Helke Sander Über die Evolutionskapitel von Schaik/Michels “Wahrheit über Eva”
Helke Sander:
Über die Evolutionskapitel
des Buches von Carel von Schaik und Kai Michel
Die Wahrheit über Eva
Rowohlt 2020
Vorbemerkung
Vor einigen Wochen habe ich mich im Zusammenhang mit eigenen Arbeiten zur Evolution schon einmal mit dem Kapitel „Wie wir Menschen wurden“ aus "Die Wahrheit über Eva" befasst und viele Tatsachenbehauptungen als nicht belegbar kritisiert (vgl. 500.000 Jahre zurück, nachzulesen hier). Dabei habe ich öfter auf mein eigenes Buch zum Thema - "Die Entstehung der Geschlechterhierarchie" zurückgegriffen, das 2017 erschienen ist*, um meine Hauptthese - wie aus noch tierähnlichen Selbstversorgern Menschen wurden, die mühselig lernten, miteinander zu kooperieren, um die gegenseitige Versorgung zu verbessern und später sogar die einer Gruppe zu garantieren - noch einmal genauer zu erläutern. Diese bahnbrechende Neuerung, mit der wir definitiv zu Menschen wurden und uns vom Tierreich entfernten, wurde meines Erachtens bisher nicht in ihrer Bedeutung und Reichweite verstanden. Das ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass eine beginnende Zusammenarbeit zwischen Frauen und Frauen, Männern und Männern und Frauen und Männern - wie praktisch in allen Forschungen zur Vorgeschichte, so auch in diesem Buch - fast automatisch mit sexuellen Verhaltensweisen verknüpft wird. Die Sexualität in regulierter Form spielte bei diesen neuen Versorgungsregeln meiner Erkenntnis nach aber noch Jahrhunderttausende lang keine Rolle. Auf welche Weise sie allmählich in das soziale Leben einbezogen wurde, hat sich unabhängig von den ersten Versorgungsregeln entwickelt. Das vorliegende Buch gibt mir Gelegenheit, dies noch einmal herauszuarbeiten.
Inzwischen habe ich „Die Wahrheit über Eva“ ganz gelesen, immerhin mehr als 600 Seiten, die die Zeit von den Primaten bis zur Zeitenwende abdecken, und muss meine Vorbehalte, die ich für die Darstellung der Frühgeschichte in dem oben schon erwähnten Text entwickelt hatte, zwar nicht zurücknehmen, konnte sie aber für die späteren Kapitel aufgeben. Wie die Autoren die Menschheitsgeschichte ab der Zeit vor etwa 10.000 Jahren mit all ihren Folgen auch für heute entwickeln, ist beeindruckend. Sie belegen die Entwicklung zu den heute noch bestehenden Monotheismen aus den gewalttätigen Herrschaftssystemen der frühen kleinasiatischen Stadtstaaten. Und, um es für heute fassbar auszudrücken, es ist auch dank dieses Buches beweisbar, dass die Politikerreden über die christlich-jüdische Wertegemeinschaft die größte Geschichtsklitterung aller Zeiten sind und dabei immer unausgesprochen auch eine Rechtfertigung der menschheitsgeschichtlich kurzen Zeit des Patriarchats.
Was die Urzeit betrifft, beginnend mit der Trennung von den anderen Primaten, möchte ich meine abweichende Meinung zur Entwicklungsgeschichte noch einmal genauer begründen und werde das anhand der im Buch aufgestellten Thesen tun.
Ab Neolithikum ähneln sich dann wieder die Erkenntnisse, und ich komme auf anderen Wegen zu mehr oder weniger gleichen Schlüssen wie die Autoren.
Sowohl ihnen wie mir geht es um die Ursachen für die Unterdrückungsgeschichte der Frauen, die, da sind wir uns auch einig, nicht absichtsvoll in die Wege geleitet wurde, sondern sich aus vorangegangenen Erkenntnissen und fortschrittlichen Arbeitsweisen gewissermaßen notgedrungen wenn auch nicht ohne Widerstand ergeben hat.
Ich werde also einige der von mir kritisierten Thesen aus „Die Wahrheit über Eva“ herausgreifen und sie meinen Erkenntnissen gegenüberstellen.
Tausch, Teilen
Eine der Grundvoraussetzungen der Evolutionsgeschichte, wie sie die Autoren begründen ist, Zitat: „In unserer evolutionären Vergangenheit war es für eine Mutter in den allermeisten Fällen schlicht unmöglich, ihr Kind alleine großzuziehen.“ (S.96)
Die Verfasser beziehen sich dabei hauptsächlich und immer wieder auf Sarah Hrdy, deren Thesen zu den sogenannten Allo-Müttern allerdings auch nur auf Vermutungen oder Wunschdenken und nicht auf bewiesenen Tatsachen beruhen. Hrdy geht davon aus, dass die ganze Gruppe einschließlich der Männer sich von Anfang an an der Aufzucht und das heißt hauptsächlich an der Versorgung der Kinder beteiligte, was schon eine enorme Intelligenz voraussetzen würde. Immerhin brachte sie Mütter überhaupt ins Spiel, die lange Zeit von der Forschung vollkommen ignoriert wurden und auch heute noch bei E.O. Wilson oder Harari – beide Bestsellerautoren – keinerlei Rolle spielen.
