Helke Sanders historische Rede von 1968 (“Tomatenrede”), mit Kommentaren von Helke Sander und Halina Bendkowski zum 50. Jahrestag, 2018
Helke Sander (Aktionsrat zur Befreiung der Frauen)
Rede auf der 23. Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS)
Frankfurt am Main, 13. September 1968
Liebe Genossinnen, Genossen,
ich spreche für den Aktionsrat zur Befreiung der Frauen. Der SDS (Berlin) hat mir einen Delegiertenplatz gegeben. Nur wenige von uns des Aktionsrates sind Mitglieder des SDS. Wir sprechen hier, weil wir wissen, dass wir unsere Arbeit nur in Verbindung mit anderen progressiven Organisationen leisten können und dazu zählt unserer Meinung nach heute nur der SDS.
Die Zusammenarbeit hat jedoch zur Voraussetzung, dass der Verband die spezifische Problematik der Frauen begreift, was nichts anderes heißt, als jahrelang verdrängte Konflikte endlich im Verband zu artikulieren. Damit erweitern wir die Auseinandersetzung zwischen den Antiautoritären und der KP-Fraktion und stellen uns gleichzeitig gegen beide Lager, da wir beide Lager praktisch, wenn auch nicht theoretisch, gegen uns haben. Wir werden versuchen, unsere Positionen zu klären, und verlangen, dass unsere Problematik hier inhaltlich diskutiert wird. Wir werden uns nicht mehr damit begnügen, dass den Frauen gestattet wird, auch mal ein Wort zu sagen, das man sich, weil man ein Antiautoritärer ist, anhört, um dann zur Tagesordnung überzugehen. Wir stellen fest, dass der SDS innerhalb seiner Organisation ein Spiegelbild gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse ist. [Applaus]
Dabei macht man alle Anstrengungen, alles zu vermeiden, was zur Artikulierung dieses Konfliktes zwischen Anspruch und Wirklichkeit beitragen könnte, da dies eine Neuorientierung der SDS-Politik zur Folge haben müsste bzw. eine klare Strategie erzwingen würde. Diese Artikulierung wird auf eine einfache Weise vermieden, nämlich dadurch, dass man einen bestimmten Bereich des Lebens vom gesellschaftlichen Leben abtrennt, ihn tabuisiert, indem man ihm den Namen Privatleben gibt. In dieser Tabuisierung unterscheidet sich der SDS in nichts von den Gewerkschaften und den bestehenden Parteien. [Applaus] Diese Tabuisierung hat zur Folge, dass das spezifische Ausbeutungsverhältnis, unter dem die Frauen stehen, verdrängt wird, wodurch gewährleistet ist, dass die Männer ihre alte, durch das Patriarchat gewonnene Identität noch nicht aufgeben müssen. [Applaus] Man gewährt zwar den Frauen Redefreiheit, ergründet aber nicht die Ursachen, warum sie sich so schlecht bewähren, warum sie passiv sind, warum sie zwar in der Lage sind, die Verbandspolitik mit zu vollziehen, aber nicht dazu in der Lage sind, sie auch mit zu bestimmen. (Gestern hat eine Frau geredet, heute hat eine Frau einen Antrag formuliert.) Die Verdrängung wird komplett, wenn man auf diejenigen Frauen verweist, die innerhalb des Verbandes eine bestimmte Position erworben haben, in der sie aktiv tätig sein können.
Es wird nicht danach gefragt, welche Versagungen ihnen das möglich gemacht haben, es wird übersehen, dass dies nur möglich ist durch Anpassung an ein Leistungsprinzip, unter dem ja gerade auch die Männer leiden und dessen Abschaffung das Ziel ihrer Tätigkeit ist. Die so verstandene Emanzipation erstrebt nur eine Gleichheit in der Ungerechtigkeit und zwar mit den von uns abgelehnten Mitteln des Konkurrenzkampfes und des Leistungsprinzips.
Die Trennung zwischen Privatleben und gesellschaftlichem Leben wirft die Frau immer zurück in den individuell auszutragenden Konflikt ihrer Isolation. Sie wird immer noch für das Privatleben, für die Familie, erzogen, die ihrerseits von Produktionsbedingungen abhängig ist, die wir ablehnen. Die Rollenerziehung, das anerzogene Minderwertigkeitsgefühl, der Widerspruch zwischen ihren eigenen Erwartungen und denen der Gesellschaft erzeugen das ständige schlechte Gewissen, den an sie gestellten Anforderungen nicht gerecht zu werden, bzw. zwischen Alternativen wählen zu müssen, die in jedem Fall einen Verzicht auf vitale Bedürfnisse bedeuten. Frauen suchen ihre Identität. Durch Beteiligung an Kampagnen, die ihre Konflikte nicht unmittelbar berühren, können sie sie nicht erlangen. Auch das ist nur Scheinemanzipation. Sie können sie nur erlangen, wenn die ins Privatleben verdrängten gesellschaftlichen Konflikte artikuliert werden, damit sich dadurch die Frauen solidarisieren und politisieren. Die meisten Frauen sind deshalb unpolitisch, weil Politik bisher immer einseitig definiert worden ist und ihre Bedürfnisse nie erfasst wurden. Sie beharrten deshalb im autoritären Ruf nach dem Gesetzgeber, weil sie den systemsprengenden Widerspruch ihrer Forderungen nicht erkannten.
Die Gruppen, die den Widerspruch erkannt haben und die am leichtesten politisierbar sind, sind die privilegierten Frauen mit Kind und verkrachter Ehe. Bei ihnen sind die Aggressionen am stärksten und [ist] die Sprachlosigkeit am geringsten. Wenn Frauen heute studieren können, haben sie das nicht so sehr der bürgerlichen Emanzipationsbewegung zu verdanken, sondern vielmehr ökonomischen Notwendigkeiten. Wenn diese Privilegierten unter den Frauen nun Kinder bekommen, werden sie auf Verhaltensmuster zurückgeworfen, die sie meinten, dank ihrer Emanzipation schon überwunden zu haben. Das Studium wird abgebrochen oder verzögert, die geistige Entwicklung bleibt stehen oder wird stark gemindert durch die Ansprüche des Mannes und des Kindes. Dazu kommt die Unsicherheit, dass man es nicht fertig gebracht hat, zwischen Blaustrumpf und Frau fürs Haus zu wählen, entweder eine Karriere aufzubauen,
die mit einem weitgehenden Verzicht auf Glücksanspruch erkauft werden muss oder eine Frau für den Konsum zu sein. Das heißt, es sind eben jene privilegierten Frauen, die die Erfahrung gemacht haben, dass der bürgerliche Weg zur Emanzipation der falsche war, die erkannt haben, dass sie sich nicht emanzipieren können, wenn sie mit dem Mann konkurrieren, die erkannt haben, dass sie sich nicht emanzipieren können, wenn das allgemeine Leistungsprinzip auch zum bestimmenden Faktor innerhalb der jeweiligen Verhältnisse wird. Diese Frauen merken spätestens, wenn sie Kinder bekommen, dass ihnen alle ihre Privilegien nichts nützen. Sie sind am ehesten dazu in der Lage, den Abfallhaufen des gesellschaftlichen Lebens ans Licht zu ziehen, was gleichbedeutend damit ist, den Klassenkampf auch in die Ehe und in die Verhältnisse zu tragen. [Applaus]
Dabei übernimmt der Mann die objektive Rolle des Ausbeuters oder Klassenfeindes, die er subjektiv natürlich nicht will [Applaus], da sie ihm ja auch wiederum nur aufgezwungen wird von einer Leistungsgesellschaft, die ihm
ein bestimmtes Rollenverhalten und Autorität auferlegt. Die Konsequenz, die sich daraus für den „Aktionsrat zur Befreiung der Frauen“ ergab, ist folgende: Wir können die gesellschaftliche Unterdrückung der Frauen nicht individuell lösen. Wir können damit nicht auf Zeiten nach der Revolution warten, da eine nur politisch-ökonomische Revolution die Verdrängung des Privatlebens nicht aufhebt, was in allen sozialistischen Ländern bewiesen ist. [Applaus] Wir streben Lebensbedingungen an, die das Konkurrenzverhältnis zwischen Mann und Frau aufheben. Dies geht nur durch Umwandlung der Produktionsverhältnisse und damit der Machtverhältnisse, um eine demokratische Gesellschaft zu schaffen.
Da die Bereitschaft zur Solidarisierung und Politisierung bei den Frauen mit Kindern am größten ist, weil sie nämlich den Druck am meisten spüren, haben wir uns in der praktischen Arbeit bisher auf ihre Konflikte konzentriert. Das heißt nicht, dass wir die Konflikte der Studentinnen ohne Kinder nicht wichtig nehmen, heißt nicht, dass wir nicht trotz der gemeinsamen Merkmale aller Frauen in der Unterdrückung die klassenspezifischen Unterdrückungsmechanismen übersehen. Es heißt lediglich, dass wir eine möglichst effektive Arbeit leisten wollen und uns einen Ansatzpunkt schaffen müssen, der es uns erlaubt, die Problematik systematisch und rational anzugehen. Da die anfänglichen Bemühungen, die
wir machten, diese Konflikte mit dem SDS und innerhalb des SDS anzugehen, scheiterten, haben wir uns zurückgezogen und alleine gearbeitet. Als wir vor einem halben Jahr mit der Arbeit anfingen, reagierten die meisten Genossen mit Spott, mit Diffamierung oder Verdrängung, das heißt mit Schweigen. Heute nehmen sie uns übel, dass wir uns zurückgezogen haben und versuchen uns zu beweisen, dass wir überhaupt ganz falsche Theorien haben, sie versuchen uns unterzujubeln, dass wir behaupten, wir könnten uns auch alleine emanzipieren – ohne die Männer – und all den Schwachsinn, den wir nie verbreitet haben. Sie pochen darauf, dass auch sie unterdrückt sind, was wir ja wissen. [Gelächter]
Wir sehen es nur nicht mehr länger ein, dass wir ihre Unterdrückung, mit der sie uns unterdrücken, weiter wehrlos hinnehmen sollen. Eben, weil wir der Meinung sind, dass eine Emanzipation nur gesamtgesellschaftlich möglich ist, sind wir ja hier. Wir müssen hier nämlich mal feststellen, dass an der Gesamtgesellschaft etwas mehr Frauen als Männer beteiligt sind und finden es nicht unbescheiden, dass wir die sich daraus ergebenden Ansprüche auch einmal anmelden und fordern, dass sie berücksichtigt werden. Sollte dem SDS der Sprung nach vorn zu dieser Einsicht nicht gelingen, dann wären wir allerdings auf einen Machtkampf angewiesen, was eine [Unruhe und Applaus] ungeheure Energieverschwendung bedeuten würde [Unruhe], denn wir würden diesen Machtkampf gewinnen, da wir historisch im Recht sind. [Applaus] Die Hilflosigkeit und Arroganz, mit der wir hier auftreten müssen, macht keinen besonderen Spaß. Hilflos sind wir deshalb, weil wir von progressiven Männern eigentlich erwarten, dass sie die Brisanz unseres Konfliktes einsehen. Die Arroganz kommt daher, dass wir sehen, welche Bretter ihr vor den Köpfen habt, weil Ihr nicht seht, dass sich Leute jetzt ohne euer Dazutun politisieren – und zwar in einer Zahl, die ihr für den Anbruch der Morgenröte ansehen würdet, wenn es sich jetzt um Arbeiter handeln würde. [Gelächter und Beifall]
Eure Veranstaltungen sind ziemlich unerträglich. Die Aggressionen [Applaus], die hier alles bestimmen, kommen nur teilweise aus politischen Einsichten in die Dummheit des anderen Lagers. Sagt doch endlich, dass ihr euch die neue Strategie solange nicht aus der Nase ziehen könnt, als ihr noch so kaputt seid vom letzten Jahr, sagt, dass ihr den Stress nicht länger ertragen könnt, euch in politischen Aktionen zu verausgaben, ohne damit einen Lustgewinn zu verbinden. Und sagt doch, dass man dies eigentlich auch im SDS diskutieren sollte. Warum kauft ihr euch denn alle den (Wilhelm) Reich? Warum sprecht ihr denn vom Klassenkampf hier und von Orgasmusschwierigkeiten zu Hause? [Unruhe, Gelächter] Diese Verdrängungen wollen wir nicht mehr mitmachen. [Applaus]
In unserer selbstgewählten Isolation machten wir also folgendes: Wir konzentrierten unsere Arbeit auf die Frauen mit Kindern, weil sie am schlechtesten dran sind. Frauen mit Kindern können über sich erst wieder nachdenken, wenn die Kinder sie nicht dauernd an die Versagungen der Gesellschaft erinnern, die sie auszutragen haben. Da die politischen Frauen ein Interesse daran haben, dass ihre Kinder eben nicht nach dem Leistungsprinzip erzogen werden, war
die erste Konsequenz für uns die, dass wir den Anspruch der Gesellschaft, dass die Frau die Kinder zu erziehen hat, zum ersten Mal ernst nehmen. Und zwar in dem Sinne, dass wir uns weigern, unsere Kinder weiterhin nach den Prinzipien des Konkurrenzkampfes und des Leistungsprinzips zu erziehen, von denen wir wissen, dass auf ihrer Einhaltung die Voraussetzung des kapitalistischen Systems überhaupt beruht. [Applaus] Wir wollen versuchen, schon innerhalb der bestehenden Gesellschaft Modelle einer utopischen Gegengesellschaft zu entwickeln. In dieser Gegengesellschaft müssen aber unsere eigenen Bedürfnisse endlich einen Platz finden. So ist die Konzentration auf die Erziehung nicht
ein Alibi für die verdrängte eigene Emanzipation, wie es uns von den Genossen vorgeworfen wird, sondern die Voraussetzung dafür, die eigenen Konflikte produktiv zu lösen. Indem man nämlich versucht, die Reptationen, die das Kind auf die Eltern und die Eltern auf das Kind ausüben, so umzuleiten, dass Formen geschaffen werden, in der sich jeder gegen die Unterdrückung des anderen wehren kann. Die Hauptaufgabe besteht darin, dass unsere Kinder nicht auf Inseln fernab aller gesellschaftlichen Realität gedrängt werden, sondern darin, den Kindern durch Unterstützung ihrer eigenen emanzipatorischen Bemühungen die Kraft zum Widerstand zu geben, damit sie ihre eigenen Konflikte mit der Realität zugunsten einer zu verändernden Realität lösen können.
