Mirakulix
von Helke Sander
Für Mädchen, erst recht für Frauen, verbot es sich noch 1954 sowohl zu Hause als auch in der Schule lange Hosen zu tragen.
Ich hatte durch Nachhilfestunden in Deutsch und Geschichte Geld verdient und mir ein Paar Jeans zugelegt, die ich eines Tages in der Schule trug.
Der Mathematiklehrer rief mich nach der Stunde zu sich.
Ich sollte mich vor ihn hinstellen und ihm in die Augen sehen.
„Fräulein Helke“ sagte er, „Haben Sie Männergeschichten?
„Nein“ sagte ich.
Er sah missbilligend auf meine Jeans. „Das schätzen wir hier nicht“.
Was er noch sagte, habe ich vergessen. Jedenfalls blieben die Jeans versteckt und kamen erst nach dem Abitur und in einer anderen Stadt wieder zum Zuge.
Es war eine jener Geschichten, die sich Freundinnen untereinander schon damals erzählten, wenn auch noch als bestehende und bedauerliche Tatsache und kaum als Protest. Das Hosenverbot gehörte zu den Punkten, über die wir uns austauschten, wenn mal wieder zur Sprache kam, warum wir lieber Jungen wären.
Jungen durften alles: länger aufbleiben, länger abends draußen bleiben, mit anderen Jungen in die Ferien fahren, sie mussten keine Hausarbeiten machen, nicht abwaschen, abtrocknen, Kartoffeln schälen, Staub wischen, Blumen gießen, usw. Sie hatten keine Periode. Sie durften sich interessante oder seltene Berufe auswählen und ohne ausgelacht zu werden bei Tisch darüber sprechen. Und sie würden später mehr verdienen als Frauen.
Heute tragen sogar hundertjährige Frauen im Altersheim mit Vorliebe Hosen und können Geschichten darüber erzählen, wann ihnen der Durchbruch zum Hosentragen gelang. Die meisten erinnern sich daran: es waren Einzelkämpfe und der Wunsch nach Hose hatte praktische und persönliche Gründe. Und die Gegner dieser Mädchenwünsche waren Väter, Lehrer und Politiker.
Niemand ahnte damals, dass dies erst der Anfang sein sollte zu weiteren Enthüllungen und Erkenntnissen.
In Wirklichkeit ging es nämlich, gut versteckt, um etwas ganz anderes, was nicht Mädchen und Frauen betraf, sondern Männer. Aber diese Erkenntnis brauchte noch Jahrzehnte.
In die Politik kam dieser Hosenwunsch mit einem Eklat am 14. Oktober 1970 im Parlament, als die SPD-Abgeordnete Lenelotte von Bothmer, geb. 1915, im Hosenanzug ans Rednerpult trat, um über Schulpolitik zu reden.
Nach einer Schrecksekunde brach ein Proteststurm los, ähnlich dem, den Waltraud Schoppe später mit ihrer Rede über den Sexismus im Parlament auslöste, was auch nicht oft genug in Erinnerung gerufen werden kann. Bothmers Auftritt hatte eine Vorgeschichte: Der Vizepräsident des Bundestages, Richard Jäger (CSU, im Volksmund Kopf-Ab-Jäger), hatte erklärt, er würde es keiner Frau erlauben, das Plenum in Hosen zu betreten, geschweige denn an das Rednerpult zu treten. Genau das tat die 55jährige.
Die Folge war, dass ab sofort immer mehr Frauen nun auch in Hosen ins Parlament gingen und an anderen öffentlichen Orten erschienen.
Frauen hatten etwas erreicht, was ihnen wichtig war, sich aber nicht aus einer politischen Forderung herleitete Die gab es nicht. Es gab nur die massenhafte Übertretung dieses Verbots - trotz fortgesetzter männlicher Proteste.
Was schockierte die Männer dabei so einheitlich und offenbar grundsätzlich?
Ein noch unklarer bleibender Zusammenhang schien mir dieses Erlebnis zu bieten: Anfang der 80er Jahre begegnete ich auf dem Weg an der Außenalster in Hamburg einem etwas bürokratisch aussehenden Mann, der einen über die Knie gehenden modischen Rock trug, Stiefel und eine hübsche Lederjacke. Alles sehr hamburgisch, Ton in Ton, vielleicht von C&A.
Ein Mann im Rock.
Sowas hatten weder ich noch andere FußgängerInnen je gesehen, denn dieser Mann mit Aktentasche war nicht zu verwechseln mit Männern, wie sie inh Travestieshows schon immer für Unterhaltung sorgten.
Er war eindeutig ein normaler Mann, vermutlich auf dem Weg zur Arbeit, aber eben im Rock.
Alle drehten sich um, ich auch. Ein paar Leute lachten irritiert, so wie früher nette Leute über Frauen in Hosen lachten.
Irgendwas war hier vollkommen neu. Aber der Hamburger im Rock blieb, anders als die Hosenfrauen, ein Einzelgänger, wenn man mal von anderen Weltgegenden absieht, in denen Männer lange Hemden tragen. Einmal sah ich ihn noch von Weitem im gleichen Kostüm. Der Vorteil lag eigentlich auf der Hand. Enge Hosen konnten das Geschlechtsteil einklemmen. Ein Plus für den Rock.