„Sharing and Caring“ nennen das die Autoren, Teilen und Umsorgen. Da sie in diesen Evolutionskapiteln leider immer wieder wild in den Zeiten hin und her springen und man oft nicht weiß, ob sie von einer Zeit vor 2 Millionen, 100.000 Jahren oder vom Neolithikum sprechen, ist es möglich, dass sie diese Fürsorge durch die Gruppe, die sie für ein „natürliches“ Verhalten halten, mit den Regeln verwechseln, die nach dem ersten, noch eher als experimentell zu bezeichnenden Tausch langsam für die Nahrungsvorsorge entwickelt wurden.
Wie ich schon mehrfach beschrieben habe, begann diese erste versuchsweise Handelsbeziehung zwischen den Individuen zunächst vermutlich sogar zwischen Frauen, da sie schon zu Affenzeiten gelegentlich für fremde und verwaiste Kinder sorgen konnten. Wahrscheinlich waren das Frauen, die schon wussten, „wie es geht“ mit Kindern, deren eigene aber schon groß waren. Soweit mir bekannt, gibt es auch bei Affen keine Mütter mit Kleinkind, die sich eines zweiten fremden Kindes annehmen.
Wenn von Urzeiten an die Männer tatsächlich an der Kinderaufzucht beteiligt waren, was immer wieder von den Autoren betont wird, ist es erstaunlich, dass davon heute so wenig übriggeblieben ist. Eher vom Gegenteil, nämlich Vaterflucht, zeugen die schon vom Verband alleinstehender Mütter und Väter - VAMV - politisch in den 70-er Jahren des letzten Jahrhunderts durchgesetzten Unterhaltsvorschusskassen (deren Berliner Sektion ich damals mitbegründet habe), die den Müttern die Gelder, die eigentlich von den Vätern aufzubringen gewesen wären, vorschießen, weil ein großer Teil der eigentlich Verpflichteten ihren Verpflichtungen eben nicht nachkamen und auch heute nicht nachkommen.
Es lohnt sich, dieser Behauptung, die auch bei anderen Verfassern beiderlei Geschlechts vorkommt, noch ein wenig weiter nachzugehen.
Noch im 20. Jahrhundert wurden Frauen mit Büchern konfrontiert wie jenem über den „physiologischen Schwachsinn des Weibes“. Zwar wird diese These inzwischen milder ausgedrückt wird, aber in vielen Weltgegenden, in denen Frauen immer noch rechtlos sind, gehört ihre behauptete „Minderbegabung“ zum Standardwissen der jeweiligen Gesellschaft. Es wird seit der Antike unterstützt von der Creme der Intelligenz, den Philosophen, auf die sich noch heutige Philosophen beziehen. (Immer noch und wieder lesenswert dazu das Buch von Annegret Stopczyk: „Was Philosophen über Frauen denken“). In diesem Zusammenhang ist besonders interessant, dass es keinerlei Untersuchungen darüber zu geben scheint, warum diese in der Frühzeit so sehr um die Kinder sorgenden Männer dieses Verhalten heute so zahlreich aufgegeben haben oder warum schon bei den Griechen der männliche Haushaltsvorstand über Tod oder Leben sowohl der Kinder seiner Frau wie seiner Sklavinnen entscheiden konnte. Kleine notwendige Abschweifung.
Ich gehe davon aus, dass das Teilen - ich bevorzuge den Begriff des Tausches - das bei allen Autoren auf ein natürliches, d.h. aus dem Nichts auftauchenden Verhalten zurückgeführt wird, eine erste einschneidende kulturelle Leistung war, die die eigentliche Menschwerdung begründete und vorbereitete. Ich gehe weiter davon aus, dass daran nichts natürlich war, sondern es handelte sich um erste Verstandesleistungen, die das soziale Verhalten veränderten. Es mussten noch bisher unbekannt bleibende gewaltige Zeiträume überwunden werden, bevor Selbstversorger, die sie alle noch als homines erecti waren, aus ihrem noch eher dumpfen Hirn kurzzeitige Gedankenblitze entstehen ließen, die irgendwie signalisierten, dass es doch schön wäre, wenn das, was eine Person sammelte oder an Kleingetier erjagte auch mir zugute käme, die ich angefangen hatte, etwas anderes zu sammeln und vielleicht sogar etwas davon übrig habe.
Allmählich entstand so das Denken, was auch darauf beruhte, dass sich aus Gründen, die ich näher in meinem Buch beschrieben habe, beide Geschlechter anfingen, spezielle Dinge zu sammeln und zu jagen.
Der Säugling entwickelte sich zum Kleinkind, wurde lange gestillt und lernte auf den Armen oder dem Rücken der Mutter nach dem zu greifen, was auch die Mutter nahm.
Es gibt keinerlei Beweise für eine ursprüngliche gegenseitige Versorgung der Kinder, sondern nur unterschiedlich begründete Vermutungen. Wenn für viele gleichzeitig etwas zum Essen da war, handelte es sich lange Zeit vermutlich um Aas, was von größeren Tieren verlassen worden war. Die vegetarische Nahrung suchten sich alle selber und auch die Würmer, Maden, Insekten fraßen die, die sie fanden.
Von manchen Funden war viel da, andere wurde wahrscheinlich geheimgehalten oder auch angeberisch vorgeführt.
Worauf gar nicht genug hingewiesen werden kann, ist meiner Meinung nach die Tatsache, dass dieses Erwachen des Verstandes Jahrtausende brauchte, bevor es zu irgendeinem praktisch veränderten Verhalten kam. Darum bezeichne ich diesen Vorgang, etwas zu kriegen und dafür etwas zu geben als den eigentlichen Null- und Ausgangspunkt der Entwicklung hin zum Menschen.
Dieser Nullpunkt war natürlich kein Punkt, sondern entwickelte sich in den verschiedenen Gruppen zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Gegenden und konnte auch wieder verloren gehen, und verschiedene Menschengruppen starben aus.
