Klatschen am Fenster reicht nicht
von Sigrid Häfner
Es war ein Weckruf – oder könnte einer sein. Gemeint ist die schlichte Erkenntnis, dass die Pflegeberufe systemrelevant sind. Es gab ein kurzes Erwachen, das sich in einer ebenso rührenden wie hilflosen Geste Ausdruck verschaffte: dem allgemeinen, öffentlichen Klatschen an offenen Fenstern. Danach gab es die Zusage eines einmaligen Bonus für Pflegerinnen und Pfleger wegen der außerordentlichen Belastungen in Coronazeiten, ein Trostpflaster ohne Nachhaltigkeit. Was die verschiedenen Pflegeberufe allesamt fordern, sind mehr Anerkennung und Würdigung ihrer Arbeit, bessere Arbeitsbedingungen, ein der Realität angepasster Personalschlüssel, vom Arbeitgeber finanzierte Fortbildungen mit entsprechender Freistellung, weniger Hierarchie in Kliniken und weniger Bürokratie. Dafür mehr Zeit für die eigentlichen Aufgaben kompetenter und zugewandter Pflege, und ja, auch das: eine bessere Bezahlung. In meinen Gesprächen mit Pflegenden während der Demos gegen das Projekt „Pflegekammer“ stand diese Forderung keineswegs immer an erster Stelle. Was sie zermürbt und zu körperlicher und seelischer Erschöpfung führt, ist, von Beginn der Schicht bis zu ihrem Ende gehetzt zu sein.
Das alles ist nicht neu. Die Pandemie ist wahrscheinlich eine historische Zäsur, nach der unsere Gesellschaft nicht zur altbekannten Tagesordnung zurückkehren sollte. Es ist eine einmalige Chance, neben der Schadensbegrenzung lange fällige Reformen durchzuführen. Die Gesellschaft ist bereit dafür. Wann, wenn nicht jetzt? Eine dieser alten Baustellen sind die Arbeitsbedingungen für das Pflegepersonal in Kliniken und Heimen.
Pflegenotstand
Den Begriff „Pflegenotstand“ gab es schon 1956, als ich eine pflegerische Ausbildung in einem Evangelischen Krankenhaus machte. Schon damals wurden Krankenschwestern aus dem Ausland angeworben. Die Gewinnung von gut ausgebildetem Pflegepersonal und die Vermeidung eines vorzeitigen Ausstiegs aus dem Beruf scheinen ein sehr deutsches Problem zu sein. Das ist nur zu verstehen, wenn man einen Blick auf die Geschichte der Pflegeberufe hierzulande wirft. Das bedeutet zugleich, die Schwachstellen des Systems zu analysieren. Dieser Hintergrund kann einiges erklären, aber er ist keine Rechtfertigung der derzeitigen Mängel. Alle Versuche einer Strukturreform der Pflegeberufe sollten aber, um Akzeptanz zu finden und erfolgreich zu sein, diesen Hintergrund berücksichtigen. Das gilt besonders für eine neue und durchsetzungsfähige Interessenvertretung des Pflegepersonals, wie sie die Pflegekammer eigentlich sein sollte. Für alle Fragen der Arbeitsbedingungen, die das Arbeitsrecht berühren, hätte die Pflegekammer jedoch keine Zuständigkeit.
Abstecher in die Geschichte der Pflegeberufe.
