Helke Sander: “Der erste GAU”
(Kurze zusätzliche Erläuterung zu dem Thema „Tausch statt Arbeitsteilung“, beschrieben in meinem Buch "Die Entstehung der Geschlechterhierarchie“ (Verlag Zukunft und Gesellschaft, 2017), indem ich darauf eingehe, was dieser Unterschied für die Geschlechtergeschichte bedeutet.)
Die Allgemeinheit weiß heute mehr über das Zeitalter der Dinosaurier als über die Vorgeschichte der Menschheit und besonders der Frauen. Ausnahmen bilden einige wenige Berufe, die ständig mit der Vorzeit und deswegen immer mit anderen zu tun haben. Für die meisten Leute ist das Mittelalter sehr lange her und was davor liegt ist die Schöpfung, die Sintflut und verschiedene Eiszeiten. Die meisten Menschen bewegen sich bewusst hauptsächlich im Rahmen der letzten 2000 Jahre, auf die uns auch unsere Zeitrechnung täglich hinweist, und die Gebildeten fügen noch ein paar Jahrhunderte griechischer Kultur hinzu. Die ca. 4,5 Milliarden Jahre der Existenz unseres Planeten haben wir normalerweise nicht vor Augen. Mir sind die letzten ca. 5 Millionen Jahren relativ ständig präsent, in denen sich die diversen zukünftigen Menschenarten von den anderen Affen zu unterscheiden begannen und ihre atemberaubende Evolution antraten. Die Primatenforschung vermutet noch eine längere Zeit des gemeinsamen Sex zwischen Vorschimpansen und Vormenschen. Aber schon dieser Wimpernschlag mehr an Zeitbewusstsein, der mich begleitet, stellt viele Tatsachenbehauptungen über unsere Vorgeschichte infrage und ermöglicht vor allem eine neue Interpretation der Frauengeschichte. Da mehr Bildung zur Bewältigung unserer Probleme weltweit gefordert wird, könnte man damit anfangen, diese
Fehler zu korrigieren, so dass keine Frau mehr zu dem Glauben gezwungen wird, dass ihr Geschlecht schon immer das unterlegene war.
Die gängigen Fehlinformationen über unsere Herkunft werden einerseits viel gezielter verbreitet, als man sich das vorstellen mag, weil es ja „wissenschaftlich“ verbreitet wird und andererseits wird seit einigen tausend Jahren unbewusst die Rechtlosigkeit der Frauen als „natürlich“ vorausgesetzt, worauf sich das menschliche Zusammenleben immer noch weltweit begründet. Diese Ignoranz ist auch gerade bei Archäologen und Evolutionsbiologen weit verbreitet, die mit einer festen Vorstellung vom Wesen der Geschlechter arbeiten. Gewissermaßen über Nacht sollen unsere Vorfahren darauf gekommen sein, dass das Leben leichter würde, wenn die Frauen im Haus blieben und die Männer für die Weite verantwortlich waren. Heute noch wird in vielen Schulen der USA gelehrt und von hochrangigen Politikern (u.a. Mr. Pence, Vize-Präsident USA 2020), Evangelikalen, Mormonen und anderen Sekten in den USA geglaubt, dass Gott vor ca. 6000 Jahren die Welt erschaffen hat, Eva aus Adams Rippe entstand und deswegen ihrem Mann zu gehorchen hat. Das ist auch die Überzeugung orthodoxer Juden, die ebenfalls die Evolutionstheorie ablehnen. In Polen wird daran gedacht, diese an den Schulen nicht mehr unterrichten zu lassen, dasselbe plant man in der Türkei, und in Deutschland soll es ca. 1 Million Menschen geben, die ebenfalls an die Bibel und die Erschaffung der Welt an einem präzisen Datum durch Gott glauben. (Dies alles ist über umfangreiche Wikipedia-Einträge für Interessierte vielfach nachzulesen, darum erspare ich mir hier die Belege, die ansonsten im Buch nachzulesen sind).