Das Schwerste war, aus einem einmaligen erfolgreichen Ereignis – etwas zu geben und dafür etwas zu bekommen – eine dauerhafte Einrichtung zu machen.
Das kann man sich nicht dramatisch und vor allem nicht langwierig genug vorstellen, und es ist mit der These eines gewissermaßen von selbst auftauchenden „caring and sharing“ in keiner Weise erklärt.
Bis zu diesen ersten Ansätzen eines vom Verstand bestimmten Tuns – an das man sich auch erstmal erinnern musste - war die Normalität für alle, selbst für die eigene Nahrung zu sorgen und zwar nur für die eigene.
Die Verfestigung und Weiterentwicklung dieser mal hier, mal da auftauchenden Geste, etwas abzugeben und dafür etwas zu bekommen, ist die gewaltige intellektuelle Leistung der Frühmenschen. Ich nehme an, dazu waren einige Jahrhunderttausende nötig und es entwickelten sich je nach geographischer Lage und Nahrungsvorkommen unterschiedlichste Sitten und Gebräuche, die immer weiter verfeinert wurden und auch wieder in Jahrtausenden neue feste und strenge Strukturen schafften, die jenseits vom Sex die Geschlechter dazu brachten, in eine Handelsbeziehung zu treten, weil sich, wie schon gesagt, vielfach auch die Tätigkeiten von Männern und Frauen zu unterscheiden begannen.
Die Autoren bringen nun sogar Gruppengrößen ins Spiel, für die es keine Nachweise gibt.
„Die Forager (Frühmenschen) ... leben in kleinen Gesellschaften ... von höchstens einigen tausend Menschen, die sich wiederum auf kleine Gruppen von bis zu 50 Menschen aufteilen. In der Regel besteht eine Gruppe aus rund 25 Individuen.“ (S.99) Wie sie auf die „einige tausend“ Menschen kommen, bleibt ein Rätsel. Solche großen Bevölkerungszahlen waren erst mitten im Neolithikum möglich und nicht schon 1 Million Jahre zuvor.
Die Autoren behaupten auch, dass Männer für ca. zwei Drittel der Nahrungsbeschaffung zuständig waren, ebenfalls ohne Zeitangaben. (Viele Frauen, die über die Vorzeit schreiben, behaupten das gleiche von den Frauen.)
Die Verfasser gehen außerdem davon aus, dass diese kleinen Gruppen in gegenseitigem Kontakt standen und eine gemeinsame Sprache hatten. Leider gibt es auch hier keinerlei Andeutung über die Zeiträume, in der diese vielen Gruppen sich untereinander offenbar austauschten. Der Zeitpunkt des Beginns der Sprachfähigkeit ist nach wie vor umstritten. Aber hier wird der Eindruck erweckt, dass es sich um eine Zeit von vor ca. 1.8 Mill. Jahren handelt, obwohl die Menschen vermutlich frühestens vor 350.000 Jahren oder sogar erst vor 100.000. Jahren sprechen lernten.
(Was die gegenseitige Verständigung angeht, muss man darauf hinweisen, dass z.B. in Papua-Neuguinea noch vor Jahrzehnten nebeneinanderliegende Dörfer verschiedene Sprachen haben konnten. Angaben dazu in meinem Buch).
Sexualität
Bei den Autoren wird das Kapitel mit „Der Mythos der Monogamie“ beschrieben. Dass die für die Anfänge der Menschheit vielfach behauptete Monogamie ein Mythos ist, entspricht auch meinen Erkenntnissen. Allerdings begründe ich dies anders.
Die Autoren gehen davon aus, dass anfänglich Promiskuität herrschte, Frauen sexuell autonom waren, aber die gemeinschaftliche Sorge für die Kindererziehung auch sexuelle Vorlieben bei beiden Geschlechtern entstehen ließ, sogar Eifersucht, was dann viel später darauf u.a. hinauslaufen sollte, dass die Frauen ihre sexuelle Autonomie verloren.
Abgesehen davon, dass es gemessen an den vielen männerzentrierten Büchern über die Entwicklung der Menschheit eine Wohltat ist, dass sich die Forscher mit dem Geschlechterverhältnis und seiner Rolle bei der Evolution überhaupt befassen, übertragen sie aber doch wie alle anderen die Regeln, die allein für den regelmäßigen Nahrungstausch entwickelt wurden, auch auf das sexuelle Verhalten, was zu merkwürdigen Thesen führt:
Die weiter oben geschilderte Gruppenunterstützung bei der Kinderaufzucht „ermöglichte es Frauen, ihr nächstes Kind in kürzerem Abstand zu bekommen und so ihre Fitness zu verbessern. Dadurch begannen beide Geschlechter von exklusiven Paarbeziehungen zu profitieren“ (S.171). Was sagen wohl Mehrfachmütter zu dieser waghalsigen These über zunehmende Fitness der Mütter bei größerer Kinderzahl? Und exklusive Paarbeziehungen gibt es bis heute kaum.
Hier und da werden auch Großmütter als wesentlicher Faktor für die Kindererziehung genannt. Allerdings wird dabei nicht bedacht, dass die allgemeine Lebenserwartung nur in Ausnahmefällen 40 Jahre erreichte, Großmütter also noch jung waren, wenn sie starben und kaum die Menopause erreicht haben dürften (S. 222).