Augenblicklich arbeiten schon fünf dieser Kinderläden, vier weitere organisieren sich und einige andere sind im organisatorischen Vorstadium. Wir arbeiten am Modell für den FU-Kindergarten und organisieren Kindergärtnerinnen. Andere Arbeitskreise, die mehr theoretisch arbeiten, gibt es auch. Wir haben einen so ungeheuren Zustrom, dass wir ihn kaum organisatorisch verkraften können. Unser Ziel ist zunächst, die Frauen zu politisieren, die schon ein bestimmtes Problembewusstsein haben. Dies ist am besten möglich innerhalb der Universitäten. Wir müssen diese unsere Gegenmodelle zunächst weiterentwickeln und auf eine größere Basis stellen, damit wir Methoden einer kollektiven Erziehung finden, die nicht nur den sowieso Privilegierten zugute kommt. Diese Kader und diese Erkenntnisse haben wir noch nicht. Darum können wir unsere Arbeit nicht dadurch gefährden, dass wir halbe Aktionen in Arbeitervierteln machen. Es sind nämlich besonders die Männer, die sich nach und nach bei uns eingefunden haben, die für eine schnellere Vermittlung nach außen in die Arbeiterschaft eintreten.
Hier gibt es wieder zwei Probleme. Zum einen haben verschiedene Männer gesehen, dass plötzlich etwas gemacht wird, was eine Perspektive hat. Aufgrund ihrer gewandteren Formulierungen übernehmen sie bei manchen Arbeitskreisen wieder die Führung, wogegen viele Frauen nach wie vor hilflos sind. Sie tun so, als sei der Gedanke der Kinderläden ihre eigene Erfindung, sie sehen die politische Relevanz und sagen jetzt den Frauen, sie würden ihre Probleme verdrängen, wenn sie sich mit der Erziehung beschäftigen, obwohl wir bemerkt haben, dass sich die Frauen, gerade weil sie an ihren Problemen interessiert sind, sich zuerst mit den Kindern auseinandersetzen müssen.
Der Versuch, möglichst schnell andere Bevölkerungsschichten mit unseren Kinderläden zu erfreuen, mag darauf zurückzuführen sein, dass sich die Männer nach wie vor weigern, ihre eigenen Konflikte durch die Arbeit mit den Kindern zu artikulieren. Im Augenblick haben wir der Arbeiterschaft noch nichts zu bieten. Wir können nicht Arbeiterkinder in unsere Kindergärten nehmen, wo sie ein Verhalten lernen, für das sie zu Hause bestraft werden. Die Kinder sind oft nur eine Last, die man, um sie erträglich zu machen, disziplinieren und reglementieren muss. Die Voraussetzungen für eine Arbeiterkampagne müssen geschaffen werden und sind von uns nicht alleine zu leisten. Wir machen mit der Artikulierung unserer Konflikte eigene Basisarbeit. Aus den Arbeiten an den Kinderläden ergeben sich für uns weitere Arbeiten, die damit in engerem Zusammenhang stehen. Die Kinder, die jetzt in unseren Läden sind, werden sich nicht mehr in die gewöhnlichen Schulen einfügen. Die Eltern dieser Kinder werden die bestehenden Schulen nicht mehr hinnehmen. Durch die breite Basis, die wir den Läden geben wollen, versuchen wir eine breite Basis für den Konflikt in den Volksschulen zu schaffen. Dieser Konflikt wird Wirkungen haben, die sich zeigen werden auch bei den Kindern und den Eltern, die nicht durch unsere Läden gegangen sind. Wir müssen dann verhindern, dass Kinder ausgebildet werden, um das zu lernen, was eine kapitalistische Gesellschaft ihnen zu lernen erlaubt. Wir wissen, unproduktive Arbeiten können abgeschafft werden, wir wissen, wir werden einen ungeheuren Bedarf an Erzieherinnen und Erziehern, Kindergärtnerinnen und Kindergärtnern haben. Es ist nicht mehr nötig, dass 90% aller Arbeiterinnen ungelernte Arbeiterinnen sind.
Genossen, ihr seht, dass unsere Arbeit andere Schwerpunkte hat als die Verbandsarbeit.
Wir haben unsere Arbeit beschränkt auf Erziehungsprobleme und alles, was damit zusammenhängt – also vorläufig.
Das heißt nicht, dass wir uninteressiert sind an den anderen Arbeiten.
Wir geben im Augenblick nur kein Geld dafür. Alles Geld geht im Augenblick in die Läden und die dafür notwendigen Vorbereitungsarbeiten.
Wir nehmen uns Zeit für die Vorbereitungsarbeiten, d. h. für die Politisierung des Privatlebens.
Wenn die Kinderläden wenigstens den Studenten und Demonstranten zu einer Selbstverständlichkeit geworden sind, werden wir uns auf die Schulen konzentrieren müssen.
Daneben gibt es natürlich Kampagnen, die in engem Zusammenhang damit stehen, auf die hier aber nicht weiter eingegangen werden soll.
Damit kommen wir jetzt auf die Frage der Prioritäten. Wir müssen diskutieren: Soll sich eine Gruppe hier und eine Gruppe da auf ein Lehrlings- bzw. Schülersekretariat konzentrieren oder sollen wir uns konzentrieren auf die Verbreiterung der Basis bei den Kindergärten? Ein Lehrlingssekretariat fängt die wenigen glücklichen und männlichen Volksschulabgänger auf, die das Glück hatten, eine Lehre beginnen zu können, wie schlecht sie im Einzelnen auch sein mag. Ein Schülersekretariat fängt die wenigen Ober- und Berufsschüler auf, die das Glück hatten, liberale Eltern zu haben und materiell gesicherte Eltern, die sie auf eine Schule schicken konnten. Das Lehrlingssekretariat wird immer wieder genährt durch die Leute, die immer wieder die gleichen Voraussetzungen mitbringen, nämlich die, die wir abschaffen wollen. Soll hier eine Gruppe eine Nato-Kampagne und da eine Gruppe eine Bundeswehrkampagne machen oder sollen wir uns darauf konzentrieren, neue Wohnmodelle zu schaffen, die uns nicht mehr länger architektonisch vergewaltigen und die Besitzverhältnisse und die Machtstrukturen verewigen? Es geht um die Artikulierung der eigenen Konflikte gegen deren Verdrängung. Wenn ihr zu dieser Diskussion, die inhaltlich geführt werden muss, nicht bereit seid, dann müssen wir, der „Aktionsrat zur Befreiung der Frauen“, feststellen, dass der SDS ein konterrevolutionärer Verband ist. [Applaus und Buhrufe]
Halina Bendkowski
Feministischer Geschichtsalarm oder: Gibt es ein Happy End für emanzipatorische Bewegungen? Einführung zur Veranstaltung: „Resümee – 50 Jahre nach dem Tomatenwurf“
Frankfurt am Main, 14. September 2018
Uns Schülerinnen der Nachkriegszeit wurde bis zum Aufmerken feministischer Lehrerinnen und deren Kritik gegen die Verballhornung von Frauenrechten zugemutet, die erste Frauenbewegung satirisch als „Blaustrümpfe“ veralbert zu sehen. Wie sollten sich die Mädchen und Jungen für diese erste historische Gleichstellung interessieren oder gar begeistern? Wie ungemein hässlich die Frauen, die sich für das allgemeine Wahlrecht eingesetzt hatten, von namhaften Karikaturisten nachhaltig wirkend, gezeichnet wurden, lässt Frauen beim Anschauen dieser „Kunst“ immer noch die Hand zur Faust formen. Und so ist es nicht erstaunlich, wenn kaum eine von den Schülerinnen oder von den Schülern weiter nach den Inhalten und Namen der Kämpferinnen fragte. Tatsache war, die Lehrenden hätten auch nicht gewusst zu antworten, denn die Geschichte der Frauenbewegung stand und steht immer noch auf keinem Lehrplan. 100 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland haben leider auch nicht viel mehr zur Allgemeinbildung darüber beigetragen. Dazu wäre es notwendig, in den Kanon der Geschichtsbildung für die Schulen übernommen zu werden.
50 Jahre 68 ohne 68erinnen
Wenn wir heute hier dank der Erfolge der 2. Frauenbewegung, – einer davon ist die Existenz des Frankfurter Frauenreferats – das Ereignis von vor genau 50 Jahren in Frankfurt feiern, dann bitte ich vor allem die anwesenden Medien, ge-WISSEN-hafter mit der Geschichtsdarstellung der 68erinnen umzugehen. Denn die Folgen der Frauenbewegung nach 68 waren positiv geschichtsverändernder als das immer wieder gleiche Zeigen von Parolen auf den damaligen Massendemonstrationen. Zwar wird das ganze Jahr nun schon über 68 hin und her diskutiert, ob 68 im Westen oder im Osten, im Norden oder Süden positiv oder negativ einflussreicher war. Man ist geteilter Meinung, was eine Flut
von 68er Literatur auf den Markt gespült hat. Aber auf den meisten Podien – und egal welche noch so seriösen Institutionen –, ob bei der Bundeszentrale für politische Bildung, in den Bildungsakademien oder bei den parteinahen Stiftungen, kam man meistens zum Echojahr 1968 gänzlich ohne Frauen aus. Eine TV-Herrenrunde zu 68 ist mir insbesondere erinnerlich, weil in dieser der Spiegel-Kolumnist Jan Fleischhauer hochfahrend beklagte, überhaupt nur zwei Frauen aus der Frauenbewegung zu kennen: Gretchen Dutschke und Uschi Obermaier. Auch keinem der anderen Anwesenden fiel dabei auf, dass genau diese Herren es sind, die sich die Recherche über die 68erinnen und die Folgen für die Frauen und Männer schlicht ersparen. Und dennoch gelten sie als Experten.
Wie anno 1968 wird auch 50 Jahre später beim Bedenken von Männern der Frauen gedacht, wie von lieb gewordenen Abwesenden, mit denen man aber offenbar genau so wenig zu tun haben möchte, wie mit Verwandten, denen man zu runden Geburtstagen jedoch gratuliert, um beim Nachlass wieder mit erben zu können.
Tomaterei...