Anders als in den skandinavischen Ländern und in Großbritannien, wo es nach der Reformation bzw. der Loslösung der Anglikanischen Kirche von Rom keine klösterlichen Ordensschwestern mehr gab und der Staat schon früh ein eigenständiges Gesundheitswesen begründete, waren die Kirchen in Deutschland länger prägend. Die Katholische Kirche hatte weiterhin ihre Ordensschwestern und eigene konfessionelle Krankenhäuser. Die Evangelische Kirche gründete konfessionelle Schwesternschaften, die Diakonissen, die sich an klösterlichen Regeln orientierten, aber eben keine Nonnen waren. Auch sie arbeiteten in eigenen konfessionellen Krankenhäusern. Ihr Pflegepersonal warben beide Kirchen in ihren Glaubensgemeinschaften mit einer besonders im Pietismus verbreiteten Ethik der Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Resonanz fand diese vor allem bei Frauen für den Schwesternberuf. (In Mönchsklöstern pflegten auch Mönche, aber nur Männer. Es gab auch konfessionelle Bruderschaften in Pflege und Sozialarbeit. Das hannoversche Stephansstift hatte eine solche eigene Bruderschaft.) An weltlicher Krankenpflege gab es immer die Hebammen und die Kräuterfrauen. Beide Gruppen wurden mit der Entwicklung professioneller Medizin, die bis zur vorletzten Jahrhundertwende reine Männersache war, diskriminiert. Die männliche Ärzteschaft sorgte für ihre Ausgrenzung. Das Wissen der „Kräuterweiblein“ wanderte in die Naturheilkunde und Homöopathie. Die Hebammen waren mit ihren fundierten Kenntnissen und Erfahrungen eine ernsthafte Konkurrenz für den neuen Beruf der Gynäkologen, die die Geburtshilfe zunehmend vereinnahmten. Hier hat der heutige Mangel an Hebammen seine Wurzel.
Der Schwesternberuf war ursprünglich wesentlich caritativ ausgerichtet, so wie auch die wissenschaftliche Medizin ihre Wurzeln in den Klöstern hatte. Aber nur bei den Frauen galt das Motto: „Mein Lohn ist, dass ich dienen darf“. Ordensschwestern und Diakonissen in der Krankenpflege bekamen bis vor nicht langer Zeit kein Gehalt und waren nicht sozialversichert. Ihr Lebensunterhalt und ihre Altersversorgung waren durch den Orden bzw. die Diakonissenschaften mit ihren Mutterhäusern und Feierabendheimen gewährleistet. Es war eine äußerst kostensparende Alimentierung. Die dadurch ermöglichten Überschüsse sowie die damals üppigen Schenkungen wurden investiert. Das war und ist der Grundstock der zahlreichen kirchlichen und diakonischen Stiftungen des 19. und 20. Jahrhunderts, besonders auch in Hannover. Diakonie und Caritas lösten sich schließlich aus den Amtskirchen und verselbständigten sich in Richtung professioneller Krankenpflege und Sozialarbeit mit diskretem konfessionellem Hintergrund. Auf beide kann unser Sozialstaat heute nicht mehr verzichten.
Der Bedeutungsverlust der Kirchen und der emanzipatorische Weg der Frauen in echte Berufstätigkeit und bezahlte Erwerbsarbeit veränderte vieles. Es gab und gibt noch heute kirchennahe, aber nun zunehmend „freie“ Krankenschwestern bzw. Pflegerinnen, die sich zu eigenen Schwesternschaften zusammengeschlossen haben. Sie alle setzen auf Professionalität sowie fachliche und soziale Kompetenz. Am bekanntesten sind die kirchennahen Kaiserswerther Schwesternschaften und die „weltlichen“ DRK Schwestern- schaften. Heute bilden die früher „freie“ Schwestern genannten Pflegerinnen und Pfleger in der Kranken-, Kinder- und Altenpflege die deutliche Mehrheit.
Allen gemeinsam aber ist die Herkunftsprägung dieses Berufes aus den Klöstern und Kirchen, bzw. der Diakonie und der Caritas alten Stils. Hinzu kommt eine preußisch–patriarchal–bildungsbürgerliche Prägung. Im 19. und 20. Jahrhundert war der Schwesternberuf die einzige bürgerlich halbwegs akzeptierte außerhäusliche Berufstätigkeit für Frauen. Sie wollten oder mussten sich aber von der weiblichen Industriearbeiterschaft absetzen, die ja „aus Not“ arbeitete. Das gehobene Bürgertum und der Adel erlaubten ihren „höheren“ Töchtern allenfalls, Krankenschwester aus christlich-sozialer Verpflichtung zu werden, aber nicht aus der Notwendigkeit zum Gelderwerb. So wurde die Frage nach dem gerechten Lohn, nach dem auskömmlichen Erwerb, ein Tabu. Man gab sich zufrieden damit, dass die Frauen aus Idealismus und Nächstenliebe arbeiteten. Und man war über Jahrhunderte daran gewöhnt, dass alle Aufgaben der Versorgung, Pflege und Fürsorge wie selbstverständlich von Hausfrauen und Müttern gratis geleistet wurden. Das hat auf den Berufsstatus und das Ansehen der professionellen Krankenpflege abgefärbt.