Produktionsmittel
Auf Produktionsmittel gehen die Autoren verhältnismäßig selten ein. Aber immerhin verweisen sie auf S. 225 auf die große Bedeutung, die Werkzeuge aus Pflanzenmaterial hatten, die aber in der Forschung selten eine Rolle spielen, weil sie sich längst zersetzt hatten und daher die haltbaren Steinwerkzeuge im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit blieben. Die Pflanzenwerkzeuge dienten dazu, Schnüre, Seile u.ä. herzustellen, die vielfältig verwendbar waren. Vor allem aber wurden daraus Tragebehälter für Säuglinge produziert, was die Autoren nicht erwähnen.
Ich habe in meinem Buch darauf hingewiesen, dass Frauen ein echtes Problem bekamen, als die Menschen ihr Fell verloren – vermutlich im Zeitalter von homo erectus - und es für Frauen zwingend notwendig wurde, etwas zu erfinden, mit dem sie ihr Kind transportieren konnten. Auch das gab einen enormen Schub für die Denkfähigkeit, und erst danach dürfte diese Erfindung auch zu ähnlich hergestellten Fischernetzen u.a. geführt haben, Erfindungen, die normalerweise Männern zugeschrieben werden.
Regeln
Auf S. 185 benutzen die Verfasser den Ausdruck „sexuelle Arbeitsteilung“. Das erweckt den Anschein, als sei dieses Verhalten, dass Frauen sammelten und Männer jagten, ein gewissermaßen natürlich entstandenes gegenseitiges Übereinkommen, was von Anfang an die werdende Menschheit prägte. „Beide Partner leisten ihren Beitrag und stehen damit in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander“.
In vielen Beispielen werden nun mögliche Variationen genannt, die durchaus auch jagende Frauen (von kleineren Tieren selbstverständlich) einschließen, aber immer treten Versorgungsregeln und sogenannte Eheregeln gemeinsam auf, bzw. sind nicht voneinander zu unterscheiden. Sex wird von Anfang an als Bestandteil der neuen Versorgungsregeln gedacht.
Ich bin anders vorgegangen und habe beide Bereiche getrennt. Das konnte ich tun, weil mir die „natürliche sexuelle Arbeitsteilung“ eben alles andere als natürlich erschien. Im Gegenteil: die Tatsache, dass zwei Menschen anfingen, miteinander etwas zu tauschen, erschien mir als absolute Sensation und ein gewaltiger Entwicklungsschritt, als praktisches Ergebnis neuer Denkfähigkeit und genialer Reaktion auf Versorgungsengpässe. Sie mussten aber erstmal auf diese Möglichkeit kommen.
Wenn wir heute plötzlich bemerkten, dass ein Hund einem anderen den Fressnapf hinschiebt, wäre das eine ebenso große Sensation. Aber genau so muss man sich die Anfänge einer neuen Zusammenarbeit vorstellen, wobei das Wort Arbeit noch nicht passend ist, weil Arbeit in unserem Sinn erst im Neolithikum entwickelt wurde. Bis zur Erfindung des Tauschs lebten die werdenden Menschen noch ähnlich wie die Tiere, selbst für sich Nahrung suchend.
Bei den Erfindern war diese Geste des Tauschs sicher zunächst auch einmalig und blieb als Gedankenfetzen irgendwie hängen, bis er wieder neu auftauchte als diffuse Erinnerung. „Es war mal schön, etwas zu kriegen“. Dies zu einer kontinuierlich funktionierenden Einrichtung zu machen, musste erstmal gedacht werden können. Das Misstrauen, dass jemand mit einem Stück der angebotenen Nahrung einfach abhaut, war sicher berechtigt. Aus diesen mühseligen Anfängen konnten schließlich immer kompliziertere Vereinbarungen entstehen, die mit der Verstandeskraft unserer Vorfahren allmählich wuchsen und zu den vielfältigsten Sitten und Gebräuchen führten, die alle den einzigen und konkreten Sinn hatten, die Nahrungsbeschaffung für alle kontinuierlich zu ermöglichen.
Dadurch entstand langsam ein neues Gruppenbewusstsein. Was einmal etabliert war, wurde vermutlich bewahrt und als Sitte gespeichert, selbst wenn die Individuen schon in anderen Gegenden lebten, die eventuell andere Regeln erforderten und sich von „einfach“ zu immer komplizierteren Verfahren entwickelten. Auf jeden Fall entstanden seit diesen ersten Tauschhandlungen die Formen der Zusammenarbeit zwischen Männern und Frauen, die heute erst Auflösungserscheinungen erkennen lassen, weil Frauen heute auch wieder wie zu Primatenzeiten alles das machen können, was lange Zeit nur Männern zugeschrieben wurde.
Wenn z.B., wie Forscher aus Australien berichtet haben, ein Mann verpflichtet war, einer bestimmten Frau von seinem Gesammelten oder Gejagten etwas Bestimmtes abzugeben und die Frau von ihren Produkten diesem Mann ebenso etwas genau Definiertes zu überlassen hatte, dann war die Chance, in mageren Zeiten überhaupt etwas zu essen zu bekommen für beide größer. Derartige Vereinbarungen werden in der Forschung oft als Ehe bezeichnet, einfach aus dem Grund, weil bestimmte Männer und bestimmte Frauen einander verpflichtet wurden. Mit diesem Verfahren war aber nicht verbunden, dass sie dadurch auch sexuell in irgendeiner Weise einander verpflichtet waren. Das eine hatte mit dem anderen rein gar nichts zu tun, obwohl sie natürlich auch miteinander Geschlechtsverkehr haben konnten. Der aber war lange nicht nur außerhalb jeder Vereinbarung, sondern gehörte nicht einmal zu den Dingen, über die nachgedacht wurde. Es war auch noch lange nicht bekannt, dass beide Geschlechter für die Erzeugung eines Kindes notwendig waren.