Das, was sich Helke Sander vor 50 Jahren erlaubte zu tun: nämlich zu den Genossinnen und Genossen des 23. SDS-Delegiertenkongresses direkt zu sprechen, hatte die 68er schon damals sprachlos gemacht. Helke Sander ist mit ihrer sogenannten Tomatenrede in die Demokratiegeschichte Deutschlands eingegangen. Wie bekannt, ist diese Rede wegen der Tomaten, die Sigrid Rüger warf, zur „Tomatenrede“ geworden. Sie konnte das Schweigen nach Helke Sanders Rede und dann das darauf einsetzende „revolutionäre Geschwafel“ ihrer SDS-Genossen nicht mehr ertragen, wie sie mir, in den frühen 80er Jahren, danach befragt (1), erklärte.
Helke Sander ging es vor allem darum, die marxistische Beruhigung, Frauen auf das permanente „revolutionäre Danach“ zu vertrösten, nicht mehr hinzunehmen. Sigrid Rüger, hochschwanger, hatte keine Zeit mehr, als „Nebenwiderspruch“ theoretisch den Genossen zuzuarbeiten. Die Ignoranz, sprich Nichtbefassung der SDS-Männer mit Helke Sanders Rede demonstrierte, wie wenig emanzipatorischer Verlass auf sie war, wenn es ‚nur‘ um Frauen ging. Der Respekt, den Sigrid Rüger durch die Tomatenwürfe erreichte, aufzuhören mit dem Weitermachen wie bisher, gereichte der überhörten Rede von Helke Sander zum unerhörten Erfolg. Helke Sander machte ernst mit einer Gesellschaftskritik, die von nun ab als Feminismus die Frauen vor allem ermunterte, sich in alle tabuisierten Räume des Überdenkens und Raumnehmens zu bewegen.
Die Neue Frauenbewegung griff im wahrsten Sinne des Wortes um sich, denn Frauen überall ergriffen beinahe über Nacht die Initiative, für sich selber aktiv zu werden. Stichworte: Kinderläden, Theorie-Arbeitskreise zwecks Änderung der Praxis gegen jegliche sexistische Unterordnung durch Religion / Staat, Gewalt, §218, Mütterdiskriminierung, Zwangsheterosexualität und gegen Benachteiligungen in Bildung für Mädchen und frauendiskriminierende Entlohnung, früher Leichtlohngruppen, heute Gendergap.
Geschichtsverfälschung
Oberflächlicher Journalismus diktiert zu oft eine oberflächliche Geschichtsschreibung, die vom Abschreiben lebt und erst sehr viel später sich durch eine kritische Geschichtsaufarbeitung wieder der Realität annähert. Durch ständige Wiederholungen wurde es nicht wahrer, aber das wohl berühmteste Beispiel an FAKE über die Frauenbewegung, bleibt das Verbrennen von Büstenhaltern, was niemals stattgefunden hat. Warum immer wieder dieses Beispiel? Oder das lila Latzhosenklischee? Man sollte wohl inhaltlich nicht weiter denken.
Valerie Solanas, mit ihrem „SCUM Manifest“ (Society for cutting up Men) ist ein anderes international wirkendes Schreckensbeispiel zwecks radikaler Verwirrung über die Frauenbewegung, der sie sich selber nicht zugerechnet hatte, obwohl sie allen Anlass zum feministischen Nachdenken gab. Diese Art von Geschichtsgebrauch diente einem Geschichtsverbrauch gegenüber der 2. Frauenbewegung, der die Erfahrungen der 1. Frauenwahlrechtsbewegung auf eigentümliche Weise wiederholen sollte. Immer wenn Frauen Rechte erreichten, kommt ein Backlash, der es den Frauen schwerer macht, ihre Rechte auch durchzusetzen.
Emanze wurde zum Schimpfwort, so dass bereits die Töchtergeneration der Feministinnen meinte, das F-Wort nicht mehr benutzen zu wollen. So zumindest schrieben immer wieder auch die sogenannten Qualitätsmedien. Wie das tiefenpsychologisch zu bewerten ist, überlasse ich Berufeneren. Nur eines ist sicher, wenn Frauen aufhören, ihre Frau zu stehen, dann fallen sie zurück. So erklärte eine Ronja von Rönne vor drei Jahren schlicht, sie fände den Feminismus eklig und sie bekam dafür Aufmerksamkeiten, die weit über das Pro und Contra in einer WELT-Debatte in Bezug auf den Netzfeminismus hinausgingen. Sie war aber nobel genug, den Axel-Springer-Preis dafür auszuschlagen: Sie sollte laut Jury als Nachwuchstalent, sprich als Heldin des Antifeminismus gefördert werden. Ihrer Karriere als Literatin hat es nicht geschadet, denn die Ökonomie der Aufmerksamkeit funktioniert genauso. Werbung gratis (2).
Diese Art von künstlicher Provokation, die einst als ein Instrument der Linken bestenfalls zur Aufklärung gemeint war, ist nun von den Rechten zwecks Reaktion adaptiert worden. Aufklärung ist deswegen ein Fall und im Fallen – und zum neuerlichen Nachdenken gegen verblödende Radikalität von allen Seiten aufgerufen. Wem Emanzipation nichts bedeutet, unterliegt immer den Antifeministen und vertut sich, darum zu bitten, emanzipiert sein zu dürfen. Die jahrelange F-Wort-Debatte, die den Feminismus zum Unwort erklärte, ist ein beredtes Beispiel des Antifeminismus. Es ist wie beim coming out, wer es nicht praktiziert, bleibt out. Bei den Lesben, Gays, Bisexuellen, Trans, Intersexuellen, Queer (LGBTIQ) ist es genau umgekehrt: Wer sich nicht outet, bleibt verschlossen im Schrank (coming out of the closet).
Intersektionalität
Um meinen Geschichtsalarm feministisch abzuschließen, kann ich den heute *sternchen-feministisch Agierenden meine Kritik an diesem Ort nicht ersparen. Die Neue Frauenbewegung, die seit 1968 als 2. Welle historisiert wird, hat
sich im Unterdrückungswiderstand von Klasse und Rasse, als Geschlecht feministisch gegen beide! Nebenwiderspruchsregelungen erheben und entwickeln müssen. Der Vorwurf der Intersektionalen, die meinen, dass die Feministinnen die Rassen- und Klassendiskriminierung nicht ernst genug genommen hätten, kennt die Geschichte der 68erinnen nicht. Ihren Kampf von damals gar als rechtes Einknicken gegenüber der weiter existierenden Klassen- und Rassendiskriminierung intersektional als unzureichend zu kritisieren, ist schlicht eine Geschichtsverfälschung und unsolidarisch den Frauen gegenüber, damals wie heute, die den Kampf für ihre Rechte führen müssen. Wie kommt es, dass die sexistische Gewalt gegen Frauen, gerade weil sie nicht ethnifizierbar ist, nicht überall gleich kritisiert werden sollte? Wenn das rassistisch ist, sind wir Feministinnen wieder auf ZERO zurück deklassiert. Haben wir nicht ‚unsere' christliche Kultur wegen ihres Demutdiktats für Frauen kritisieren müssen? Darf die katholische Kirche ein Hochamt der Moral zelebrieren, wenn sie die Homosexualität verteufelt, um sich nebenbei auf Kosten von abhängigen Kindern teuflischgut zu amüsieren?
Ist es feministisch, wie es im intersektionalen Diskurs geschieht, andere Kulturen und deren Religionen wegen ihres Demutdiktats gegenüber Frauen zu verschonen? Und ich meine alle durch den Feminismus noch nicht zivilisierten Religionen, so als ob es legitim sei, diesen wegen unseres ‚dekadenten‘ Westfeminismus zu erlauben, ihren Frauen die universellen Menschenrechte zu verweigern? Warum versagt die intersektionale Solidarität, wenn es um Frauen geht, die gegen die Verschleierung aufbegehren? Wo bleibt die Unterstützung der intersektionalen Feministinnen für die Frauen, die sich gegen ihre sie unterdrückenden Kulturen erheben? Warum finden in den links-feministischen Medien Frauen, wie Seyran Ateş, Safeta Obhodjas, Necla Kelek und alle Ex-Muslimas weltweit, und wie Ayaan Hirsi Ali, als erster Fall weltweit bekannt, keine feministische Unterstützung?
Mit Gendersternchen und einem dem entsprechenden *Sternchenfeminismus, sich vom Feminismus der zweiten Frauenbewegung abzusetzen, klingt so infantil-regressiv, wie dieser agiert und bietet der Attacke von rechts gegen Genderei, wie sie es nennen und Feminismus meinen, keinen Widerstand, da die intersektionale Verengung der Frauen bezüglich Klasse und Rasse sich selber vom religionskritischen Feminismus distanziert hat. Das ist meiner Meinung nach ihr ‚Sündenfall‘.
Dieser ‚Sündenfall‘ kommt die verfolgten Frauen in Scharia-Islam-diktierten Ländern teuer zu stehen. Obwohl die Gendersternchen den LGBTIQs positive Präsenz und Realität zugestehen, protestiert keine der sternchenbewussten Organisationen, wie z. B. das in Berlin durch das Gunda-Werner-Institut, die Heinrich-Böll-Stiftung und Hertie-Stiftung geförderte „Center for Intersectional Justice“ (CIJ), wenn es gegen die Verfolgung von LGBTIQs überall sonst auf der Welt geht und wo insbesondere der Islamismus gegenüber den LGBTIQs keine Gnade kennt. Das mag einer berechtigten Furcht vor rassistischen Ressentiments geschuldet sein und dennoch ist es antifeministisch und LGBTIQ-feindlich und nicht homophob, wie es sprachlich, nicht nachdenkend, verharmlost wird. Wenn Intersektionalität den feministischen Herausforderungen und den weltweiten LGBTIQ Misshandlungen nicht gerecht wird, wird ein Spiel mit Sternchen betrieben.
Außerhalb der Akademien bleibt die Rhetorik der Intersektionalität weitgehend unverständlich. Gleichzeitig beherrscht diese seit Jahren den Diskurs der gebildeten Schichten in Wissenschaft und Kunst und das weitreichend bis in die gehobene Administration hinein. Alle daran Beteiligten machen damit vor allem kenntlich, dass sie Studierte sind, und sich gemein machen in einer rhetorischen Überheblichkeit, die über eine performative Selbstbeschäftigung nicht hinaus kommt. Ihre Behauptung von Intersektionalität, d. h. die alte Klasse / Rasse/Geschlecht-Trias neu entdeckt zu haben, macht die fehlende solidarische Praxis wie zuvor beschrieben unzutreffend und führt zudem zur Geschichtsverfälschung. Allerdings mit erheblichen Folgen für das Geschichtsbewusstsein heutiger junger Frauen und Männer, die nach ihren Gender und Cultural Studies den 68erinnen Falsches vorhalten. Dazu gehört auch z. B. die Behauptung, sie hätten die Geschlechter essentialistisch stereotypisiert, wogegen sie fluide die Heteronormativität aufzulösen trachten. Hier wird der Kampf der Frauen aus der zweiten Frauenbewegung, das Schicksal der Geschlechter durch feministische Analyse zu verändern und der Zwangsheterosexualität abzuschwören, durch Gendersternchen umgewertet. Zum weiteren Missverständnis des Feminismus trägt bei, diesen als Generationenkonflikt entpolitisierend zu historisieren. Das entschärft die Debatte um die Desintegration der Frauen in den aktuellen antirassistischen und pro-sozialen Bewegungen, auf Kosten der Frauen. Wer nicht alarmiert ist, wenn – schlussendlich – die Religionsfreiheit höher geachtet wird als die Freiheit der Frauen, d. h. ohne Verschleierung gesund und sicher, d. h. ohne Gewalt und Zurechtweisung, selbstbestimmt leben zu können, trägt zum Abbruch des Aufbruchs der 68erinnen bei. Das möge nun Helke Sander, bitte noch einmal in ihrem Resümee nach 50 Jahren emanzipatorisch happy enden lassen.
DANKE!
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1 Veranstaltungsreihe in der SCHOKOFABRIK, Berlin-Kreuzberg, FEMINISTISCHE LEVITEN und FEMINISTISCHE REMINISZENZEN
2 „Warum mich der Feminismus anekelt“, April 2015
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Helke Sander
Resümee – 50 Jahre nach dem Tomatenwurf
Frankfurt am Main, 14. September 2018
Sehr geehrte Damen und Herren,
mein Resümee möchte ich mit einem Rückblick auf die Vorgeschichte der Rede von vor 50 Jahren beginnen.