Zudem gibt es massenhaft Bücher, die eine zeitlich ungenau als „früher“ und „Vorzeit“ eingeordnete Welt auch bildlich darstellen und behaupten, dass es schon in den als primitiv bezeichneten Zeiten Familienverbände gab, in denen die Männer als Ehemänner imaginiert werden und eine Art Kleinfamilie mit festen Rollenzuweisungen seit Urzeiten angelegt zu sein scheint. Mit diesem Bild will ich grundsätzlich aufräumen. Zur Definition der Kleinfamilie gehört unabdingbar, dass sie nicht nur eine Versorgungsgemeinschaft ist, sondern auch eine Sexualgemeinschaft. Das ist aus mehreren Gründen vor allem für die Frühzeit falsch, worauf ich im erwähnten Buch und in diesem Text noch ausführlicher eingehen werde. Sowohl die Primaten wie auch die Vormenschen sorgten über einige Millionen Jahre ausschließlich für sich selber. Alle suchten für sich selber nach Nahrung. Bei hauptsächlich vegetarischer Kost muss dauernd für Nachschub gesorgt werden. Schon allein aus diesem Grund bleibt keine Zeit, auch noch für andere zu sorgen. Alle waren hinter den gleichen Nahrungsquellen her. Die sogenannte Vormacht der sogenannten Alpha-Männchen war sehr beschränkt und sollte vor allem Sexualkonkurrenten in die Schranken weisen. Unsere Vormenschen lebten lange noch ähnlich wie die Tiere.
Es gab auch keinerlei Gründe für hierarchische Unterschiede. Darum ist es verwunderlich, dass sich die wenigsten ForscherInnen darüber wundern, wieso sich dieser Zustand änderte und sich langsam tatsächlich ein Zusammenwirken etablieren konnte. Das war nicht plötzlich einfach da, wie uns immer noch weisgemacht werden soll, sondern ein Jahrhunderttausende währender langer Prozess.
Der Zeitraum, in dem sich das änderte, war gekennzeichnet durch die Erfindung des Tauschs.
Das war ein ungeheurer Entwicklungsschub und wird in der Vorgeschichtsforschung nicht als die Sensation dargestellt, die es tatsächlich war. Immer noch wird vage von einer gewissermaßen „natürlichen“ irgendwann auftauchenden Arbeitsteilung ausgegangen, bei der die Rollen auf immer und ewig festgelegt zu sein scheinen.
Diese Zeit der Umwandlung von instinkthaften Beziehungen in soziale war ein wesentlicher Schritt auf dem Weg vom Tier zum Menschen. Und vor allem: Frauen und Männer entwickelten durch den Tausch eine neue Beziehung außer der sexuellen.
Bevor es aber zu dieser Umwälzung kam, hatte es schon viele Veränderungen seit der Trennung von unseren Affenvorfahren gegeben. Die zukünftigen Menschen konnten aufrecht laufen, hatten ihr Fell verloren, ihre Kiefer umgebaut, die Schwangerschaften verlängert, schwerere und unfertigere Kinder geboren, die längere Pflege brauchten, verschiedene Werkzeuge erfunden und, sehr wichtig: die Tätigkeiten von Männern und Frauen begannen sich sehr allmählich zu differenzieren, u.a., weil diese biologischen Veränderungen hauptsächlich Frauen betrafen. Viele Indizien weisen darauf hin, dass diese sensationelle Erfindung sogar von Frauen ausging, weil sie schon in Affenzeiten mehr als Männer untereinander kommunizierten und u.a. sich z.B. fremder Kinder annehmen konnten, wenn diese verwaist waren. Sie mussten Tragegestelle für die Kinder erfinden, weil diese sich nicht mehr im Fell festkrallen konnten. Außerdem sickerte es auch in tausenden von Jahren ins Bewusstsein aller, dass Frauen regelmäßig bluteten und sie dies mit den Mondphasen verband, was ein neues Gefühl für Zeit und Wiederholungen und ersten Vorstellungen von Kalendern vermittelte und ein Bewusstsein über Mensch und Kosmos entstehen ließ. Das sind Tatbestände, die im Lauf der Zeit bei allen gespeichert wurden und die Grundlage für ein wachsendes Bewusstsein und Gefühle bildeten. Aber diese von Frauen ausgehenden Erkenntnisse spielen in der Vorgeschichtsforschung praktisch keine Rolle. Da gehen alle Erfindungen und die Bilder der Erfindungen immer von Männern aus und begründen eine immerwährende Gehirnwäsche.
Warum ist nun die lange währende Erfindung des Tauschs so wesentlich und ein Fixpunkt auf dem Weg zur Menschwerdung?