War es zunächst ein direkter und zeitgleicher Tausch, konnte dies mit zunehmendem Verstand allmählich erweitert werden in der Form, dass die Frau dem Mann auch dann etwas gab, wenn er an einem Tag nichts heranschaffen konnte und vice versa. Kurz und gut, wenn in der Forschung Patri- oder Matrilokalität und andere Regeln des Zusammenlebens immer mit Eheregeln begründet werden, macht das nur Sinn, wenn man sich unter diesen Sitten verbindliche und streng beobachtete Gebräuche vorstellt, die sicherstellen sollen, dass für alle Nahrung da ist. Es sind Handelsbeziehungen, die neu erfunden und durchgesetzt wurden zu dem einzigen Zweck, die Versorgung zu garantieren. Wie Göttner-Abendroth in ihrem Buch „Geschichte matriarchaler Gesellschaften und Entstehung des Patriarchats“ Bd.III auf S. 357, 358 schreibt, sollen sogar noch die Frauen der Pikten-Völker „eine freie Sexualität“ gelebt haben. Sie beruft sich dabei auf antike Autoren. Sollte es so gewesen sein, dann sind diese Sitten noch Überbleibsel alter Versorgungsregeln ohne Sex.
Mit den neuen Regeln entwickelte sich natürlich auch das Gefühlsleben, und es konnten Vorlieben entstehen oder Gefühle der Abneigung. Wir können wahrscheinlich davon ausgehen, dass die Neugier und deren Folgen bei allen Frühmenschen enorme Kräfte entfachte und alle gleichermaßen mit Denkfähigkeit ausstattete, anders als heute, wo die vielen Menschenmassen nur zum Teil noch ihre Verstandeskräfte benutzen können oder zu benutzen lernen oder lernen wollen. Es ist also wahrscheinlich, dass sich allmählich auch Vorlieben beim Sex entwickeln konnten und evtl. dadurch die Versorgungsregeln zusätzlich unterstützt wurden.
Was aber auch bedacht werden muss und was in der Forschung bisher praktisch keine Rolle spielt, ist die Tatsache, dass diese neuen sozialen Sitten auch immer eine Kehrseite haben. Die wie die Tiere noch herumschweifenden Frühmenschen erleben mit jedem Entwicklungsschritt, mit dem ihr sich entwickelnder Verstand zu praktischen Fortschritten führt, auch einen Verlust, der heute darin kulminiert, dass es fraglich ist, ob wir als Gattung überhaupt noch lange überleben können und uns der Verstand, der die reale Erde so verändert hat und uns zu immer neuen Möglichkeiten sogar auf fremde Galaxien führt, uns nicht letztlich umbringen wird, weil wir die Erde so verändert haben, dass sie sich gegen uns kehrt.
Mit der ersten Regel zum Tausch gewannen die Individuen neue Sicherheiten, sie gaben dadurch aber auch einen Teil ihrer Autonomie an die Gruppe ab. Das verlief unbewusst. Die negativen Folgen der zunehmenden gegenseitigen Abhängigkeit kamen lange nicht an die Oberfläche. Und als sie spürbar wurden, mussten wieder neue Regeln erfunden werden, um sie zu kanalisieren oder erträglicher zu machen. Heute, in der globalisierten Welt, gibt es keine einzige der Freiheiten für uns, deren sich noch die Australopicinen erfreuten, die einfach ihre Gruppe verlassen konnten, um alleine zu leben. Das ist heute nur in sehr seltenen Einzelfällen möglich, schon deswegen, weil es diese großen Rückzugsorte nicht mehr gibt. (Ich kann hier aus Zeitgründen die in meinem Buch verwendeten Nachweise für einzelne Thesen nicht heraussuchen.)
Sexualität 2.
Auch in den Kapiteln, die die Sexualität in der Frühzeit behandeln, springen die Autoren leider in den Zeiten wieder wild hin und her.
Einig sind sie sich darin, dass das Geschlechterverhältnis zumindest in den Anfangszeiten der Menschwerdung mehr oder weniger egalitär war und Frauen sexuell autonom und oft promiskuitiv waren oder sein konnten.
Das wurde mit der Sesshaftwerdung anders. In dieser Zeit verloren Frauen durch neue Produktionsweisen an Macht. Die Autoren weisen auf die unterschiedlichen Größenverhältnisse von Frauen und Männern hin, denen sie ein gewisses Gewicht beimessen, weil es die sexuelle Dominanz von Männern unterstützt. (S.187). (Andere Autoren spielen diese Unterschiede aber herunter und beweisen an einigen Beispielen, dass Frauen sowohl gleich groß als auch gleich stark sein können und es von vielen Umständen abhängt, wie groß die Leute werden).
Tatsächlich wissen wir bisher wenig über das menschliche Sexualverhalten in Urzeiten. Wir wissen nicht, in welcher Form sich das gegenseitige Begehren entwickelte. Das Beispiel der Bonobos scheint zu beweisen, dass ihnen Sexualität auf jeden Fall gefällt und alle mit allen sich dauernd sexuell beschäftigen. Bei den Schimpansen ist dies schon schwieriger, weil ein sexuell dominantes Männchen die anderen Männer gewaltsam vertreibt und Zugriff auf alle Frauen beansprucht. Ob den Frauen das gefällt oder nicht, wissen wir nicht.