Relativ zufällig war ich durch die Aufnahme in die 1966 neu gegründete Film-und Fernsehakademie Berlin auch mit einigen der wichtigeren Köpfe des damaligen SDS bekannt geworden. Ein Kommilitone nahm mich alle paar Wochen mit in eine Berliner Grunewaldvilla zu einem von den Freundinnen dieser Männer gut gekochten Essen. Ansonsten hörten wir ihnen zu. Das war normal. Die SDSler beeindruckten mich mit ihren Analysen zu allen möglichen Konflikten und brachten mich dazu, zum ersten Mal auch politischen Fragen Interesse abzugewinnen. Vorher war ich mit Fragen der Kunst befasst und hatte schon ein paar Jahre als Regisseurin in Finnland im Theater gearbeitet, bevor ich mich für Film entschied. Im Sommer 1967 trat ich in den SDS ein, in der Hoffnung, dadurch mehr und Genaueres über die für mich neuen Konflikte in Vietnam, über Pressemanipulation, Ausbeutung der Dritten Welt und den US-Imperialismus zu erfahren. Frauen mochten den SDS auch deswegen, weil sie dort eben nicht zum Tippen und Kaffeekochen herangezogen wurden, was fälschlicherweise immer wieder behauptet wird und was ich mir schon damals verbeten hätte. Die Konflikte lagen weitaus tiefer und wurden erst nach und nach bewusst.
Ich gehörte keiner der universitären Denkrichtungen an und hatte meist auch keine Ahnung, dass es so etwas überhaupt gab. Darum konnte ich sogar noch hochmütig anmerken, dass sie doch wohl Dr. Mabuse meinten, wenn die Studenten immer von Marcuse sprachen, von dem ich wiederum nichts wusste. Ich hatte auch all die anderen viel diskutierten Bücher nicht gelesen, schon deswegen, weil ich neben dem Studium voll arbeitete. Die Studentenbewegung war von Anfang an sehr heterogen. Was uns bei aller Verschiedenheit hauptsächlich zusammenhielt, war der Wunsch nach Beendigung des Vietnamkriegs. Die eigene Situation und die in der Luft liegende Verheißung, dass schlechte Verhältnisse veränderbar seien, brachten mich dazu, zuerst im Sommer 1967 im SDS-Zentrum eine Notiz an Frauen mit Kindern ans Schwarze Brett zu hängen, mit dem Vorschlag, sich zeitweilig reihum mit den Kindern zu helfen und das finnische System der „Parktanten“ einzuführen, um regelmäßiger an Veranstaltungen teilnehmen zu können. Der einzige Kommentar dazu kam von einem jungen Mann, der sich über die sich „zu Tode emanzipierenden Frauen“ lustig machte.
Im Dezember 1967 beschlossen Marianne Herzog und ich am Tag unseres Kennenlernens, nur an Frauen vor der Freien Universität in Berlin ein Flugblatt zu verteilen, in dem wir dazu aufforderten, die unerträgliche Situation, keine Kindergärten zu finden, selber zu lösen. Im Januar 1968 fand das erste Treffen mit ca. 100 Frauen, meist Müttern und einigen Männern statt und die ersten fünf Kinderläden in verschiedenen Stadteilen wurden mit den anwesenden Leuten geplant und auch bald umgesetzt. Kinderläden deswegen, weil damals viele Tante-Emma-Läden leer standen, billig waren und geeignet schienen. Wichtig war unsere vorbereitete Begründung: Wir Frauen würden die Ziele der Erziehung ab jetzt selber definieren. Die Arbeit hatten wir sowieso alleine. Dorothea Ridder (Mitbegründerin der Kommune 1, Medizinerin) steuerte das Black-Panther-Wort von den „Mittelstandsnegern“ bei, die wir Frauen nicht mehr sein wollten. Aufstieg und Anerkennung durch Anpassung, die wir mit diesem Begriff verbanden, lehnten wir ab. Aus diesem ersten Treffen entstand der „Aktionsrat zur Befreiung der Frauen“, der sich ab sofort wöchentlich im Republikanischen Club traf.
Dieses erste Treffen wirkte wie ein Urknall. Es war, als würde plötzlich ein Bann gebrochen, als wir bemerkten, dass wir selber, nur Frauen, dabei waren, ein soziales Problem zu analysieren und sofort an Ort und Stelle damit begannen, daraus Taten folgen zu lassen. Es fiel uns gewissermaßen wie Schuppen von den Augen, dass es so etwas in unserem Leben bisher nicht gegeben hatte: Dass Frauen gemeinsam beschließen, einen Missstand zu beheben, ohne vorher einen Mann um Rat gefragt zu haben. Die Männer ließen denn auch bald empört von sich hören und fühlten sich als Väter übergangen. Noch im Januar 1968 schrieben wir die ersten Flugblätter, mit denen wir uns an die in öffentlichen Einrichtungen arbeitenden Kindergärtnerinnen wandten, die diesen Beruf einmal gelernt hatten, weil sie Kinder gerne hatten und sich nun ungeheuer großen Gruppen gegenüber fanden, die nur autoritär überhaupt zu bändigen waren. Das Ziel, auf das wir uns sofort verständigen konnten, war, die öffentliche Erziehung neu und kinderfreundlich zu definieren: „Kleine Gruppen in der Nähe der Wohnung“, „Kindergärten statt Starfighter“.
Diese von Frauen erfundenen Kinderläden wurden bald zum Selbstläufer und der Studentenbewegung zugeschlagen. (Sie hatten einen vollkommen anderen Ursprung und andere Ziele als der gleichzeitig in Frankfurt entstandene psychoanalytische Kindergarten von Monika Seifert). Ausgehend von der Kinder-frage entstanden im Aktionsrat sofort Diskussionen zu den vielfältigsten anderen Problemen, die z. B. schon zum Vietnam-Kongress im Februar 1968
zu dem leider wirkungslos bleibendem Flugblatt führten, das wir an Männer verteilten: „Genossen, eure Veranstaltungen sind unerträglich“. Die Kritik bezog sich auf ein manipulatives Politikverständnis von Männern, die meinten, mit dem ritualisierten, stakkatohaften Ho Chi Minh-Geschrei ihrer gemeinsamen Ansicht zum Vietnam-Problem Ausdruck verleihen zu müssen. Es gab noch ein zweites Flugblatt zu dem Kongress, das aber von einer Frau weitgehend entsorgt wurde, zum Thema Ehe. Darin stand ungefähr: „...Wenn du schon heiraten willst, heirate den Erstbesten, denn einen besseren wirst du nicht finden.“ Dazu wurde noch zu einem Notpaket geraten, dass eine Frau immer zu Hause haben sollte: „1 Paar guter Schuhe, 20 Mark und eine Schachtel Pillen.“ Das Original, das ziemlich lustig war, ist nicht mehr auffindbar.
Als gefühlsmäßige Linke wussten wir schon, dass es in der Vergangenheit diverse, z. T. sich heftig bekämpfende Arbeiterbewegungen gegeben hatte. Dass dies auch auf frühere Frauenbewegungen zutraf, erfuhren wir meist
erst durch die Frauen im Aktionsrat, die Anfang der sechziger Jahre aus der DDR gekommen waren. Dort hatten sie in der Schule August Bebel „Die Frau und der Sozialismus“ gelesen und hatten von Clara Zetkins dogmatischen Kämpfen für die proletarische und gegen die bürgerliche Frauenbewegung zumindest gehört. Den meisten Westdeutschen und Westberlinerinnen war dies neu.
Relativ viele hatten Simone de Beauvoir „Das zweite Geschlecht“ gelesen und einige von Betty Friedan „Der Weiblichkeitswahn“. Beauvoir spielte allerdings anfangs kaum eine Rolle, weil sie die Reproduktionsfrage praktisch nicht thematisierte. Außerdem widersprach das Buch einem sich entwickelnden Gefühl bei den Frauen, die den Kindern nicht die Schuld an der Unterdrückung der Mütter geben wollten. Die meistens hatten gerne Kinder und bei allen Analysen über ihre vielen Benachteiligungen und Rechtlosigkeiten waren wir oft zum ersten Mal froh darüber, Frauen zu sein. Auf mich hatte Doris Lessing mit ihrem „Goldenen Notizbuch“, das es damals nur auf Englisch gab, mehr Einfluss. Seit 1965 hatte ich mehrere renommierte Verlage angeschrieben, mit der Bitte, das Buch übersetzen zu lassen. Das geschah aber erst 1976. Sie beschrieb darin ihr Leben als intellektuelle Frau in Afrika, als Mutter, als Kommunistin, als Künstlerin und als Liebhaberin und verknüpfte die sich aus diesem Gemenge ergebenden Probleme. Über Betty Friedan lernten wir, dass offenbar US-Amerikanerinnen sich schon länger mit Fragen befassten, die bei uns neu auftauchten.
Schon 1968 bekamen wir hin und wieder Post von Amerikanerinnen, die von uns gehört hatten und Genaueres wissen wollten. Wir sprachen meist nicht gut Englisch und darum war der Briefverkehr ziemlich unergiebig. Wir erfuhren von deren Tätigkeiten erst mehr ab 1969, durch einige Frauen, die die USA von eigenen Besuchen kannten, damals eine ungeheure Seltenheit. Wir erfuhren von anderen vergessenen Büchern über frühere Frauenbewegungen, was zu einer allgemeinen Lesewut führte. Wir waren fassungslos über die Erkenntnis, dass wir keine Ahnung über unsere eigene Geschichte hatten.
Hier muss ich unbedingt Hannelore Schröder erwähnen, die das Original der „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ von Olympe de Gouges in der Bibliothèque Nationale in Paris 1973 wiederentdeckte und dieses Dokument als erste seit 1793 ausgeliehen hatte!
Aber zurück zum Februar 1968. Wir baten einige Väter, den zum Vietnam-Kongress vom Aktionsrat geplanten Kindergarten zu betreuen, damit die Frauen auch die Veranstaltungen besuchen könnten. Die neu interessierten Väter nutzten die Gelegenheit, um den „Zentralrat der antiautoritären Kinderläden“ zu gründen. Sie besetzten alle Posten, definierten die Ziele neu, in denen die Frauen nicht mehr vorkamen (O-Ton: „Wir sind schon bei der Emanzipation des Menschen“) und äußerten sich dazu auch in der neugierig gewordenen Presse. Aufmerksamkeit bekamen wir vor allem von den internationalen Besuchern, weil wir in Europa die ersten waren, die als linke Frauen in Erscheinung traten. Mein Versuch, einen Film über die Ziele der neuen Frauenbewegung und die Kinderläden zu machen, wurde vom NDR abgelehnt mit der Begründung, dass ich ja selber eine Frau sei und daher nicht objektiv in dieser Frage sein könne. Filme darüber machte dann Gerhard Bott. Das war, nebenbei gesagt, der Anfang einer sich wiederholenden Ablehnungskette in den Fernsehanstalten, wo Frauen überhaupt Seltenheitswert hatten.
Die Kindergärtnerinnen gründeten inzwischen ihre eigenen, immer größer werdenden Gruppen ebenfalls im Republikanischen Club. Um sich die damalige Situation besser vorstellen zu können, will ich einige Zahlen zur Kinderversorgung nennen. Darauf, dass dies notwendig sein kann, brachte mich vor kurzem eine etwa 55jährige Professorin, die nicht wusste, dass der frauendiskriminierende § 1356 BGB erst 1976 abgeschafft wurde, der u. a. beinhaltete, dass Frauen die Erlaubnis eines Mannes brauchten, wenn sie berufstätig sein wollten oder seine Unterschrift, wenn sie einen Staubsauger auf Raten kaufen wollten. In Westberlin gab es laut Auskunft des Statistischen Bundesamtes 1968 173 Kinderkrippen für insgesamt 5.708 Kinder von 1–3 Jahren. In vielen hauptsächlich katholischen Städten, wie z. B. Fulda, gab es überhaupt keine Krippenplätze. 2018 gibt es in Gesamt-Berlin 174.000 Kita-Plätze und 1.921 Krippen (Quelle: Wilma Aden-Großmann). Dieser Mangel hielt tausende Frauen davon ab, berufstätig sein zu können, irgendwelche Perspektiven für sich zu entwickeln und brachte den Aktionsrat auch noch 1968 auf den Gedanken, einen groß angelegten Streik sämtlicher Berliner Kindergärten im Jahr darauf zu planen, um die öffentliche Erziehung zu verbessern. Die Botschaft sollte ankommen, dass Frauen auch ganz andere Saiten aufziehen und die Berliner Wirtschaft für einen Tag lahmlegen können, weil Eltern, Kindergärtnerinnen und UnterstützerInnen an diesem Tag zu Hause bleiben sollten.