Die Anfänge des Tauschs begannen wahrscheinlich damit, dass der Umgang mit natürlich entstandenem Feuer allmählich möglich wurde, was ungefähr in die Zeit vor frühestens 800.000 Jahren angesetzt werden kann. Möglicherweise kann die weitere Forschung dies genauer präzisieren. Wie schon gesagt, bis dahin sorgte noch jede und jeder für sich und teilte nichts mit anderen. Nur Mütter fütterten zusätzlich ihre Säuglinge und Kleinkinder.
Die Erfindung des Tauschs war eine Zäsur. Bis dahin lebten unsere Vormenschen im Augenblick. Sie suchten Nahrung, wenn sie Hunger hatten und das mehr oder weniger ständig. Die Erfindung des Tauschs machte sie zu denkenden gleichberechtigten Menschen.
Auf den ersten Blick mag man meinen, der Unterschied zwischen der sogenannten „natürlichen Arbeitsteilung“ und Tausch sei nicht bemerkenswert und bedeute mehr oder weniger dasselbe, und das Sensationelle dieser Erfindung mag sich nicht sofort erschließen. In Wirklichkeit aber war dieser Unterschied und die Entwicklung dorthin grundlegend für die Weiterentwicklung unserer Spezies. Das war kein einfacher Prozess.
Unsere Vorfahren vor 1 Million Jahren waren noch eng mit dem Tierreich verbunden. Es brauchte ein paar Jahrhunderttausende, bevor die Jagd auf Großwild verlässlich erfolg- und ertragreich wurde. Das Jägerlatein über Männergruppen, die Tiere anschleppten und so für den Großteil des Unterhalts sorgten, ist ein Produkt der Forschung. Dabei musste die Zusammenarbeit von Männern auch erst erfunden werden, sowie entsprechende Werkzeuge. Dass Männer zusammenarbeiten, ist in der Natur nicht die Regel. Löwinnen z.B. jagen zusammen und sind dabei erfolgreich, Löwen sind meist Einzelgänger und erlegen weniger. Dass Primaten sich etwas teilen, kommt gelegentlich in Zoos vor, wo ihnen die Nahrung verlässlich gebracht wird, aber selten in freier Natur. Natürlich war - und ist – , dass Lebewesen ihren Hunger stillen wollen und deshalb misstrauisch verfolgen, wenn einer mehr hat als der oder die andere. Darum sitzen Geier und Hyänen um ein Tier, das Löwen gerissen haben und versuchen, Stücke zu entwenden. Dass unsere Vorfahren den Tausch als ständige Einrichtung etablieren konnten auf ihrem Weg zur Menschwerdung, dazu brauchte es Verstand, Lernfähigkeit und lange Jahre des Übens. Natürlich war, etwas an sich zu reißen und nichts abzugeben, evtl. sogar vor anderen zu verstecken. Ein Tausch aber entsteht zwischen gleichberechtigten autonomen Partnern, die jeweils etwas haben, was die anderen begehren und nicht haben. Tauschen muss etwas Attraktives in Gang setzen. Tausch setzt außerdem die Autonomie der tauschenden Personen voraus. Sie sind Handelspartner auf Augenhöhe. Tausch bedeutet Denken. Ein Tausch musste ein grundsätzliches Misstrauen überwinden.
Vermutlich brauche es Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende, bevor sich das Vertrauen etablieren konnte und die Einsicht entstand, dass so ein Tausch das Überleben sichern konnte. Es kann sein, dass dies zunächst auch nur unter Frauen praktiziert wurde und Männer erst einbezogen wurden, als sie auch was zu bieten hatten. Die gegenseitige Versorgung mit Nahrung, die, wenn es nötig war, mal mehr von dem einen oder dem anderen Geschlecht zur Verfügung stand, war eine umwälzende Erfindung, die ungeheure Verstandeskraft voraussetzte und gleichzeitig allmählich auch ein neues Gefühl für Zeit etablierte, wenn z.B. der Tausch erst später eingelöst wurde. Eine Frau z.B. konnte einem Mann heute Früchte oder eine Maus geben und erst morgen oder noch später dafür etwas von seiner Beute bekommen, eventuell ebenfalls Früchte oder Kleingetier. Wenn es klappte, muss es ganz neue Gefühle der Freude ausgelöst haben, die als etwas Beglückendes gespeichert werden konnten.