Wir wissen auch nicht, wieweit die werdenden Menschen Verhaltensweisen aus dem Tierreich übernommen haben. Allerdings weisen Schimpansenweibchen mit ihrer Schwellung auf Empfängnisbereitschaft hin, was sie natürlich nicht wussten und was sich möglicherweise bei unseren Vormüttern verloren hat. Vermutlich gab es eine Art unbewusstes sexuelles Hungergefühl auch bei den werdenden Menschen, was noch frei von irgendwelchen Gefühlen war, die später als Liebe oder Begehren definiert wurden und noch heute als Begriffe für Verwirrung sorgen. Heute hat sich das Verhalten nahezu umgedreht und die Menschen in westlichen Gesellschaften heiraten, weil sie sich sexuell anziehend finden, was meist nicht lange vorhält. Bei muslimischen Familien spielt die alte Form der Versorgungssicherstellung oft noch eine entscheidende Rolle. Allerdings wird Frauen, anders als in der Frühzeit, allzu häufig ein nicht selbst ausgewählter Mann aufgezwungen. Die christlichen Kirchen haben Sexualität zur Sünde erklärt, wenn sie nicht innerhalb der Ehe stattfindet und ausschließlich der Fortpflanzung dient. „Wer mit wem“ war für Jahrhunderttausende kein Gegenstand des Nachdenkens. Und schon gar nicht beabsichtigten Männer, wenn sie mit vielen Frauen vögelten, eine eigene reichhaltige Nachkommenschaft zu erzeugen, wie die Autoren vermuten. Ihre Rolle bei der Kinderentstehung wurde ihnen wahrscheinlich erst spät, im beginnenden Neolithikum, klar.
Die Sexualität wurde erst in die sich entwickelnden neuen gesellschaftlichen Regeln einbezogen, als dies Sinn machte und die Produktionsverhältnisse, die vorher egalitär waren, ihre Schwerpunkte verlagerten. Wieder kam dies zunächst als Fortschritt daher, die frühe Viehzucht bescherte Fleisch, beginnende Sesshaftigkeit bot Vorteile, neue Arbeitsverhältnisse ermöglichten Frauen neue Lebensformen, und als sie die Nachteile bemerkten, war es zu spät, weil die Strukturen sich schon so verfestigt hatten, dass ein Zurück nicht mehr möglich war.
Die Viehzucht als Männerdomäne, die auch ein paar Jahrtausende brauchte, um sich überhaupt entwickeln zu können, versorgte in den Anfangszeiten die Menschen, die sie betrieben, mit Fleisch, was lange satt hielt. Nicht bedenken konnten die Erfinder vorher, dass Tiere krank werden, Wasser knapp werden, Konflikte mit anderen Herdenbetreibern entstehen konnten, dass sich daraus erstmalig Arbeitsformen entwickeln mussten, die ein Herr-Knecht–Verhältnis notwendig machten, dass die Loyalität eigener Söhne wichtig für die eigene Sicherheit wurde und sich Herrschaftsformen durch Fortschritt ergaben. Herren und Knechte wurden ein notwendiges Übel der neu entstehenden Arbeitsteilung.
Einerseits eröffneten sich dadurch fortlaufend neue Erkenntnisse und Fertigkeiten, aber gleichzeitig blieben auch immer mehr Menschen auf der Strecke. Damit einhergehend entstand Unterdrückung. Das war ein langer Prozess, der ähnlich auch in der Landwirtschaft ablief. Die vielfältigen Schritte dieses ersten Niedergangs werden von den Autoren relativ genau beschrieben. (Ich bin in meinem Buch ausführlich auf die Entstehung dieser Unterdrückung, besonders was die Frauen betrifft, eingegangen und habe diese Zeit als den ersten GAU in der Menschheitsgeschichte beschrieben).
Um die Gründungen und Funktionen von Göbekli Tepe (ca. 10.000 Jahre v.d.Z., "bauchiger Hügel oder Hügel mit Nabel") und Catalhöyjük (ca. 7.-5.000 Jahre v.d.Z.)
kommen Patriarchatsforscher jeden Geschlechts kaum herum, und sie kommen weitgehend zu unterschiedlichen Aussagen. Die Autoren des EVA-Buches weisen die Definition beider Plätze als heilige Mutterorte zurück (entgegen dem, was viele Forscherinnen behaupten) und schreiben, die berühmte Göttin auf dem Leopardenthron in Catalhöyük sei ein isolierter Fund aus einem Getreidebehälter (S. 249). Und: Von den über 2.000 gefundenen Figuren seien nur 3% Darstellungen weiblicher Körper. In Göbekli Tepe sollen sich keine Spuren des Weiblichen gefunden haben, sondern im Gegenteil habe hier der Phallozentrismus eine neue und z.T. schon grausame Rolle gespielt, was aus den Darstellungen von Jagdszenen deutlich werde, die Männer und Tiere mit erigiertem Penis zeigen und evtl. darauf verweisen, dass deren Bedeutung in den Focus rückt. Dies steht in eklatantem Gegensatz zu den Aussagen von z.B. Kirsten Armbruster („Patriarchatskritik“ 2021 BoD S. 473), die das Gegenteil mit einer Fülle weiblicher Statuettendarstellungen belegt und in der Tempelanlage mit den T-Pfeilern die weibliche Gebärmutter und Vagina erkennt. Ich erwähne das nur, um zu zeigen, dass dieser Streit noch auf eine Lösung wartet. Möglicherweise ist beides richtig und gibt einen bildlichen Eindruck von den kommenden Auseinandersetzungen um Vorherrschaft und der ersten Etablierung von Gottesvorstellungen oder zumindest von Orten, die das Transzendente würdigen wollen und beide Geschlechter auf neue Weise betrachten.