Der Streik sollte in etwa die Wirkung amerikanischer Kriegsschiffe haben, wenn sie vor der nordkoreanischen Küste kreuzen. Das will ich hier nicht weiter ausführen, ich gehe in einigen Filmen von mir darauf ein. Das Fazit war, dass
wir durch die männliche Studentenbewegung keine Unterstützung erhielten. Sie waren vollkommen fixiert auf den männlichen Arbeiter. Da deutete sich schon das Wort „Gedöns“ für Frauenfragen an. Die Gewerkschaften, die sich kurz vor dem Streiktermin im Juni 1969 zuerst als Unterstützer geradezu anbiederten, nahmen dann den vielen hundert beteiligten Kindergärtnerinnen die Initiative aus der Hand und führten mehrere kleine, fast unbemerkt ablaufende Streiks in einzelnen Stadtteilen durch.
Das war in kurzer Zeit die zweite bittere Lehre über die Torpedierung unserer politischen Forderungen. Zuerst die Gründung des „Zentralrats der anti-autoritären Kinderläden“ durch die eigenen Männer und nun die Verhinderung des Streiks. Zusätzlich erkannten wir unsere damalige Naivität, Gutgläubigkeit und Unerfahrenheit. In den Liebesverhältnissen mit unseren meist linksorientierten Männern – und über andere Möglichkeiten des Liebeslebens wurde erst ab 1969 öffentlich vorsichtig gesprochen – begannen neue, vorher fast undenkbare kontroverse Diskussionen über männliche Politikstrategien, die dann wieder Thema im Aktionsrat wurden. Durch ihn hatten wir Rückenwind, vorher unterdrückte Zweifel an Handlungen und politischen Zielen der wortführenden Männer auszusprechen. Wir sehnten uns nach gemeinsamem Austausch. Manchmal gelang er, oft nicht. Wir stritten z. B. über den neu zum Helden gemachten Lenin, der die Zensur in der jungen Sowjetunion wieder einführte, die Kronstädter Matrosen massakrieren und die alte Geheimpolizei unter neuem Namen ihre Schrecknisse tätigen ließ. „Wo gehobelt wird, da fallen Späne“, war eine oft gehörte Reaktion. Später machten wir uns lustig über gewisse Versuche bekannter Wortführer, die an einer sogenannten Klassenanalyse arbeiteten, bei der sie noch die seltensten Berufsgruppen erfassten, aber Frauen und ihre Arbeit nicht mit einem Wort erwähnten.
Nach wie vor hielten wir aber die vor allem im SDS behandelten Themen für relevant. Wir wollten durchaus gemeinsam mit den Männern die Verhältnisse ändern. Aber meist erfuhren die Frauen, dass ihre Probleme erst nach einer erfolgten sozialistischen Revolution gelöst werden könnten. Vorerst seien wir ein „Nebenwiderspruch“. Das Thema habe zu warten. Was wir als Arroganz der Männer wahrnahmen, war vermutlich ihrer Denkfaulheit geschuldet. Über das Geschlechterverhältnis nachzudenken schien sehr viel komplizierter als über den Klassenkampf mit scheinbar klaren Gegnern. Das Nebulöse in unserem Verhältnis war ja das Problem. Wir konnten Männer lieben, deren Politik wir für falsch hielten. Wie auch immer, wo auch immer, immer waren wir als Familienmitglieder, Ehefrauen, Freundinnen bei den Männerkämpfen zwangsläufig dabei, ob einverstanden oder nicht. Frauen mussten dagegen völlig neue Strategien entwickeln, um etwas durchzusetzen.
Es gibt heute besonders in den USA Kontroversen zwischen schwarzen und weißen Frauen, wobei die Schwarzen den Weißen vorwerfen, Kolonialistinnen zu sein, darum kein Recht haben, sich Feministinnen zu nennen und die Weißen aus Scham nicht zu widersprechen wagen. Weißsein macht in deren Augen Frauen automatisch zu Tätern. Hier haben die besorgten Fragen der Weißen eindeutige Antworten der Schwarzen bekommen, was wiederum zum Begriff des „Rassismus der Antirassisten“ geführt hat. Jedenfalls fingen wir an, gemischten Arbeitsgruppen fern zu bleiben, weil sie intellektuell nichts brachten. Man frage mal heute einen politisch informierten Mann, was er über die Frauenbewegung weiß – und wird aus dem Staunen nicht herauskommen. Das Wort Emanzipation wurde höchst vorsichtig und unter Vorbehalt benutzt. Wollten wir uns hin zu den Männerverhältnissen emanzipieren? Wollten wir nicht vielmehr etwas anderes, noch nicht Bestimmbares? Das stand jedenfalls unbeantwortet immer auch im Raum.
In Berlin waren wir umgeben vom real existierenden Sozialismus. Hin und wieder erfuhren wir was vom guten Gesundheitswesen in der DDR oder von einzelnen Rechten, die die Frauen dort hatten und wir nicht. Dennoch waren
wir froh, dort nicht leben zu müssen. Eine ebenso vertiefende Beschäftigung mit der DDR wie mit Marx blieb in der Studentenbewegung aus. Im Fernsehen konnten wir sehen, dass der chinesische Volkskongress aus über 2000 ernsten Männern bestand. Bei Frauen hinterließ so ein Bild inzwischen Unruhe. Was vorher selbstverständlich war, verlor seine Konturen und gab Rätsel auf. Wenn ich von WIR rede, beziehe ich mich immer noch auf die Diskussionen der Frauen im Aktionsrat in den ersten Monaten.
Wir zerbrachen uns nun selber die Köpfe über die bestehenden Klassenverhältnisse, denen wir angehörten und machten uns zum ersten Mal gemeinsam klar, dass Frauen in allen Klassen nicht die gleichen Rechte hatten wie die Männer. Es ist heute schwer vorstellbar, dass das mal etwas Neues war. Dass die Männer in den ausgebeuteten Klassen und in der Dritten Welt auch unterdrückt waren, aber immer noch Frauen zum Draufhauen hatten, bekam Wichtigkeit. Neue Begriffe wie Patriarchat und Feminismus tauchten in unseren Diskussionen auf und wurden von vielen sozialistisch geschulten Männern und Frauen aufs heftigste bekämpft. „Patriarchat sei ein Begriff aus dem Feudalismus und nicht auf heutige Verhältnisse übertragbar“, hieß es. Ab und zu gab ein Mann seine Frau oder Freundin bei unseren Treffen ab, damit sie sich bei uns „emanzipiere“.
Nach einem halben Jahr Aktionsrat, waren die größten Räume zu klein, die Themen zu heterogen. Es gab eine große Sehnsucht nach Strukturen. Wir wurden geradezu wild nach Theorie. „Alle Kindergärtnerinnen wollen Marx lesen“ wurde zum Schlagwort. Auch ohne theoretische Kenntnisse wollten wir nicht auf einen Nebenwiderspruch reduziert werden, sondern eigene Erfahrungen und Fragen einbringen. Fragen, die uns umtrieben, waren z. B.: Wieweit sind wir, die wir nicht einmal alle Bürgerrechte in der bestehenden BRD haben, mit verantwortlich für die Unterdrückung und Ausbeutung in der Dritten Welt? Warum treten Frauen so häufig als Streikbrecherinnen in Streiks auf, die im Grunde auch von ihnen befürwortet werden? Welche Rolle spielt dabei die Sorge um die Kinder? Warum spielen diese Fragen bei den Männern keine Rolle? Sind wir gezwungen, uns zu Handlangern fremder Interessen zu machen, wenn wir ängstlich darum bemüht sind, Kinder in den Wohnungen nicht zu laut werden zu lassen? Wieweit tragen wir zur Ungerechtigkeit bei, ohne dies zu wollen und ohne über die Macht, das Wissen und die Mittel zu verfügen, dies ändern oder sogar erkennen zu können? Und helfen die sozialistischen Theorien, in denen Frauen und Kinder nur als „Nebenwiderspruch“ auftauchen, diese Mängel zu beheben?
Wir Initiatorinnen waren überfordert und auch nicht schlauer als der Rest. Wir wollten ja keine Politikerinnen werden. Ich z. B. wollte mir die Voraussetzungen schaffen, überhaupt meinem Beruf nachgehen zu können und z. B. als alleinerziehende Frau einen Mietvertrag abzuschließen – damals fast eine Unmöglichkeit und mein Grund, in einer Kommune zu landen. Daraus entstand der Gedanke, Hilfe beim SDS zu holen, aber es sollte nicht nach einem Hilfeschrei aussehen. Die Wortführer waren wie schon gesagt, nicht bewusst frauenfeindlich wie in anderen Organisationen. Sie folgten nur falschen Strategien, wie viele von uns fanden. Lehrlinge für die neue Arbeiterbewegung auszubilden, schienen mir und einigen anderen Frauen einem altmodischen Konzept zu folgen. Kurz, der Gedanke kam auf: Männer sollten unserem Ansatz folgen, bei Frauen und Kindern ansetzen und sie sollten das theoretisch begründen.
Ich ging damals davon aus, dass es im ureigensten Interesse des SDS liegen müsste, diese Theoriemängel zu beseitigen, die ja auch ihnen nicht entgangen sein dürften. Dazu würden wir, die Frauen, die Strategie liefern und
die Männer die Theorie. Das war hochgradig naiv von mir, aber das merkte ich erst hinterher. Ich trug das im Aktionsrat vor und sie sagten: „Ja, mach mal.“
Wie es dazu kam, dass ich überhaupt einen Delegiertenplatz erhielt und warum die Tomaten flogen, habe ich mehrfach erzählt und u.a. in meinem Film „der subjektive faktor“ behandelt. Jedenfalls war die Wirkung der Rede enorm, wenn auch anders als von mir erwartet.
Sigrid Rüger, damals studentische Vertreterin im Akademischen Senat der FU Berlin setzte im Vorfeld durch, dass ich einen Redeplatz bekam, auch wenn sie damals nicht davon überzeugt war, dass Frauen sich selber organisieren müssen. Sie begründete ihren Einsatz mit Rosa Luxemburg und der „Freiheit der Andersdenkenden“. „Sonst komme ich mit Buttersäure“, drohte sie noch im damals üblichen harschen Ton.
Diese Sigrid, hochschwanger mit roten Haaren und grünem Kleid, kaufte in der Mittagspause nach meiner Rede in einem mitgebrachten Netz ein Kilo damals noch so genannter weicher Suppentomaten für 70 Pfennig das Kilo. Sie verlangte eine Diskussion meiner Rede, bevor zur Tagesordnung und zum Hauptreferat übergegangen werden könne und warf mit den Worten „Sonst seid ihr genauso reaktionär wie die, die ihr bekämpft“ eine Tomate nach der anderen Richtung Podium. Die Folgen sind bekannt.
Noch während des Nachmittags schrieben die anwesenden SDS-Frauen eine Resolution, die praktische Forderungen nach besserer Beteiligung in den Gremien des SDS enthielt und sie versuchten sich in dem Spagat, sich einerseits gegen die überall anzutreffende Vormacht der Männer zu wehren, die diese Vormacht für eine Selbstverständlichkeit hielten und andererseits Gerechtigkeit walten zu lassen, indem sie analysierten, dass auch Männer im Kapitalismus nur arme Würstchen seien und mit der Unterdrückung der Frauen fremden Interessen dienen. Es gründeten sich als Reaktion sofort in allen Universitätsstädten der damaligen BRD neue Frauengruppen, von denen die Frankfurterinnen schon bald mit berühmt gewordenen Flugblättern auf sich aufmerksam machten. Wie ging es danach weiter? Die folgenden Jahre sind hochinteressant für Leute, die wissen wollen, wie Bewegungen entstehen, sich verändern, versimpeln,
sich bekämpfen, an den Rändern sektenartig ausfransen oder untergehen.
Waren im Aktionsrat die ersten Frauen, die kamen, meist junge, dem SDS nahestehende und z. T. berufstätige Mütter, die auch als solche in den ersten Flugblättern angesprochen wurden, waren die neu hinzugekommenen Frauen meist jünger und kinderlos. Mehr als noch ein dreiviertel Jahr zuvor, nahmen schon einige die Pille. Im Jahr 1970 waren es ca. 7 % der Frauen zwischen 18 und 44 Jahren – was das Nachdenken über Sexualität zu einer öffentlich diskutierten Angelegenheit machte. Es wurde nicht nur in den bestehenden Frauengruppen ein Thema, sondern schon vorher z. B. in dem Film „Helga, vom Werden des menschlichen Lebens“ von 1967. Dieser Film wurde im Auftrag der SPD-Gesundheitsministerin Käte Strobel produziert und hatte weltweit über 40 Millionen Zuschauer. Oder man denke an die Filme von Oswald Kolle, wie „Deine Frau, das unbekannte Wesen“ (1969) und „Dein Mann, das unbekannte Wesen“ (1970).