Man muss sich auch von der Vorstellung trennen, dass Frauen und Männer jeweils ganz andere Nahrungsmittel tauschten. Es hing davon ab, was beide gerade fanden oder nicht fanden. Gegenstand des Tauschs war also nicht unbedingt, dass Männer Jagdbeute brachten und Frauen pflanzliche Nahrung.
Alle sammelten und alle jagten. Es war immer auch Glück im Spiel.
Die Propagandisten der „natürlichen Arbeitsteilung“ gehen oft genug noch davon aus, dass Frauen immer sammelten und Männer immer wertvolle Proteine jagten und damit nicht nur eine gegenseitige Versorgung verbunden war, sondern immer auch eine Sexualgemeinschaft. Warum diese dauernd genannte Verbindung von Versorgung und Sex bis vor kurzer Zeit – vor ca. 3-2000 Jahren - keine Rolle spielte, darauf gehe ich etwas später genauer ein.
Wichtig ist aber, dass sich die Tätigkeitsfelder von Männern und Frauen allmählich differenzierten, aus Gründen, die bei den Frauen mit Menstruation und Kinderaufzucht zu tun hatten. Es konnte
von allem genügend da sein, es gab hier und da Überschuss oder auch Mangel an dem, was beide Geschlechter sammelten und / oder jagten. Insofern war gegenseitige Unterstützung durch Tausch eine geniale Erfindung, die viel Zeit brauchte, bevor sie sich etablieren konnte und Verteilung nicht nur in Kämpfen um den eigenen Anteil endete. Der Tausch ist ein Verfahren, das auch heute noch in Notzeiten eine Rolle spielt, denken wir an die Schwarzmärkte nach dem 2. Weltkrieg, Nachbarschaftshilfe u.ä. Gewissermaßen gibt es immer wieder einen Rückfall in die Anfangszeiten der Menschheit.
Dies alles entstand aber noch nicht als Arbeit. Arbeit, wie wir sie verstehen, entstand überhaupt erst im Neolithikum und setzte schon ein kompliziertes Sozialleben voraus. Von einer „natürlichen Arbeitsteilung“ - ein marxistischer und oft noch verwendeter Begriff - konnte lange gar keine Vorstellung entstehen, da ja alle dasselbe machten, um sich zu ernähren. Das kann nicht oft genug wiederholt werden. Insofern gab es keine hierarchischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen.
Und, um es vorweg zu nehmen, in dieser Zeit, angefangen mit Versuchen zum Tausch vor ca. 800.000 Jahren bis zum Neolithikum, also vor relativ kurzer Zeit vor ca. plus minus 10.000 Jahren, gab es keine Frauenunterdrückung. Es ist eine Zeit des ständigen Fortschritts, in der die ursprünglich tierhaft lebenden Menschen immer mehr von ihrer früheren Autonomie an neue soziale Regeln abgaben. Dies hatte oft unabsehbare Folgen, so wie die friedlich gemeinte Atomkraft kein Tschernobyl vorhersah.
Erst um ca. 5000 v.d.Zt. begann sich abzuzeichnen, dass die Fortschritte, die Domestizierung von Tieren, Viehzucht, Landwirtschaft usw. die späteren Unterdrückungsmechanismen in sich bargen, die sich langsam zu einem System verfestigen konnten. Das sind zwar lange Zeiten, aber verglichen mit der Vorzeit kamen die negativen Einschläge auch immer schneller. Es brauchte weitere 3-2000 Jahre, bevor Frauen endgültig auf den zweiten Platz verwiesen wurden und im aufgeschriebenen Monotheismus seine behauptete Berechtigung fand. Ich beweise, wie die Entwicklung der Produktivkräfte, die ungeheure Sprünge machte, gleichzeitig der Anlass für diesen ersten Gau der Menschheitsgeschichte war, dem die Frauen, mitwirkend am Fortschritt, selber zum Opfer fielen.