Auf jeden Fall sind diese widersprüchlichen Aussagen ein Zeichen dafür, dass wir uns mit relativ schnellen Schritten der Neuzeit nähern.
Zum erstenmal wird Arbeit entwickelt, unterschiedliche Tätigkeiten für alle Menschen, die gemeinsam zum Funktionieren einer Gemeinschaft beitragen und hierarchisch organisiert sind, was es vorher nicht gab.
Der Beitrag der Männer zur Vaterschaft wird zunehmend erkannt und lässt sie an der Transzendenz teilhaben. Das Wunder, dass Frauen gebären, wird nun ergänzt durch das Wissen über den Beitrag der Männer. Das schafft neue Kunstwerke, neue Tätigkeiten, die zunehmend an die Befehlsgewalt von Männern geknüpft sind und neue, vorher unbekannte Probleme und auch neue Charaktereigenschaften wie z.B. Ehrgeiz und Konkurrenzdenken. Es können mehr Leute ernährt werden als in den kleineren Gruppen der Frühmenschen und sie stoßen aufeinander mit unterschiedlichen Farben, Sitten, Gewohnheiten, Handwerkszeug und Produktionsweisen. Dies alles geschieht vor allem auf kleinstem Raum, im Nahen Osten. Dieser ist seit Frühzeiten der Durchzugsraum von unzähligen neuen Menschengruppen und seitdem, also seit mindestens ca. 10.000 Jahren praktisch ununterbrochen bis heute Kampfplatz zahlreicher Völker, Herrscher und Herrschaftssysteme, die alle paar hundert Jahre wechseln.
Diese Dramatik wird in ihren vielfältigen Auswirkungen auch sehr genau von den Autoren beschrieben: Das Aufeinandertreffen auf relativ kleinem Raum von nomadischen Jägern und Sammlern sowie weiteren durchziehenden Gesellschaften mit den ersten sesshaften Bauern und neuen Viehzüchtern schafft eine Gemengelage, die zu immer neuen Auseinandersetzungen und systemischen Gewalttaten führt, die Ordnungssysteme entstehen lässt und erste Stadtstaaten hervorbringt, in denen anfangs die Herrscherinnen noch Göttinnen sind und allmählich durch männliche Götter abgelöst werden.
Die Autoren verweisen in diesem Zusammenhang außerdem häufig auf das „explodierende Bevölkerungswachstum“ im Neolithikum. (Der behauptete plötzlich zunehmende Kinderreichtum der Frauen scheint mir allerdings ein wenig dünn begründet). Aber ab Beschreibung der neolithischen Verhältnisse werden auch die Zeitangaben und die bibliographischen Hinweise im Buch genau und zahlreich.
Interessant ist die Idee, dass in Göbekli Tepe die Männer schon zu einer Zeit, als Jagen und Sammeln allmählich Viehzucht und Landwirtschaft Platz machen mussten, weil auch das Wild schon ausgerottet war, gewissermaßen im Nachhinein eine „grandiose Evokation der Jagd“ feierten (S.264).
„Göbekli Tepe ist die gigantische Bühne, auf der die bedrohte Männlichkeit trotzig ihren großen Auftritt feiert.“
In den folgenden Kapiteln befassen sich die Autoren damit, warum die Frauen ins Hintertreffen gerieten, und führen dies auf die härtere Arbeit in der Landwirtschaft, dadurch schlechtere Gesundheit und größere Kinderzahl zurück. Ich habe mich stattdessen mehr auf die Veränderung der Produktivkräfte gestützt. Die Viehzucht war hauptsächlich in Männerhand. Die Tiere sorgten für mehr und regelmäßige Proteine und dürften zunächst das Leben erleichtert haben, bevor die Kehrseiten dieser neuen Arbeitsweise hervortraten (Krankheiten, Wassermangel, Aufeinandertreffen verschiedener Herden auf beengtem Raum). Im Folgenden geht es im Buch um die Entstehung der Religionen aus allmählich personalisierten Naturerscheinungen, in denen sich die tatsächlichen Konflikte der Menschen spiegeln, und um die Herausbildung von Priesterkasten und Herrschaft.
Diese ganze Entwicklung, die, was den Westen betrifft, im Nahen Osten ihre Kernzelle hat, wird sehr genau und ausführlich in ihren vielen Façetten beschrieben. Ebenso die gegenseitige Beeinflussung von Religion und Politik, bis fast hin zum Beginn unserer Zeitrechnung. Die Autoren beschreiben die die Übernahme schon bestehender Frauenverachtung für die nächsten 2000 Jahre und die vielen Einflüsse vorangegangener Herrschaftsformen auf die entstehenden monotheistischen Religionen und die Bibel.
Zusammenfassung. Warum ist die These von „Tausch ohne Sex“ für das Geschichtsverständnis und den Status der Frauen so wichtig? Und warum ist vorher niemand darauf gekommen?
Normalerweise bin ich eher zurückhaltend mit Schuldzuweisungen. Es hat auch bei mir über 50 Jahre gedauert, bevor ich auf den Trichter gekommen bin, wie die Evolution hin zum Menschen wirklich war.
Aber wie schon erwähnt, lernen noch heute ca. 4 Milliarden Frauen teils direkt, teils in abgeschwächter Form, dass sie von Natur aus minderbegabt und zu großen Taten nicht fähig sind, was sich in Gesetzen vieler Nationen ausdrückt.