Es gab endlose Debatten in der Presse über das Für und Wider der Pille. Sie befasste sich besonders mit der Wirkung der Pille auf die Sexualität und vor allem auf das Selbstbewusstsein der Männer und nicht damit, dass eine Frau ein Medikament mit starken Nebenwirkungen nehmen musste, um ohne Angst vor Schwangerschaft mit einem Mann schlafen zu können. Jedenfalls entdeckten Frauen in diesen gedrängt vollen Jahren auch ihr eigenes Begehren und sie redeten wahrscheinlich zum ersten Mal in der geschriebenen Geschichte gemeinsam darüber. Nicht nur die Männer experimentierten sexuell herum, auch die Frauen taten das mit gleicher Leidenschaft und dehnten ihre bekannten Grenzen aus. Sie schulten sich in Sexualität, lernten, sich zu äußern, lernten zu unterscheiden und machten dabei gute und schlechte und vor allem neue Erfahrungen, die kollektiv besprochen wurden. Das große Verdienst der neuen #MeToo-Debatte ist es, auf die Selbstverständlichkeit hinzuweisen, mit der Frauen immer noch als Objekte zur sexuellen Verfügung definiert werden. Etwas zu kurz kommt der Aspekt, dass sich Frauen auch freiwillig aus den verschiedensten Gründen auf Situationen einlassen können, die sie nicht mehr steuern können.
Die Gewalt, der Frauen in manchen afrikanischen oder asiatischen Ländern ausgesetzt sind, die nicht nur vergewaltigt, sondern verstümmelt und niedergemetzelt werden, kommt ebenfalls zu kurz.
Die sexuellen Experimente hatten jedenfalls unmittelbare Auswirkungen auf die bestehenden Ehen oder Liebesbeziehungen. Die Leute versuchten das neu Gelernte anzuwenden. Sie wollten Eifersucht überwinden, Scheidungen erleichtern, Mehrfachbeziehungen zulassen, Liebe und Lust trennen, Patchworkfamilien und neue Wohnformen propagieren und das alles in Einklang mit den Bedürfnissen von Kindern nach Stabilität und Lokalität zu bringen, was bis heute keine brauchbaren Lösungen zutage gebracht hat. Die Frauenbewegung hat zwar vielen einzelnen zu mehr Freiheit und Selbstbewusstsein verholfen, aber auch dazu beigetragen, die schon existierenden Probleme der bürgerlichen Ehe zu verschärfen. Die geltenden Formen der Ehe beruhten bis vor Kurzem auch hier noch darauf, dass Frauen jungfräulich in den Besitz des Mannes übergingen, rechtlich ihm unterworfen waren, seine Arbeitskraft vermehrten, sein Ansehen durch Söhne zu vergrößern hatten und bei Ungehorsam oder Untreue je nach Land und Gesetz geschieden, verstoßen oder getötet werden konnten. Aus eigener Anschauung kennen wir diese alten Verhältnisse inzwischen aus türkischen und arabischen Familien.
Aber, wie schon gesagt, in den westlichen kapitalistischen Ländern haben wir Frauen von den Gesetzesänderungen profitiert, die wir mit angestoßen haben. Es gibt aber eine Kehrseite, die immer deutlicher wird:
Zwar heiraten die meisten noch. Statt gegenseitiger Verpflichtung wird jetzt auf Liebe gesetzt, von der wir wissen, wie fragil sie ist. Viele Frauen bekommen keine Kinder mehr, viele bekommen sie später und weniger zahlreich, was auch heißt, dass es mehr Einsamkeit im Alter gibt, weniger Familienbande durch Geschwister, Cousins und Cousinen oder Großeltern. Und ob die alternativ gepflegten Freundschaften, die die alten Familienbande ersetzen sollen, dies schon verlässlich tun, ist fraglich. Die Voraussetzung der Ehe war die Treue der Frau. Davon kann heute nicht mehr ausgegangen werden. Im Prinzip galt das gegenseitig, aber faktisch nie für den Mann.
Da, wo die Ehen noch zu funktionieren scheinen, gehen die Männer in den Puff. Ausnahmen gibt es immer. Verschiedene Statistiken schätzen, dass in Deutschland täglich eine Million Männer Prostituierte besuchen. In der BRD leben ca. 39 Millionen Männer. Ziehen wir die ganz jungen und ganz Alten ab, bleiben ca. 30 Millionen übrig, d. h. statistisch gesehen geht jeder Mann, meist ein Ehemann, einmal im Monat zu einer Prostituierten.
Deutschland ist heute zu dem Umschlagplatz für Mädchen- und Frauenhandel geworden, die Verhältnisse sind sehr viel brutaler als sie es je waren. Noch nie gab es so viele junge Mädchen, die in die Prostitution gezwungen wurden, hauptsächlich aus Osteuropa.
Die Organisationen Terre des Femmes und Sisters gehen in Deutschland diesen permanent stattfindenden Menschenrechtsverletzungen nach. Politik geht nach wie vor über den Körper der Frauen, dies ist aber nur ungenügend Gegenstand der Politik. Interessant ist, dass sich der einzelne Mann, der sich sonst zu allem äußert, zu diesem Problem praktisch nichts sagt, sondern höchstens spaßhaft auf den ältesten Beruf der Welt verweist, womit er auch Unrecht hat. Denn der älteste Beruf dürfte der der Hebamme sein.
Für Frauen galt und vielfach gilt das Keuschheitsgebot, Männer hatten spätestens seit den alten Griechen als symbiotischen Zwilling die Prostitution auf ihrer Seite. Ehe und Prostitution gehören seit mindestens 3000 Jahren zusammen. Besonders streng wird auf die Jungfräulichkeit der hier lebenden Türkinnen und Araberinnen geachtet. Das größte Berliner Bordell ARTEMIS, das nach Erkundigungen von Türken geführt wird, soll zu 90 % von türkischen Männern besucht werden, wie durch verschiedene Webseiten dokumentiert. Die Hell’s Angels haben oder hatten nach verschiedenen Pressemitteilungen freien Eintritt.
Ich kenne nur ein Beispiel aus der Mitte der achtziger Jahre, bei dem Männer als Männer sich politisch zu Verbrechen an Frauen und Kindern äußern wollten. Das „Komitee für Grundrechte und Demokratie“ hatte einen Kongress
in Köln über sexuelle Gewalt mit einer Männer- und einer Frauenjury veranstaltet. Die Männerjury fasste am Ende den Entschluss, auf dem Frankfurter Flughafen vor den Abflugschaltern der sogenannten „Bums-Bomber“ nach Thailand und Kenia zu demonstrieren. Zum ersten Mal wollten sie sich als sexuelle Wesen an andere Männer wenden, um sie mit ihrem Verhalten öffentlich zu konfrontieren. Das wurde der Presse mitgeteilt und sehr beklatscht von den Frauen. Aber – die Aktion fand nicht statt. Auf meine wiederholten Anfragen bei der Organisation bekam ich keine Antwort. Auch diese teilweise durch die Pille ausgelösten Probleme vergrößerten ab 1969 die chaotischen Zustände in allen Gruppen. Anders als 2–3 Jahre zuvor, fanden die Gruppen nicht mehr zusammen, weil gemeinsame Fragen sie bewegten, sondern eher, weil sie sich nach einfacheren Antworten sehnten.
Ab 1969 entstanden nicht nur die ML/Gruppen, die Marxisten/ Leninisten, die KPD/ AO (Aufbau-Organisation), die Kontakte mit den schlimmsten politischen Verbrechern in Albanien, Korea u.ä. Staaten pflegten. Zu meinem Erschrecken waren einige der Wortführer die jungen Männer, die ich 1966 als intelligente, lustige und kritische Intellektuelle kennengelernt hatte. Außerdem gab es die „umherschweifenden Haschrebellen“, die Hare-Krishna-Jünger, die Sannyasins, Hippies, Urschrei-Gruppen und nicht zuletzt die RAF, um nur einige zu nennen. Zu all diesen Gemeinschaften gehörten auch Frauen. Zur RAF und der Organisation „2. Juni“ wechselten leider gar nicht wenige Frauen aus dem Aktionsrat. Dort begann die Zersplitterung mit dessen so genannter „feindlicher Übernahme“ 1969 durch eine Gruppe um Frigga Haug, aus der dann der „Sozialistische Frauenbund Westberlin“ hervorging. Diese Gruppe wollte das Chaos im Aktionsrat beenden, indem sie strenge Schulungen verordnete und zurückgriff auf die alten klassenkämpferischen aber engen Auseinandersetzungen zwischen Clara Zetkin und der sogenannten bürgerlichen Frauenbewegung am Anfang des 20. Jahrhunderts.
Der „Frauenbund“ prägte damals den Begriff des „Durchlauferhitzers“. Frauen sollten sich eine Zeit lang in reinen Frauengruppen schulen, um sich dann mit einer neuen Sicherheit im Auftreten und des Wissens zusammen mit den Männern, die immer noch zuständig für die richtige und spannendere Art von Politik gehalten wurden, für eine sozialistische Gesellschaft engagieren
zu können.
Das war ein Grund für feministisch gesinnte Frauen, den alten Aktionsrat zu verlassen und sich in kleinere Gruppen aufzulösen. Andere schätzen die neue Rigidität, weil sie Ordnung versprach statt Anarchismus. Allerdings hatte die Theorie vom Durchlauferhitzer durchaus Erfolg. Frauen trauten sich jetzt etwas. Sie wollten hochmotiviert bei der „richtigen“ Politik mitmachen, in der RAF, bei der Guerilla in den Städten. Sie wollten tapferer sein, gerissener und durchsetzungsfähiger als die Männer und nicht bei „Kinder, Küche, Kirche“ versauern, wie man hören konnte, als die Kinder von Ulrike Meinhof entführt wurden. Damals gingen viele Freundschaften in die Brüche. Die zur RAF wechselnden Frauen wurden gewissermaßen wie die Männer autistisch und keinerlei Argumenten mehr zugänglich. In abgeschwächter Form spielte dieses Verlangen, bei den Machern dabei sein zu wollen, überall eine gewichtige Rolle. Die alte Theorie vom „Nebenwiderspruch“ hatte ihre Macht nicht aufgegeben.
In diese anhaltende und nervenaufreibende Gemengelage kam die Paragraph-218-Kampagne von Alice Schwarzer 1971 geradezu wie gerufen, weil sie die Frauengruppen zu einem unmittelbar einleuchtenden, gemeinsamen und praktischen Projekt vereinigen konnte – wenn sie auch für die Stern-Umfrage nicht gefragt worden waren. Die Kampagne stützte sich anfangs vollkommen auf die schon existierenden Frauengruppen und beendete wenigstens vorläufig die Zankereien um die richtige Theorie. Sie erschloss ganz neue Bevölkerungsschichten, weil fast alle Frauen mit dem Thema auf die eine oder andere Weise schon Erfahrungen gesammelt hatten. Nahezu ausnahmslos setzten sich die Frauen für die ersatzlose Streichung des Paragraphen ein, was sich in unglaublich vielen Demonstrationen, Aufklärungsbroschüren, Flugblättern, Abtreibungssprechstunden, kollektiven Kirchenaustritten ausdrückte und allmählich auch den schon existierenden Parteien eine engagiertere Frauenpolitik bescherte. Dennoch sieht der Paragraph bis heute Strafen vor und kriminalisiert nach Paragraph 219a Ärztinnen, die über die Bedingungen aufklären. Während die Zeitschrift „Frauen und Film“ z. B. schon 1975 eine Quotierung forderte, damals „Geschlechterparität in den Gremien“ genannt, fasste z. B. die SPD erst 1988 einen solchen Entschluss. Und die Forderung nach ausreichenden Kindergärten führte erst geschlagene 50 Jahre später zu einem allgemeinen Anspruch auf einen Platz.
Zum ersten Mal nahm auch die Presse von der Frauenbewegung wirklich Notiz, allerdings nicht zu ihrer Vielfältigkeit. Sie griff begierig auf, was bald als Männerfeindlichkeit der Frauenbewegung heiß diskutiert wurde. Dies nahm seinen Anfang mit Alice Schwarzers Bestseller: „Der kleine Unterschied und seine großen Folgen“.