Mein Ansatz war schon vor mehr als fünfzig Jahren, herauszufinden, wie es dazu kam, dass Frauen weltweit unterdrückt wurden und werden, ein Vorgang, den es in der Tiergeschichte nicht gibt. Inzwischen kenne ich die Gründe. Das Schweigen über die Anfänge des sozialen Lebens unserer Vorfahren beruht einerseits auf mangelnder Vorstellungskraft, genuin nur am Mann geschulten Wissen und dient andererseits auch bewusst der Aufrechterhaltung des patriarchalen Systems, da ja immer noch in der Literatur, in Fernsehsendungen über die Vorgeschichte u.ä. ständig auf die Vormacht der Männer bei allen Erfindungen hingewiesen wird.
Selbst weltberühmte Biologen wie E.O.Wilson schreiben die Evolutionsgeschichte der Menschheit, ohne das Wort "Frau" mehr als einmal zu erwähnen (Die soziale Eroberung der Erde, eine biologische Geschichte des Menschen. C.H.Beck, TB 2014): S.44, z.B: „Als nächster Schritt ... vollzog sich die Zusammenfindung zu kleinen Gruppen an den Lagerstätten. Diese Verbände bestanden aus ausgedehnten Familien sowie – das ist noch bei heutigen Jäger-und Sammler-Gesellschaften der Fall – aus außenstehenden Frauen, die für exogame Partnerschaften hereingetauscht wurden.“ Warum wohl sollten sich Familien bei noch tierhaft lebenden Individuen gründen, die ihre Frauen „bewusst“ von auswärts holten? Wenn Frauen von auswärts zu einer Gruppe stießen, dann war das freiwillig und wie schon erwähnt, waren diese Gruppen keine festen Verbände und zudem noch äußerst selten. Wie man sich dieses „Frauenholen“ durch einen Mann vorzustellen hat, bleibt vollkommen vage. Er konnte ja nicht mal sicher sein, in den dünn besiedelten Gebieten überhaupt auf eine andere Gruppe zu treffen.)
Um es noch einmal zusammenzufassen:
Ich beweise, dass am Anfang der sozialen Beziehungen zwischen sich selbst versorgenden Frauen und Männern nicht eine plötzlich erfundene Arbeitsteilung stand, die aus noch tierähnlichen Wesen gewissermaßen über Nacht Menschen machten, die ein geordnetes nach Regeln ablaufendes soziales Leben führten, sondern dass relativ spät in der werdenden Menschheit ein kompliziertes, auf Ausgleich beruhendes Tauschverfahren zwischen autonom handelnden Individuen erfunden wurde, was das Überleben in schwierigen Zeiten sichern sollte. Es war eine großartige, aber sich vermutlich einige Jahrtausende hinziehende Erfindung, bevor sie wirklich klappte und regelhaft ablaufen konnte.
Irgendwann noch später in der Menschheitsgeschichte war es dann soweit, dass sich in einzelnen Gruppen ganz verschiedenartige Regeln etablieren konnten, die eine gegenseitige Unterstützung vorsahen und sich auf die inzwischen etablierten hauptsächlichen Tätigkeiten der Geschlechter stützten. Das konnte kollektiv geschehen oder auch einzelne Männer und Frauen zu gegenseitiger Versorgung verpflichten. „Fleisch gegen Grütze“. Das wurde vermutlich mit Ritualen abgesichert und war der Beginn dessen, was wir heute Ehe nennen. Das schloss noch sehr lange nicht ein, dass diese Personen auch sexuell verkehrten oder wenn, hatte es keine weitere Bedeutung für die Tauschregeln. Darum ist es ja eine wirklich geniale und gleichzeitig naheliegende Idee gewesen, dass sich in vielen kleinen Gesellschaften die Brüder der Mütter als nächste Verwandte verantwortungsvoll gegenüber den Kindern ihrer Schwestern verhielten. Wir können wohl davon ausgehen, dass diese vielfach überkommene Sitte allein schon als Beweis herhalten kann, dass zwischen Kinderversorgung und Sexualität der Erwachsenen keine Reibungspunkte entstanden.
Was in der gängigen Evolutionsliteratur als Familie beschrieben wird, schließt unausgesprochen immer die Vorstellung mit ein, dass die gegenseitige Versorgung auch gegenseitigen Sex zur Bedingung hat. Das ist aber eine durch nichts bewiesene Annahme. Die frühere „Ehe“ hat allein mit gegenseitiger Versorgung zu tun, aber nichts mit Sexualität. Das muss nicht ausschließen, dass die Versorgungspartner auch miteinander Sex haben konnten und dabei möglicherweise mit der Zeit auch Vorlieben für bestimmte Individuen entwickelten, aber Sex war nicht reguliert oder mit Verboten versehen. Insofern sind alle Begriffe, die sich mit „Kleinfamilie“ so leicht assoziieren lassen und mit uralten Bestimmungen und Traditionen, die Frauen einen immer schon „natürlichen“ Platz zuweisen, nicht zutreffend.
