Erzählt wird das sowohl aus der Sicht der Sterbenden wie auch derjenigen, die an deren Sterbebett wacht. Dabei ist es der Autorin trotz verschiedentlich eingefügter flapsiger Wendungen, die auch schon einmal abgenudelt sein können, gelungen, ein melancholisches, ja trauriges Märchen herbeizuzaubern. Dies auch gerade darum, weil besagte Wendungen ihr nicht etwa unterlaufen, sondern gezielt eingestreut werden. Dass sich Haupt nicht nur auf derlei Wendungen versteht, sondern auch wunderbare Bilder und Metaphern zu ihrem Repertoire gehören, zeigt sie etwa, wenn sie von „tiefenpsychologischem Fracking“ (100) berichtet oder ein „Herzklopfen, […] unüberhörbar an unsere Türe klopf[en]“ (82) lässt. Auch scheint am Ende der Erzählung im Gesang der Vögel vor dem Fenster so etwas wie Hoffnung auf. Das aber erinnert wiederum an die berühmte Büchse der Pandora, bei der es sich, wie alle wissen, die in der griechischen Mythologie halbwegs sattelfest sind, tatsächlich um einen Krug handelte. Zu bedenken ist jedoch, dass es eine – allerdings nicht sonderlich populäre - Deutung des Pandora-Mythos gibt, der zufolge das schlimmste aller Übel am Grund der Büchse beziehungsweise des Kruges lauerte. Eben die Hoffnung. Gut möglich, dass Haupt daran dachte.
Das Buch beginnt mit dem Ende, also dem Tod, jedoch ist damit noch lange nicht Schluss. Denn Tod, Exitus und Ableben ziehen sich wie ein schwarzer Faden durch alle dreizehn Erzählungen, die nicht selten von skurrilen bis grotesken Todesarten handeln. Das mag zwar einerseits an ein großangelegtes Romanprojekt Ingeborg Bachmanns erinnern, doch weckt der Faden als solcher auch Assoziationen an einen Roman von Haupt selbst, der einen solchen im Titel trug, wenngleich dieser nicht schwarz war, sondern wiederum von der Farbe des Meeres, der Hoffnung und einer sehnsuchtsumwobenen Blume.
Haben die literarischen Werke Haupts also manches gemeinsam – neben den erwähnten Fäden sind dies etwa Erzählwitz, ein (diesmal nicht selten schwarzgalliger) Humor, Einfallsreichtums sowie Stilsicherheit und -vielfalt –, so sind sie doch nicht alle gleich oder auch nur ähnlich. So spielt auch der kleine Bruder des Todes eine Rolle. Genauer gesagt, der Teil von ihm, der Ungeheuer gebären kann, wie zumindest ein bekannter Künstler einmal meinte.
Die Erzählungen des vorliegenden Bandes huldigen in Inhalt, Handlungsort und -zeit sowie in der Form auf vielfältige Weise der Diversität. So lässt die Autorin Protagonisten und Protagonistinnen als weibliche oder männliche Ich-ErzählerInnen auftreten oder sie verleiht einer anonymen Erzählinstanz ihre Stimme. Die Geschehnisse spielen sich im Bonn zur Zeit der nach ihr benannten Republik, auf einem Friedhof des nachrevolutionären Kuba oder in Italien, Frankreich und den Niederlanden zur Mitte des 19. Jahrhunderts ab, als sich Frans Donders, Cesare Lombroso und Jakob Molleschott an Tierversuchen versuchten, was wiederum von einer in der Cloud hausenden „Superintelligenz“ (46) beobachtet wird, die in einer unbestimmten, aber vermutlich nahen Zukunft ihr Dasein im nur scheinbar virtuellen Raum fristen dürfte.
Dass dieses „Internet der Gehirne“ (38) auch schon einmal ebenso bezeichnet wird wie bestimme höhergestellte Wesen in einer langlebigen SF-Heftreihe, dürfte Zufall sein. Vielleicht aber auch nicht. Denn die Autorin bewegt sich ebenso sicher in der Höhenkamm- wie in der Unterhaltungs-, ja Trivialliteratur. Desgleichen in den diversen anderen Künsten und – das sei nebenbei bemerkt – in den Wissenschaften. All das rührt sie zusammen und bereitet es zu ebenso anregenden wie unterhaltsamen und mehr als nur kurzweiligen Lektüren auf, die nicht zuletzt intellektuelle Freude bereiten.
Eine andere Erzählung berichtet von einer unterseeischen Gerichtsverhandlung, in der anno 2099 die Verbrechen an vor langen Jahren auf ihrer Flucht umgekommenen Asylsuchenden verhandelt werden. Die Angeklagten sprechen von Siegerjustiz. Ob allerdings die Nachkommen der Taliban überhaupt ein Interesse daran hätten, den vor dem Terror ihrer Ahnen Fliehenden posthum Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, mag dahingestellt sein. Religion scheint künftig jedenfalls auch nicht mehr das zu sein, was sie heute noch ist. Schließlich hat das Paschtun der Handlungszeit auch nur noch wenig mit dem derzeitigen zu tun. Doch nicht nur Fragen der Gerechtigkeit werden verhandelt, sondern auch solche des Posthumanismus.