Die Mehrzahl der bürgerlichen Krankenschwestern des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts stellte die Autorität der Ärzte in keiner Weise in Frage. In den Lazaretten beider Weltkriege konnte man sich derartige Hierarchien allerdings nicht leisten. Sie feierten aber fröhliche Urständ in der Restauration der 50’er Jahre. Die „Halbgötter in Weiß“ und die sich aufopfernde, allzeit dienstbereite Krankenschwester geistern noch immer durch manche Ärzteromane und schlechte Arztfilme. Im internationalen Vergleich fällt heute die starke Hierarchisierung im deutschen Krankenhauswesen auf. Das erschwert eine Delegation von Verantwortung und somit auch eine Aufwertung der Pflegeberufe.
Die Spuren der tiefsitzenden, geschichtlich-kulturellen Traditionen und Prägungen des Pflegeberufes wirken - neben allen aktuellen, strukturellen und finanziellen Problemen bis heute fort. Sie erschweren auch die Entwicklung eines attraktiven Berufsbildes, das den zeitgemäßen Anforderungen an Arbeitnehmer-/innenrechte, an gerechte Entlohnung und gute Arbeitsbedingungen entspricht. Vor allem aber haben wir es mit einer jahrzehntelangen Gleichgültigkeit von Politik und Gewerkschaften gegenüber dieser überwiegend weiblichen Berufsgruppe zu tun.
Interessenvertretung im Verteilungskampf
Niemand sollte den Pflegerinnen und Pflegern im Rahmen der in Niedersachsen gründlich vermasselten und systemfremden Pflegekammergründung mangelndes politisches Bewusstsein oder fehlenden Nachdruck bei ihrer eigenen Interessenvertretung vorwerfen. Vielmehr spricht es für ihren politischen Instinkt, dass viele einer eigenen, neuen ständischen Interessenvertretung, vergleichbar der privat finanzierten Ärztekammer, nicht begeistert zustimmen, um es milde auszudrücken. Diese ist nämlich für sie in keiner Weise vergleichbar. Eine Ärztekammer vertritt mehrheitlich selbstständig praktizierende Ärztinnen und Ärzte, hat ein nicht vergleichbares gesellschaftliches Ansehen und ist entsprechend einflussreicher, ist um ein Vielfaches finanzstärker und kann sich daher professionelle Lobbyarbeit leisten. Vor allem aber gibt es neben den Ärztekammern den gut funktionierenden, tariffähigen Hartmannbund (für niedergelassene Ärzte) und den ebenso gut funktionierenden, tariffähigen Marburger Bund (für Klinikärzte). Beide setzen sich zum Wohl ihrer Mitglieder für eine gerechte Entlohnung und gute Arbeitsbedingungen notfalls auch mit Streiks ein.
Da sollten die Pflegerinnen und Pfleger doch mit Nachdruck fragen: Und wo bleibt VERDI? Vielleicht sollte die Gewerkschaft erst einmal in Vorleistung gehen und die notwendige Zahl der Mitglieder nach den ersten Erfolgen gewinnen?!