Man darf sich für diese Vorgänge keinesfalls eine kontinuierliche Entwicklung vorstellen, sondern eine mit vielen Brüchen, mit aussterbenden Vormenschen, deren Erfahrungen und Erfindungen oft verloren gingen, um später und von anderen Gruppen neu erfunden und modifiziert zu werden. Die Menschheit bevölkerte sich Jahrtausende lang äußerst langsam. Es war gar nicht so einfach, sich überhaupt zu begegnen. Und es ist für uns heute äußerst schwer, uns diese langen Zeiträume überhaupt vorzustellen. Darum weise ich immer wieder darauf hin, wie lange eine neue Entwicklung brauchte, um es irgendwann zu begreifen.
Grundsätzlich gehe ich wie andere davon aus, dass unser Gesellschaftssystem als Teil der Säugetier-Evolution entstanden ist, deren Grundlage die Zweigeschlechtlichkeit ist. Zur Vermehrung war bis heute zwar der Geschlechtsverkehr notwendig und ist es mehrheitlich immer noch, aber der Sex selber war bis vor kurzer Zeit, d.h. ungefähr bis zum Neolithikum und der Erfindung der Tierzucht unreguliert, unterstand keinerlei Geboten und war eine Sache wie essen und scheißen und kaum einer Aufmerksamkeit der Beteiligten wert. Die ProtagonistInnen lernten im Laufe vieler Jahrtausende alle möglichen sie erfreuenden Praktiken mit unterschiedlichen Individuen. Wie vielfältig das schon im Tierreich sein konnte, zeigen uns die Bonobos.
(Unter Neolithikum kann man sich grob gerechnet die Zeit ab ungefähr 12.000 – 10.000 Jahren vorstellen).
Die Gebärfähigkeit wurde bei Schimpansenweibchen und vielleicht auch noch bei den sich entwickelnden Menschenfrauen durch die Regelschwellung angezeigt, die sich mit der Zeit bei den Menschen verloren hat.
In Primatengesellschaften fand Sex in vielen Variationen statt, ohne dass nach meinen Überlegungen bis zu der erwähnten Epoche bei den Menschen irgendein Augenmerk oder gar Verbote damit verbunden waren. Bis dahin hatte die Menschheit eine ungeheure Entwicklung mitgemacht: von den Affen zu denkenden Wesen mit Sprachen, Kunstwerken, sozialen Strukturen, und es gab nie einem Grund, von Primitivität dieser Vorfahren zu sprechen.
Wie immer in der Natur gab und gibt es ab und zu Sprünge, die Mutationen hervorrufen. Das heißt, dass es immer einige wenige Individuen gibt, deren Geschlecht biologisch uneindeutig ist. Ab einer gewissen Entwicklungsstufe wird dies den Betroffenen auch bewusst und die Abweichung vom „Üblichen“ wird als etwas besonders Privilegiertes oder Einschränkendes bis hin zur Ausgrenzung erlebt. Immer noch gibt es einige Gesellschaften, die nicht-diskriminierend mit Personen umgehen, die vom Regelfall abweichen. Und es gibt auch das Gegenteil: die Diskriminierung dieser Personen. Zudem gibt es zunehmend Menschen, die zwar ein eindeutiges Geschlecht haben, sich in ihm aber nicht wohlfühlen.