Das Buch thematisierte Gewalterfahrungen im Bett mit Männern und führte zu langen Auseinandersetzungen über Penetration und den vaginalen Orgasmus und schien alle anderen Probleme eine Zeit lang vollkommen zu überlagern. Das machte Alice Schwarzer einerseits zu einem Star der sich vergrößernden Frauenbewegung und andererseits zum Hassobjekt fast der gesamten bundesrepublikanischen Presse mit heute fast unvorstellbaren Ausfällen gegen ihre persönliche Integrität. Gleichzeitig vergrößerte dies aber auch die Schwierigkeiten, sich mit ihr über konträre Fragen auseinanderzusetzen, weil man nicht auch noch auf sie einschlagen wollte und es keine Medien gab, die für solche Auseinandersetzungen zur Verfügung standen. Dazu verfestigte sich der Eindruck in der Öffentlichkeit, dass die Frauenbewegung sich ausschließlich mit Fragen der Sexualität und dem Geschlechterverhältnis befasse. Noch im Jahr 2004 zeigte das Haus der Geschichte in Bonn sehr aufwendig in Filmen, Videos und Installationen die Geschichte der „männlichen“ Studentenbewegung und klein daneben stand ein Glaskasten mit Objekten zur Frauenbewegung. Darin lagen ein paar Hefte der EMMA, eine lila Latzhose und 1 CD mit Frauenliedern.
Die alten Gruppen entwickelten die Fragen aus der Paragraph-218-Kampagne weiter. Sie erforschten die Geschichte der Pille, die an Frauen der Dritten Welt ausprobiert wurden und untersuchten die Nebenwirkungen, sie fanden heraus, dass es schon seit Jahrzehnten schonende Abtreibungsmethoden gab, die nicht angewandt wurden, sie organisierten die Fahrten nach Holland, wo es liberalere Abtreibungsgesetze gab, gründeten Frauengesundheitszentren und stellten Fragen nach der sexuellen Kultur.
Es wurde überhaupt in den Siebzigern bis weit in die achtziger Jahre hinein dauernd Neues von Frauen gegründet. Die Lesbenbewegung entstand bundesweit. Außerdem unendlich viele kollektiv organisierte Projekte, Frauenhäuser gegen sexuelle Gewalt, Frauenzentren, Frauenkneipen, Verlage, Theater, Filmkollektive. Es entstanden neue Themenschwerpunkte an den Universitäten, die Sprache wurde auf ihre männlich geprägte Dominanz untersucht (mit heute z. T. grotesken Forderungen), mehr Frauen strebten in sogenannte Männerberufe, wo sie bis heute daran arbeiten, ihre Bedingungen zu verbessern. In den Behörden wurden Frauenbeauftragte eingestellt. Es veränderte sich das Straßenbild. Zum ersten Mal konnten Männer mit Kinderwagen auf den Straßen oder mit Kindern in Brustbeuteln gesichtet werden, in neuen Männergruppen wurde gestrickt, die Bürgersteige an den Rändern abgeflacht, in den Straßenbahnen und Bussen wurde allmählich das Einsteigen mit Kinderwagen und Rollstühlen erleichtert, Frauen gingen allein in Kneipen.
Es kamen in den siebziger Jahren nicht nur viele neue Frauen hinzu, sondern es blieben auch viele aus den ersten Jahren weg, was nicht nur dem Älterwerden und den Zeitproblemen geschuldet war, sondern auch einer um sich greifenden Versimpelung vieler nach wie vor unbeantworteter Fragen und der Reduzierung vieler Probleme auf die Schlechtigkeit der Männer, jedenfalls in der öffentlichen Wahrnehmung. Das nahm z. T. groteske Züge an, wie z. B., dass die feministische Zeitschrift „Frauen und Film“ in manchen Frauenbuchläden nicht verkauft wurde, weil sie in einem Männerverlag, bei Rotbuch, erschien oder dass Frauen mit männlichen Säuglingen hier und da der Zutritt zu ihren Gruppen verboten wurde. Das waren zwar Einzelfälle, sie konnten aber für die Einzelnen schwerwiegende Folgen haben. Solche Vorkommnisse griff dann auch die Presse begierig auf. Das wiederum führte Jahre später dazu, dass viele Frauen, die nach wie vor gerne mit Männern lebten, sich von der Frauenbewegung distanzierten. „Ich bin aber keine Feministin“, wurde von manchen Frauen als Gütesiegel und Garantie ihrer Unbestechlichkeit benutzt. Anders als in den USA z. B. taten sich leider besonders deutsche intellektuelle Frauen damit hervor.
Die Frauenbewegung war spätestens Ende der siebziger Jahre da angekommen, was auch schon den Arbeiterbewegungen passiert war. Sie zersplitterte sich in unglaublich viele sich oft bekämpfende Initiativen. Die fast einzige Gruppe, die über Jahre versuchte, alte Fragen nicht aus den Augen zu verlieren, war
das Frauenforum München mit ihrer Leitfrau Hannelore Mabry. Während die Kinderfrage mehr und mehr aus der allgemeinen Diskussion herausfiel, machte Mabry dies zur Hauptfrage und gründete die Zeitschrift „Der Feminist“, weil
sie die Frauenbewegung als politische Bewegung definierte, deren Ziele auch von Männern geteilt werden können und sollten. Die Gruppe arbeitete ausgehend von marxistischen Überlegungen zur Beendigung von Ausbeutung und Unterdrückung aller an einem Programm, das die Kinder in den Mittelpunkt stellte. Das wurde vom größten Teil der Frauenbewegung nicht zur Kenntnis genommen und von allen anderen erst recht nicht. Es gab schlimme handgreifliche Rüpeleien bei den Auftritten dieser Gruppe von allen Seiten.
Heute gibt es dazu von Seiten der Genderbewegten so gut wie gar nichts. Dabei wäre es notwendiger denn je. Nach Schätzungen des Kinderschutzbundes sind über 4,4 Millionen Kinder in Deutschland von Armut betroffen. 700.000 bekommen Geld von den Unterhaltsvorschusskassen. Das sind die Kinder, für die normalerweise die Väter nicht zahlen. Darum spreche ich von Frauen, von Frauen mit Menstruationshintergrund. Mabry hatte nach langen Jahren als Schauspielerin Soziologie studiert und 1972 ihre Diplomarbeit „Unkraut ins Parlament“ veröffentlicht, über die weiblichen Abgeordneten des Bayerischen Landtages von 1946–1970. Damit nahm sie Bezug auf einen Ausspruch des CSU-Landtagspräsidenten Michael Horlacher: „Als Einzelne wirkt die Frau wie eine Blume im Parlament, aber in der Masse wie Unkraut.“ Die Unterhaltsvorschusskassen wurden vom „Verband alleinerziehender Mütter und Väter“ gegründet, der auf Luise Schöffel zurückgeht, die 1967 den Verband lediger Mütter gründete. Heute vertritt der Verband 2,7 Millionen Einelternfamilien. Das Gefühl, dass Frauen grundsätzliche Fragen aufwerfen, verlor sich in der Öffentlichkeit häufig. Die Geschichten, die über die Frauenbewegung kursierten, würdigten ja nicht die vielfältigen Arbeiten und Auseinandersetzungen, sondern griffen gerne besonders absurde Fehlentwicklungen auf, die es natürlich auch
in der Frauenbewegung gab.
Bis auf Ausnahmen gab es keine Kontinuität in den Debatten, die ähnlich wie bei Männern eine öffentliche Aufmerksamkeit garantierten. Nach zehn Jahren Frauenbewegung wussten die meisten schon nicht mehr, was am Anfang diskutiert wurde, obwohl die Fragestellungen durchaus im feministischen Untergrund weiter behandelt wurden. Es gab keine Zeitschriften, die die ganze Heterogenität abgebildet hätten. Das möchte ich an zwei Beispielen erläutern.
Christina Thürmer-Rohr, die Anfang der siebziger Jahre zur Frauenbewegung kam, wandte sich ab ca.1983 gegen eine stark ausgeprägte Tendenz, Frauen nur noch als Opfer von Verhältnissen zu sehen. Sie prägte den Begriff der Mittäterschaft und griff damit Fragen auf, die zwar schon 1968 thematisiert worden waren, aber inzwischen in Vergessenheit geraten waren. Während die Presse die Öffentlichkeit über Latzhosen, Lesben, Jammerfrauen, Männerfeindschaft auf dem Laufenden hielt, analysierte Thürmer-Rohr, dass Frauen nicht nur unterdrückt sind, sondern auch Privilegien haben und davon profitieren können, wenn sie den Theorien und Handlungen der Männer folgen und von ihnen anerkannt werden. Sie machte das in sehr eindrucksvoller Weise besonders an KZ-Wächterinnen deutlich.
Ein weiteres Beispiel: 1974 brachte die Bundesregierung Vertreter von „gesellschaftlich relevanten Gruppen“ zusammen, um über das für 1975 weltweit geplante „Jahr der Frau“ diskutieren zu lassen. Ich war als einzige Vertreterin der neuen Frauenbewegung auch eingeladen. Das kritisierte ich, weil schon damals die Frauenbewegung sehr heterogen war. Aber als Vertreterin der Gruppe „Brot und Rosen“ brachte ich einen Vorschlag ein, den wir im „Frauenhandbuch Nr.1 über Abtreibung und Verhütung“, 2. Auflage mit immerhin 30.000 Exemplaren, gefordert hatten. Wir verlangten von der Regierung die Einsetzung einer Forschungsgruppe zu der von uns so genannten Forderung nach „gesellschaftlicher Versorgung der Kinder“, was heute mit „Kindergrundsicherung“ bezeichnet wird.
Unsere Gruppe bestand aus 4 Künstlerinnen, 2 Ärztinnen, 1 Physiotherapeutin, 1 Kneipenwirtin, 1 Psychologin und 2 Studentinnen.
Wir waren zwar in der Lage ein brauchbares Buch zu schreiben, hatten aber keine Ahnung, wie so ein Antrag „Kinderversorgung“ dem Bundesministerium vorgelegt werden musste. Wir hielten die zwei Sätze zur Erklärung dieser Forderung für ausreichend und wunderten uns, dass wir nie eine Antwort bekamen. Dazu kam, dass das Vorhaben „Grundsicherung für Kinder“ als total hirnrissig empfunden wurde. Dennoch gab es immer wieder Kampagnen, die es kurzfristig in die Öffentlichkeit schafften. „Lohn für Hausarbeit“, wurde hauptsächlich in akademischen Kreisen diskutiert und krankte daran, dass die Reproduktionsfrage mehr oder weniger außer Acht gelassen wurde. Ein anderes Beispiel war die Diskussion über die Wehrpflicht von Frauen. Alice Schwarzer setzte sich mit EMMA sehr dafür ein und betonte den Gleichberechtigungsfaktor, während die Gegnerinnen dieser Forderung damit argumentierten, dass die Diskriminierung auch Freiräume für Frauen geschaffen hatte, die neue Denkmöglichkeiten eröffneten. Daraus entbrannten Kontroversen über die Bedeutung von Gleichberechtigung und Selbstbestimmung. Auch die größer werdende Friedensbewegung ging ja, was nicht vergessen werden sollte, von drei dänischen Frauen in der Küche aus.
In den folgenden Jahrzehnten kann eigentlich nicht mehr von einer politischen Frauenbewegung gesprochen werden. Und doch veränderten die vielen Einzelnen und autonome Gruppen in ihren Berufen fortlaufend das vorher vorherrschende Bild und verbesserten viele früher geltende Bedingungen: Eines Tages gab es eine Sprecherin in der Tagesschau. Journalistinnen, Ärztinnen, Rechtsanwältinnen taten sich zusammen und gründeten eigene Berufsorganisationen. Die GRÜNEN wurden zur Quotierung gezwungen. Frauen wurden sichtbarer, aber nach wie vor setzten sie nicht die Themen. Themen wurden von männlichen Intellektuellen gesetzt. Sie hatten und haben die kulturelle Vorherrschaft oder Hegemonie. Was damals im Kursbuch stand, wurde auch in den Tageszeitungen und im Fernsehen besprochen und die Autoren konnten nicht nur mit Aufmerksamkeit sondern auch mit Honoraren rechnen.