Struktur- und Kultur-Reformen in Organisationen
Tiefgreifende Strukturreformen in Organisationen mit langer Tradition sollten abrupte Traditionsbrüche vermeiden. Aus der Organisationsberatung und -entwicklung wissen wir, dass es bei Reformen nicht nur um die Strukturen sondern immer auch um die Organisations-/Unternehmenskultur geht. Reformen sollten sich immer an beiden, der Struktur und der Kultur orientieren. Eine Strukturreform, die nicht zur Organisationskultur und ihren Traditionen passt, wird i. d. R. scheitern. Wird sie dennoch beschlossen, haben wir häufig den Fall rhetorischer Aufgeschlossenheit bei gleichzeitiger Verhaltensstarre. Das schädigt die Vertrauensbasis.
Mir scheint, dass wir bei der Gründung der Pflegekammer von oben und der nun durch den Staat (befristet) übernommenen Mitgliedsbeiträge eine Unverträglichkeit von beidem, den Strukturen und den Kulturen der Pflegeberufe mit denen einer Pflegekammer als Interessenvertretung haben. Hinzu kommt eine rechtliche und sozialpolitisch bedenkliche Zwitterstellung, die weder zu der Unabhängigkeit einer Kammer vom Staat, noch zum Subsidiaritätsprinzip passt. Zugespitzt gesagt: Der Staat gründet und finanziert eine berufliche Interessenvertretung, die nicht zuletzt beim Staat selber Lobbyarbeit leisten soll.
Ein passendes Modell für eine wirksame Interessenvertretung des gesamten Pflegepersonals muss dringend gefunden werden. Es müsste an bestehende und bewährte Traditionen anschlussfähig sein und zugleich neue strukturell- strategische Wege eröffnen. Eine solche Interessenvertretung kann auf zwei Wegen zustande kommen: Entweder die Pflegeberufe schaffen es, sich aus eigener Kraft zusammenzuschließen und eine gemeinsame, durchsetzungsstarke Dachorganisation zu etablieren, die auf mittlere Sicht tariffähig sein müsste und eine bundesweite Tarifhoheit haben müsste. Oder sie treten vermehrt der DGB – Dienstleistungsgewerkschaft Verdi bei, sodass diese mit ihrer bewährten Organisationserfahrung und entsprechendem Mitgliederdruck effektive Interessenvertretung und Tarifpolitik für die Pflegeberufe leisten kann. Dafür müsste es einen Bewusstseinswandel bei vielen Pflegenden geben, der eine zeitgemäße, professionelle Haltung zu ihren Arbeitsverhältnissen unterstützt: Eine angemessene und nachdrückliche Vertretung eigener Interessen als Arbeitnehmer/-innen ist nichts Verwerfliches und untergräbt auch nicht das Berufsethos, wonach man Schutz- und Pflegebedürftige nicht allein lässt. Ärzte z. B. streiken, ohne dass ihnen ein mangelndes Berufsethos vorgeworfen wird. Streiks sind immer das letzte Mittel, aber diese Möglichkeit gewährleistet Tarifverhandlungen auf Augenhöhe. Und um diese Augenhöhe in unserem komplexen Gesundheitssystem mit seinen durchaus harten Verteilungskämpfen geht es für die Pflegeberufe. Wir müssen zur Kenntnis nehmen: Gute, menschenwürdige Pflege zu guten Bedingungen für die Pflegenden ist kein marktgängiges Produkt! Sie hat ihren Preis, den eine der reichsten Volkswirtschaften zu zahlen bereit sein sollte. Da gibt es keinen Rabatt. Denn gute Pflege zu guten Bedingungen gehört zu den Grundlagen eines humanen Sozialstaates.
(Hannover, 04. 06. 2020)
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Berufliche Daten der Verfasserin
Sigrid Häfner, Diplomsozialwirtin, Oberkirchenrätin i.R., bis zum Renteneintritt im Jahr 2000 hauptamtliche Frauenbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), davor kommunale Frauenbeauftragte in Göttingen, ehemalige Dozentin für Gerontologie an der damaligen Ev. Fachhochschule Hannover. Nach dem Renteneintritt freiberufliche Tätigkeit in der Organisationsentwicklung und als Coach bei Freigemeinnützigen Einrichtungen. In den 50’er Jahren eine pflegerische Ausbildung in einem Ev. Krankenhaus.
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