Das alles wird hergeleitet aus einem ganz einfachen aber nie geprüften Gedanken. Die männliche Forschung – und nur die gab es - ging bis vor kurzem automatisch davon aus, dass Frauen zum Gebrauch durch Männer da sind. Die Forscher konnten sich einfach nicht vorstellen, dass Frauen sogar initiativ die Entwicklung vorantrieben. Dabei hatten Frauen, wie schon von mir ausführlich beschrieben, am meisten Grund dazu wegen der körperlichen Veränderungen rund um das Kinderkriegen. Es machte lange Zeit überhaupt keinen Sinn, in die Lösung der oft schwierigen Versorgungsfragen auch die Sexualität einzubeziehen.
Die Verbindung von Versorgung und Sex gehört aber für Männer bis heute zusammen und findet sich darum auch in der Wissenschaft wieder. Die Forscher konnten gar nicht anders, als dies über die Jahrtausende zu wiederholen und zu begründen und sich gegenseitig immer wieder darin zu bestärken. Es gab keinen Widerspruch, da Frauen in den letzten ca. 4.000 Jahren kaum Zugang zur Bildung hatten. Eine Tat wie die der Ministerpräsidentin von Neuseeland, Jacinda Kate Laurell Ardern, die auf dem Konferenztisch der UNO-Vollversammlung ihr Baby wickelte, ist noch nicht häufig wiederholt worden. Immer noch werden die täglichen Morde an Frauen in einer weniger schlimmen Kategorie verbucht als Morde von Rechtsradikalen oder Islamisten oder „normalen“ Verbrechern.
Diese Femizide gelten als „häusliche Gewalt“, als sei das etwas Normales, und die Taten werden in der Presse nicht erwähnt wie antisemitische oder salafistische Gewalttaten. Damit knüpft die Öffentlichkeit an die Rechte des griechischen und römischen Haushaltsvorständs an, des pater familias. Immer wieder ahndet die Justiz diese Verbrechen als weniger schlimm als die vorher genannten. Und da die Menschheit immer weiter wächst, nehmen auch die Zahlen der unterdrückten Frauen zu, und so sind sie quantitativ gesehen weitaus schlimmer dran als noch vor wenigen Jahrzehnten.
Wenn sich nun hoffentlich bald herausstellen sollte und auch von der Forschung anerkannt wird, dass die Entwicklung der Versorgung durch gleichwertige autonome Personen und die Entwicklung der Sexualität auf verschiedenen Schienen verlief, die allerdings später unglaubliche Verknotungen ergaben, dann muss endgültig Abschied genommen werden von den vielen Theorien, die zwar irgendwie immer im Vagen bleiben, aber auf jeden Fall auf die von Anfang an bestehende und gottgewollte Kleinfamilie hinauslaufen, mit der Frau an ihrem festen Platz. Die Gehirnwäsche wird weiter betrieben. Die Sache wird dadurch nicht einfacher. Damit hängt auch zusammen, dass es nach wie vor und in globalisierter Form immer noch die Prostitution gibt, die oft noch damit gerechtfertigt wird, der „erste Beruf der Frauen" gewesen zu sein, womit diese Praxis schon in Urzeiten verortet wird. Der erste Beruf wird der der Hebamme gewesen sein. Mit Fug und Recht können Frauen sich heute verbitten, dass bei feierlichen Anlässen auch in ihrem Namen auf die heutigen Religionen Bezug genommen wird, die ohne und gegen sie konzipiert wurden.
Vor mindestens fünfzehn oder zwanzig Jahren habe ich schon dafür plädiert, dass es statt eines Frauenministeriums ein Männerministerium geben sollte (bei FemBio). Der Aufruf wurde zwar von vielen Frauen in deren eigene Sprachen übersetzt, fand aber keinen Weg in die Öffentlichkeit, nicht einmal als diskussionswürdiges Kuriosum. Die Versorgung mit weiblicher Sexualität zu verknüpfen, ist ein männliches Hirngespinst, aber keine Forschung. Anders ausgedrückt: In den letzten Jahrtausenden haben es diese Männer nicht vermocht, sich eine Welt vorzustellen, in der sie keinen Zugriff auf Frauen haben und zwar überall und jederzeit.
Was die Evolutionsforschung, die Religionen und Politik vereint und bis heute unbewusst das Denken über Geschlechterfragen prägt, ist die in nahezu allen Gesellschaften prägende Überzeugung, dass die heute bestehenden Familienformen nicht nur uralt sind, sondern in ihren Grundformen unwandelbar.
Das funktioniert zwar nicht mehr richtig in der modernen Praxis und es gibt Hilfen und Erleichterungen, die den Status der Frauen anheben und hier und da auch die Lage der Kinder verbessern. Aber zu Feiertagen und religiösen Festen wird doch immer noch auf alte bewährte Familienformen verwiesen. Neue Möglichkeiten aktiv zu unterstützen, sichere Orte für die Kinder zu schaffen und auf wechselnde sexuelle Bedürfnisse einzugehen, scheint noch zu viel verlangt.
Natürlich ist es schön, wenn Menschen verschiedenen Geschlechts und Alters angenehme Formen des Zusammenlebens finden. Es gelingt aber den wenigsten der bald 10 Milliarden Menschen heute. Darum sollten sie wenigstens schon in der Schule lernen, dass die Unterdrückung der Frauen eine relativ neue Erscheinung ist und mit der "Natur des Menschen" nichts zu tun hat.
© Helke Sander Juni 2021
*Die Entstehung der Geschlechterhierarchie
als unbeabsichtigte Nebenwirkung sozialer Folgen
der Gebärfähigkeit und des Fellverlusts.
Ein Essay von Helke Sander
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