Die „Hausgeister“ (110) einer weiteren, im Übrigen sehr lustigen Erzählung haben weniger mit den römischen Penaten als mit cineastischen Gremlins gemein. Doch nicht sie stehen im Mittelpunkt, sondern eine (gescheiterte) Emanzipationsgeschichte, beziehungsweise eine Lehrerin, die sich offenbar für emanzipiert hält, die feministische Parole der Neuen Frauenbewegung „Eine Frau ohne Mann ist wie ein Fisch ohne Fahrrad“ allerdings für postmodern hält und ansonsten in Erwägung zieht, „dass solche Unterwasserfahrräder für manche Fischarten vielleicht von vitalem Interesse sein könnten“ (117). Wozu hätten sie sonst Schuppen, ließe sich kalauernd fragen. Um ihre Räder unterzustellen natürlich, lautet die Antwort. Allerdings erschöpft sich die Geschichte nicht darin, amüsant von „fahrradlose[n] Fischfrauen“ (122) zu erzählen, sie stellt auch weiblich konnotierte Geistes- und Kulturwissenschaften gegen männlich konnotiertes Ingenieurswissen, das von des Herren Seiten mit Reflexionen einer vermeintlichen philosophischen Autorität unterfüttert wird. Die Ich-Erzählerin erkennt darin „Urszenen, bei denen sein präziser, naturwissenschaftlicher Geist direkt und ohne Zwischentöne“ mit ihrer „geisteswissenschaftlich-künstlerischen Wischiwaschi-Mentalität zusammenstößt, ja regelrecht kollidiert“ (118).
Eine wieder andere Erzählung lässt bereits beim ersten Blick auf ihren Titel an einen Philosophen denken. Von Kugeln und Schatten, wem fielen dabei nicht sogleich Platons Höhlengleichnis und die von ihm Aristophanes zugeschriebene Erzählung während eines Trinkgelages ein. Von der Liebessehnsucht zerrissener Kugelmenschen (hier allerdings von tierischen) ist dann auch tatsächlich die Rede, nicht so jedoch von einem Höhlenbewohner, der seinen aufklärerischen Versuch, die anderen ins Licht der Erkenntnis zu führen, mit dem Leben bezahlt. Ansonsten aber richtet sich das Augenmerk der Erzählung auf einen Weltweisen, der mehr als zweitausend Jahre nach dem Meister philosophischer Dialoge lebte und nie weit über die Mauern seiner Heimatstadt hinausgelangte. Doch werden seine Reflexionen über das Gefühl des Erhabenen hier nicht etwa mit dem des Schönen kontrastiert, sondern mit dem Tiefsinn zusammengedacht, wobei die Ich-Erzählerin Kants Theorie des Erhabenen recht frei interpretiert. Aber das ist natürlich nur eine Ebene der wie bei Haupt üblich vielschichtigen Geschichte. Eine andere und wenn sich so sagen lässt, die eigentliche ist eine sexual- und emanzipationspolitische über Männer, die infolge der Frauenbewegung eigene Selbsterfahrungsgruppen bilden und wie selbstverständlich Kinder missbrauchen.
Nicht von Kindsmissbrauch und philosophischen Fragen, sondern von Musik handelt die mit Keunschem Witz erzählte und auf geradezu Jelineksche Art zwischen Kalauer und Gedankentiefe oszillierende Geschichte Tristan im Schnee, in der ein aus dem Gefängnis entlassener Geigendieb mit seinen ehemaligen Knastbrüdern eine Wagner-Oper probt, wobei er nicht nur den Tristan-Akkord auf einer Triangel zu spielen hat – und zwar alle 2 ½ Sekunden, sondern auch noch für den Text des Programmhefts zuständig ist. Zur Aufführung gelangt das Stück allerdings nicht, da im Ensemble teils von Erfolg gekrönte suizidale Absichten um sich greifen.
Nicht minder vielfältig als die erzählten Inhalte sind die von Haupt eingesetzten formalstilistischen Mittel. Mal schmücken Emoji und andere Symbole einen Text, mal kursivgesetzte Notizen, mal scheinbare Befehle einer Computersprache, mal Auszüge aus der Erzählung einer fremden Feder, mal nichts von alledem.
Dabei problematisieren die Erzählungen auch schon einmal Texte, in denen zwischen den Zeilen zu lesen ist, oder sie warten mit allerlei wissenswerten Informationen auf. Etwa über die „vier Säulen, die das Leben tragen“ (19). Es sind dies, wie könnte es anders sein, „Wasser, Strom, Lebensmittel, Medikamente“ (ebd.). Davon ist zumindest ein Prepper überzeugt, der überdies diverse verlässliche Regeln kennt, die da etwa besagen, dass „Gründe, die an der Oberfläche liegen, keine sind“ (22). Zwar ist er überzeugt, sich auf alle nur denkbaren Unbilden und Weltuntergänge vorbereitet zu haben, doch weder Säulen noch Regeln helfen ihm, mit dem Leben davonzukommen. Denn der Tod lauert ganz woanders als erwartet und erweist sich als Befreiung, wenngleich nicht für ihn, sondern von ihm.
Die junge Protagonistin der Erzählung Bintje träumt wird hingegen Opfer eines Sadisten, entwickelt ein Stockholmsyndrom und wird so selbst zur Täterin, Denn „wer begreifen will, was in einem Sadisten vorgeht, muss mit ihm verschmelzen“ (91), zumal in dem vorliegenden Fall „braves Staatsbürgertum, moralische Grundsätze, akademische Disziplin und heteronormativer Blümchensex der wahren Erkenntnis nur im Weg [stehen]“ (92).
Wo die titelstiftende Zukunft der Toten liegt, zeigt schließlich der Schauplatz der letzten Erzählung. Vor allem aber endet sie mit einem unerwarteten, aber nicht überraschenden Clou. Denn sie zeigt, was für alle verständigen Menschen selbstverständlich sein dürfte. Dass uns nämlich nicht die Zukunft der Toten umtreiben sollte, sondern die der Lebenden – und die der noch Ungeborenen. Unbeantwortet bleibt hingegen die Frage, „wozu in Gottes Namen hatte die Natur – denn nur sie konnte es gewesen sein – überhaupt so etwas Verworrenes wie den Tod erfunden?“ (62).
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