Die Notwendigkeit, sich mit Abweichungen überhaupt zu befassen, bestand und besteht im Grunde nur dann, wenn die betreffenden Gesellschaften starre Vorstellungen davon entwickelten, wie eine Frau oder ein Mann zu sein hat, was ebenfalls erst sehr allmählich zu Geboten und Diskriminierungen führte und sich über den sich entwickelnden Monotheismus in den meisten Ländern und in den Jahrtausenden nach den neolithischen Umwälzungen verfestigte. Sich als Frau oder Mann zu fühlen, dies gern oder ungern zu sein, hat meistens mit Reaktionen des Umfeldes zu tun. Nach Beginn der Frauenbewegung sagten z.B. viele Frauen, dass sie nun zum ersten Mal gerne eine Frau seien. Was meinten sie damit? Sie fühlten Vertrauen in sich, Erkenntnislust, Stärke. Eine Frau, die weniger verdient, zwangsverheiratet wird, beschnitten ist oder rechtlich nicht gleichgestellt, möchte vielleicht lieber ein Mann sein und fühlt sich zu Recht von der Gesellschaft benachteiligt. Wenn sie sich einen Schnurrbart ankleben würde, wäre sie immer noch kein Mann und würde finanziell nicht besser eingestuft. Auch heute noch ist das Zivilleben für Frauen gefährlich. In Deutschland wird nach den Untersuchungen von Prof. Dr. Kristina Wolff ca. jeden 2. Tag eine Frau von Ehemann, Exmann oder Freund umgebracht (2019 waren es 176 Frauen). Ein Mann, der militaristisch erzogen wird, von dem die Umgebung unbedingte Stärke oder Ehrgeiz erwartet, möchte vielleicht lieber eine Frau sein, von der dies nicht in dem Ausmaß verlangt wird. Vielleicht möchte er sich auch einfach nur schminken und Kleider tragen. Dazu könnte er auch Mann bleiben, wie die Frauen Frauen bleiben wollten, als sie anfingen, sich Bubiköpfe schneiden zu lassen und Hosen zu tragen. Ein Mann, der sich nicht den Normen unterwerfen will, die oft immer noch von ihm erwartet werden, könnte aufhören, diesen Vorbildern zu folgen (Neuerdings scheint das auch diskutiert zu werden, siehe: Nils Pickert: Prinzessinnenjungs. Beltz Verlag). Eine Männerbewegung wäre vermutlich effektiver als eine Operation und Geschlechtsumwandlung. Dass diese Menschen nicht diskriminiert werden dürfen, versteht sich in demokratischen Gesellschaften eigentlich von selbst, muss aber von den betreffenden Menschen sowohl psychisch verkraftet wie gesetzlich immer wieder erkämpft werden, was immer noch nicht selbstverständlich ist und zur Zeit z.B. in Polen für große Konflikte sorgt.
Dazu ist nun der Begriff LGBTIQ entstanden, also
Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Intersexuell, Queer.
Interessanterweise fehlt hier der Begriff H, Heterosexuell“, obwohl diese Sexualpraktik vermutlich nach wie vor die verbreitetste und die gesetzlich in vielen Staaten immer noch einzig erlaubte ist, ohne dass dies den einzelnen Menschen, die dies praktizieren, generell guttut. Ich rede hier von den Frauen, die weltweit mehrheitlich heute nach wie vor kein Recht dazu haben, überhaupt ein Bewusstsein über ihre Wünsche zu entwickeln, weil ihre Rechte entweder gar nicht vorhanden oder aber sehr eingeschränkt sind. Auch viele Männer müssen sich z.B. in vielen türkischen oder arabischen Gesellschaften einer rigorosen Heiratspolitik unterwerfen. Gleichzeitig ist es fast selbstverständlich, dass junge Migrantenmänner sagen, nie eine deutsche Frau heiraten zu wollen oder zu dürfen.
Insofern sind Aussagen wie z.B. von der Schauspielerin Cara Delevingne, die sich als pansexuell bezeichnet, blanker Unsinn, wenn sie sagt, dass sie sich mal als Frau, mal als Mann fühle. Was soll das heißen? Was für Gefühle sind das? Schon vor über 40 Jahren hat Valie Export in ihrem Film „Unsichtbare Gegner“ die Frage gestellt: Wann ist eine Frau eine Frau, wann ist ein Mann ein Mann?“ Eine kaum zu beantwortende Frage.
Wahrscheinlich ist das Gefühl, eine Frau oder ein Mann zu sein, nur beim Sex zu empfinden.
Das Problem beim Umgang mit dieser Begriffsbildung LGBTIQ ist, dass der Geschlechtsunterschied zwischen Frauen und Männern, auf der unsere ganze Evolution beruht, in diesem Rahmen gewissermaßen wegdiskutiert und als „biologistisch“ verworfen wird. Stattdessen wird das Hauptaugenmerk auf Sexualpraktiken und psychische Befindlichkeiten gelegt und daraus abgeleitet, dass das Geschlecht ein Konstrukt ist. Man geht dabei von Zuordnungen aus, die über ein paar kurze letzte 2-3-Jahrtausende eine wesentliche Rolle spielten und rechtlich fixiert wurden und von der Voraussetzung ausgingen, dass Frauen und Männer ganz unterschiedliche Charaktere und Eigenschaften besitzen, wodurch die unterdrückerischen Regeln legitimiert wurden.