Mir fielen inzwischen noch andere Merkwürdigkeiten auf.
Nahezu alle Männer, die keiner körperlich schweren Arbeit nachgingen, trugen Schlipse. Offenbar bestimmte nicht unbedingt der Geschmack diese Mode, der eher keinen praktischen Vorteil bot, sondern ein Schlips war ein Zeichen. Je höher die Position, desto besser wurde das Material. Wenn die Träger seriös waren oder so wirken wollten, bevorzugten sie als Design Punkte oder Streifen. Quer durch Parteien, Klassen und tonangebende Weltgegenden.
Für meinen Film „Die Deutschen und ihre Männer“ ließ ich die Hauptdarstellerin Lieschen Müller (Renée Felden) Buch über die Verbreitung dieser Muster führen und auch über solche Muster-Abweichungen, die die Träger als „gewagt“ empfanden., wenn z.B. statt der üblichen Punkte oder Streifen kleine Elefanten den Schlips zierten.
Die Verachtung billiger Produkte bei Männern in angesehenen Positionen drückte sich in einem Witz über Helmut Kohl aus:
Für einen Staatsbesuch in Italien lernte er eine landestypische Begrüßungsformel. Um sie nicht zu vergessen, schrieb er die Formel auf die Rückseite seiner Krawatte. Tatsächlich war er sich nicht mehr sicher und drehte unter einem Vorwand seinen Schlips unauffällig um, um dann zu sagen: "TREVIRA".
Nun, wieder bald 40 Jahre später, gibt es durchaus eine größere Anzahl Männer, die auch bei offiziellen Anlässen auf den Schlips verzichten. Z.B. Ralf Stegner bei „Hart aber fair (27.11.23)“ oder Lars Klingbeil bei verschiedenen Fernsehauftritten, viele Professoren und die meisten Künstler.
Dagegen machte Robert Habeck von den Grünen, die mal im Selbstgestrickten im Parlament antraten, mit Schlips einen tiefen Diener vor den diversen Emiren im Hemd, von denen der eine während der Begrüßung auch noch sehr unhöflich mit dem Handy telefonierte (im Internet zu sehen). In gewissen Berufen kann man sich oben ohne leisten. Aber kriegt ein solcher Kandidat einen Preis, nimmt an einer internationalen Sicherheitskonferenz teil oder trifft den Papst, erscheint er garantiert mit Schlips.
Mir sind keine Skandale bekannt, dass jemand wegen Schlipslosigkeit seinen Job verloren hat. Die beschlipsten Männer führen gegeneinander Kriege, aber tragen oft gleichgemusterte Krawatten, die sie, wenn betucht genug, bei den gleichen internationalen Händlern kaufen, vorzugsweise in Italien. Hosenträgerinnen verhalten sich bei ähnlichen Gelegenheiten weniger konform. Sie kommen auch zum Bundespräsidenten in Hosen.
„Im Urlaub wollen wir frei sein“, sagen viele Männer auf Nachfrage. Offenbar mögen sie nicht einmal, was sie sich im Alltag täglich um den Hals schlingen.
Wo sind die Nachfolger des Mannes an der Alster oder die aus dem Fernsehen bekannte Person, die sich Charlotte von Mahlsdorf nannte, und sich auch schon mal in einer Kittelschürze fotografieren ließ. Allerdings kenne ich einen ca. 9jährigen Jungen, der mit Erlaubnis seiner Eltern oft im Kleid zu sehen ist und die Reaktionen der Mitmenschen offenbar aushält.
Bei Frauen in Hosen und dem Hamburger im Rock war dies nicht gleichzeitig verbunden mit einem Statement über ihre Sexualität, sondern sagte lediglich aus, dass sie aus welchen Gründen auch immer Hosen oder Kleider bevorzugten.
Offen blieb nach wie vor, warum so wenige Männer rocklos auftreten. Immerhin gibt es hier und da Bekenntnisse, in denen Männer erzählen, dass sie heimlich Frauenkleidung tragen.
Warum heimlich? Es steht nicht unter Strafe.
SIE SCHEINEN ANGST VOR DIESEM SCHRITT ZU HABEN.
Vielleicht stand diese Angst von Anfang an vor dem Hosenverbot für Frauen.
Nachdem ich bis zu diesem Schluss gekommen war, stellte ich mir bei den verschiedenen Talk- und Polit-Sendungen vor, wie es wäre, wenn die eingeladenen Männer in Kleidern vor mir säßen, um über die Ukraine oder Nahost zu diskutieren. Würde sich etwas an ihren Argumenten ändern? Würden sie sich weniger eingezwängt fühlen?
Immerhin könnten sie sich doch wenigstens mal fragen, warum Frauen plötzlich massenhaft in Hosen erschienen und sich nicht um die Aufregung der Herrschaft kümmerten. Herrschaft im wörtlichen Sinn: Noch in den 70er Jahren hatten Männer in der Ehe gesetzlich das Sagen.
Sind Männer feige?
Warum Frauen aus dem Showgeschäft vorzugsweise halbnackt und geliftet auftreten, steht auf einem anderen Blatt.
Dez. 2023
© Helke Sander
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Die FemBio-Redaktion empfiehlt zum Weiterlesen und -bedenken eine Glosse aus dem Jahr 2009, Der Kindle, die Windel und das Kindl von Luise F. Pusch
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