Das Kursbuch ist ohnehin ein interessantes Beispiel für einen allgemeinen Trend: Das Goethe-Institut schreibt noch 2018: „Schnell avancierte das Kursbuch zur wichtigsten intellektuellen Zeitschrift in Deutschland. Hier stand, was die anderen verschwiegen...“ (Quelle: hier). Diese Aussage ist besonders komisch, wenn man weiß, dass in den Nummern 1–16 insgesamt drei Frauen als Autorinnen genannt wurden: Gisela Elsner in Nr. 3, Maria Jordan in Nr. 12 in einem Kollektivbeitrag und in Nr. 15 waren ein paar Gedichte von Ingeborg Bachmann abgedruckt. Offenbar im Bewusstsein, gerade etwas zu verpassen, kam es 1969 in einer Art Torschlusspanik dann in Nr. 17 zu der immer wieder erwähnten und hauptsächlich von Frauen geschriebenen Ausgabe über „Frau-Familie-Gesellschaft“. In den Nummern danach ging es allerdings wie vordem fast frauenlos weiter. Dennoch wird bis heute behauptet: „Schnell avancierte das Kursbuch zur wichtigsten intellektuellen Zeitschrift in Deutschland.“ Das ist nun nicht nur deshalb interessant, weil es wieder ein Beispiel für Frauendiskriminierung ist. Für Frauen war diese Ausgrenzung „aus dem intellektuellen Leben“ ja Alltag und fast normal. Es ist deswegen interessant, weil daraus geschlossen werden muss, dass die Autoren dieser Zeitschriften, der Filme usw., die auch noch den kleinsten indigenen Völkern auf dieser Welt zu ihrem Recht verhelfen wollten und immer wieder große Abhandlungen über die ihnen zugefügten Ungerechtigkeiten schrieben und schreiben, nicht einmal bemerkten, was sie in nächster Nähe nicht zur Kenntnis nahmen. Dazu ließen sich noch viele andere Beispiele finden, wie z. B. das Buch von Oskar Negt und Alexander Kluge: „Öffentlichkeit und Erfahrung“ (Suhrkamp 1972), also zur Hochzeit der Paragraph-218-Demonstrationen, der neuen Zeitungen und Infoblätter der Frauenbewegung, die aber in dem Buch mit keinem Wort erwähnt wurden.
Das deckt sich mit Aussagen von heute. In der Berliner Zeitung vom 4.8.2018, in der Sabine Rennefanz schreibt, dass es an „journalistischen Selbstmord“ grenzt, wenn Frauen Artikel über Kinder schreiben. Gedöns eben immer noch. Als Reaktion auf diese permanente Ignorierung, die die wenigen Ausnahmen nur betonten, waren die folgenden Jahrzehnte von einem zielgerichteten Pragmatismus gekennzeichnet. Frauen lernten in dieser Zeit, sich in bundesdeutsche Standards zu integrieren ...
Mit der Wende gab es noch einmal größere Auseinandersetzungen zwischen west- und ostdeutschen Frauen. In der DDR hatten alle Frauen Arbeit, es gab Kindergärten, je mehr Kinder, desto größere staatliche Hilfe, Abtreibungen waren seit 1972 möglich. Sie stießen nun auf Westfrauen, die vielfach besserwisserisch auftraten. Die unterschiedlichen Erfahrungen führten häufig zu erbitterten Auseinandersetzungen. Tatsächlich haben die Ostfrauen durch die Wiedervereinigung zunächst viele ihrer vorher selbstverständlichen Rechte eingebüßt und taten sich andererseits oft schwer damit, die Analysen aus dem Westen zum Geschlechterverhältnis zu akzeptieren.
In den 1990er Jahren fassten peu à peu ganz neue Debatten Fuß. Die schon erwähnte Gendertheorie wurde erfunden und – das muss gesagt werden – bis heute wird das Wort kaum von der normalen Bevölkerung verstanden, die ganz ungebildet nach wie vor von Frauen und Männern spricht und durchaus zur Kenntnis nimmt, dass die Natur sich nicht immer an die Zwei-Geschlechtlichkeit hält und ab und zu die Organe auch willkürlich verteilt, was nicht den Verstand der Betroffenen schädigt, aber sicher für sie mit außergewöhnlichen Schwierigkeiten verbunden ist, die es schwer machen, einen eigenen akzeptierten Platz zu finden. Diese nun schon 20 Jahre währende Debatte war tatsächlich in der Lage, die Reste einer politischen Bewegung zu entpolitisieren und u. a. biologische Faktoren zu vernachlässigen.
In meinem Buch „Die Entstehung der Geschlechterhierarchie“ befasse ich mich mit der Entwicklung der Primaten zum Homo sapiens mit dem Ziel, die Gründe für die erste Arbeitsteilung zu finden und zeitlich zu bestimmen. Ich beweise nicht nur, wann, warum und durch wen die erste Arbeitsteilung angefangen hat, sondern auch, welche besonderen Probleme Frauen durch längere Schwangerschaften, unfertigere Kinder bei der Geburt und den Fellverlust, zu bewältigen hatten und wie sie ihre Intelligenz zur Problemlösung einsetzten, um sich zum Homo sapiens zu entwickeln. Sie waren gezwungen, diese sich aus der Biologie ergebenden Probleme mit ihrem Verstand zu lösen. Es gab keine „natürliche“ Arbeitsteilung und bis zum Neolithikum auch nicht das, was wir heute als Arbeit bezeichnen. Es gab über Jahrmillionen der Menschwerdung auch keine Abhängigkeit vom Mann, da alle für ihr Fressen allein verantwortlich waren. Frauen könnten heute alles das machen, was Männer auch können. Vieles hat sich für uns in den westlichen kapitalistischen Ländern verbessert, vorausgesetzt wir sind nicht Töchter oder Ehefrauen in patriarchalisch bestimmten Familien.
Ganz anders sieht es auf der übrigen Welt mit den Frauen aus. Sehr viel mehr Millionen Frauen geht es bedeutend schlechter als 1968. Mehr Frauen haben heute weniger Rechte. Massenhafte Vergewaltigungen nehmen zu, weil weibliche Föten millionenfach vor allem in Indien und China abgetrieben werden und Millionen Männer keine Frauen mehr bekommen. Mehr Frauen und Mädchen werden beschnitten. Noch ist dies kein beständiges Thema der Außenpolitik.
Auch in Deutschland sind nach Auskunft von Terre des Femmes 2018 ca. 13.000 Mädchen von Genitalverstümmelung bedroht, 4.000 mehr als ein Jahr davor.
Wir hätten uns vor 50 Jahren nicht träumen lassen, dass Zwangsehen, Ehrenmorde, Kinderehen, Mehrfachehen mit Minderjährigen und Verschleierungsgebote uns einmal in Deutschland begegnen würden. Das schienen weit entfernte Schrecknisse aus vergangenen Zeiten. Heutzutage gibt es nicht Hunderte, sondern Tausende hier lebender junger Mädchen und Frauen, die nicht unter dem Schutz des Grundgesetzes stehen, sondern den Gesetzen ihrer Familie unterworfen sind und dies oft genug mit ihrem Leben bezahlen müssen, durch Mord oder Selbstmord. In der Politik wird dies zu häufig verharmlost und aus Denkfaulheit mit landesüblichen Sitten erklärt, denen mit Toleranz zu begegnen sei. Und vielfach werden die Frauen, die selber Schlimmstes erlebt haben, die die Zustände kennen und konsequente Abhilfe fordern, von der sogenannten aufklärerischen Presse diskriminiert. Dort gilt nicht einmal als Skandal, dass kritische Musliminnen und Muslime hier jahrelang nur unter Polizeischutz existieren können.
Als der Paragraph 4 des Grundgesetzes zur Religionsfreiheit geschaffen wurde, konnte davon ausgegangen werden, dass die beiden Kirchen, denen die meisten Menschen damals noch angehörten, inzwischen zivilisiert waren. Insofern wurde nicht angezweifelt, dass das Grundgesetz die oberste gemeinsame Verbindlichkeit darstellt. Bei den inzwischen in Deutschland verbreiteten über hundert Religionsgemeinschaften gibt es im Prinzip nur bei den hier lebenden Muslimen Probleme, wie verschiedene Studien belegen. Danach stellt die Mehrheit die Scharia über das Grundgesetz und begründet das mit der Religionsfreiheit. Ich bin keine Freundin von Grundgesetzänderungen. In diesem Punkt wäre nach meiner Meinung eine Ergänzung allerdings höchst notwendig in der Form, dass Religionsfreiheit besteht, solange die ausgeübten Religionen das Grundgesetz als oberste Richtschnur anerkennen.
Das würde ein wenig mehr Rechtssicherheit schaffen. Heute sind wir mit Problemen konfrontiert, von denen wir vor 50 Jahren mehrheitlich keine Ahnung hatten. Heute dürfte auch den Dümmsten klar geworden sein, dass die wirklichen Bedrohungen nicht militärisch bekämpft werden können. Ich spreche nicht nur von Fundamentalisten verschiedener Couleur. Wir selber sind schon voller Plastikmüll, dennoch trinken Frauen und Männer täglich millionenfach Coffee to-go. Tausende junger Mädchen wollen Top-Models werden. Die Schulen sind marode, die Lehrkräfte fehlen, in Afrika sterben Menschen an Aids, die katholische Kirche verbietet Kondome und die Frauen müssen Kinder gebären, die sie nicht ernähren können. Kinder, die Sehnsüchte nach Europa entwickeln. Und die Gender-Sachverständigen erfinden Sternchen.
Ich sehe der Zukunft nicht optimistisch entgegen.
Wir, unsere Generation, haben von unseren Anstrengungen auf jeden Fall profitiert. Als Frauen können wir glücklicher sein als tausende Generationen vor uns. Aber nach wie vor nehmen wir an den Zerstörungen weiter teil. Die Frauenbewegung hat viel dazu beigetragen, die Formen des Wissens zu erweitern. Ob das der Menschheit noch helfen wird, müssen in weiteren 50 Jahren andere beurteilen.
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Filme von Helke Sander zu 1968
Brecht die Macht der Manipulateure (1967/68) s/w, 48 Min.
der subjektive faktor (1981), Farbe und s/w, 138 Min.
1981 Preis I.S.D.A.P. der Biennale von Venedig
Mitten im Malestream – Richtungsstreits in der neuen Frauenbewegung (2004) Farbe, 92 Min.
Die Filme sind Teil der DVD „Edition Helke Sander“ bei good!movies und im Verleih erhältlich bei der Deutschen Kinemathek Berlin ahahn@deutsche-kinemathek.de
Bücher und Texte von Helke Sander zu 1968
Die Entstehung der Geschlechterhierarchie als unbeabsichtigte Nebenwirkung sozialer Folgen der Gebärfähigkeit und des Fellverlusts. Berlin: Verlag Zukunft und Gesellschaft, 2017
Feminismus – Experimente. In: Andreas Beitin, Eckhart J. Gillen (Hg.), Flashes of The Future – Die Kunst der 68er oder Die Macht der Ohnmächtigen. Katalog Ludwig Forum Aachen 2018, S. 514–519, demnächst auch auf Englisch: Bestellungen: [url=http://www.bpb.de/shop]http://www.bpb.de/shop[/url]
Brief an Sani. In: Daniel Cohn-Bendit, Rüdiger Dammann (Hg.), 1968 – Die Revolte. Berlin:
S. Fischer, 2007, S. 77–108
Nicht Opfer sein, sondern Macht haben. In: Ute Kätzel, Die 68erinnen: Porträt einer rebellischen Frauengeneration. Berlin: Rowohlt, 2002
Textnachweis
Rede von Helke Sander am 13. September 1968; Transkription eines Tonbandmitschnitts, angefertigt von Holger Meins am 13. September 1968; Tonbandabschrift von Elisabeth Zellmer und Patrick Bernhard am 24. April 2006
© Helke Sander
Quelle: [url=http://1000dok.digitale-sammlungen.de/]http://1000dok.digitale-sammlungen.de/[/url] dok_0022_san.pdf
Halina Bendkowski, Feministischer Geschichtsalarm oder: Gibt es ein Happy End für emanzipatorische Bewegungen?
© Halina Bendkowski
Helke Sander, Resümee – 50 Jahre nach dem Tomatenwurf
© Helke Sander
Anlass der beiden Reden war das fünfzigjährige Jubiläum der 2. Frauenbewegung, veranstaltet vom Frauenreferat Frankfurt im Kaisersaal des Frankfurter Römers am 14.9.2018.
Nachdruck der Texte, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Autorinnen Helke Sander (misalu@t-online.de) und Halina Bendkowski (halina.bendkowski@icloud.com)
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