Die verschiedenen Frauenbewegungen aus den letzten Jahrhunderten haben dies infrage gestellt und dafür gearbeitet, alte Rechte neu zu erwerben. Sich im falschen Körper zu fühlen, kann ja auch heißen, sich mit alten unterdrückerischen Vorstellungen der Gesellschaft zu identifizieren, darüber, wie eine Frau oder ein Mann zu sein hat.
Ob eine Operation dabei helfen kann, sich im richtigen Geschlecht zu fühlen, hängt von vielen Umständen ab, sicher aber auch von materiellen. Ein Mann, der zur Frau wird und nicht im Showbusiness arbeitet, wird sich wundern, wie er sich als Frau plötzlich unterbezahlt wiederfindet. Offenbar sind die Fälle nicht zu selten, dass Transmenschen ihre Operation am liebsten wieder rückgängig machen wollen. Dazu kommt ein neuer Begriff, der an Bedeutung gewinnt: die Intersektionalität. Das bedeutet im Groben, dass es viele gleichzeitige unterschiedliche Möglichkeiten der Diskriminierung gibt. Ein Mensch kann wegen seiner Hautfarbe, seines Geschlechts oder Einkommens diskriminiert werden. Der Fantasie, sich von immer neuen Unterdrückungen beherrscht zu sehen, sind kaum Grenzen gesetzt. Man kann sich auch wegen des Alters, einer Krankheit, eines Wohnortes oder Essgewohnheiten diskriminiert fühlen.
Früher hieß es dazu lapidar: Der Mensch ist die Summe seiner Widersprüche.
Die Gendertheorien haben im Grunde die Frauenbewegung entpolitisiert und lenken davon ab, dass die Mehrheit der „Frauen mit Menstruationshintergrund“ auf der Erde immer noch und mit steigender Weltbevölkerung sogar mehr denn je, nicht über ein Selbstbestimmungsrecht verfügen.
Beauvoir hat dieser These Vorschub geleistet mit ihrem missverständlichen Satz: »Man ist nicht als Frau geboren, man wird es.« Sie geht dabei selbstverständlich davon aus, dass Frausein etwas Minderwertiges ist und ist damit gewissermaßen d´accord mit Männer-Theorien über die Frauen seit Durchsetzung des Monotheismus. Sie hätte schreiben können: Man wird zum zweiten Geschlecht, zum minderwertigen Geschlecht, gemacht. (Durch Gewohnheit, Gesetze, Überlieferungen). Das hätte von Geschichtsbewusstsein gezeugt.
Wenn ein Mädchen heute geboren wird, hat sie mehrheitlich nicht eine selbständige Zukunft vor sich, wie noch unsere Vorfahrinnen, die sogar als Äffinnen selbständiger waren als allgemein Frauen nach der Zeit des Neolithikums.
Wir könnten es auch drastisch und selbstbewusst ausdrücken, indem wir konstatieren, dass unsere Vormütter ca. 5 Millionen Jahre lang autonom und selbstverantwortlich waren und ihre Rechte erst vor ca. 5.000 Jahren allmählich verloren. Brennpunkt dieser Umwälzungen war über einige Jahrtausende der Nahe Osten. Die Gründe dafür sind vielfältig und diese sich entwickelnde Ungleichheit ist anfangs nicht die Schuld männlicher Verursacher.
Es ist im Gegenteil zunächst eine lange unbewusst und ungewollt bleibende Folge der Entwicklung des Verstandes und damit einhergehend der neu entstehenden Arbeitsweisen. Vor allem Frauen hatten Probleme, die Männer nicht hatten und die Frauen mit Verstandeskraft lösten, wovon alle profitierten. Der schon erwähnte Fellverlust bei unseren Vormüttern führte z.B. zur Entwicklung von Tragetaschen für die Kleinkinder, die sich nicht mehr ans Fell klammern konnten und vermutlich auch zur Sprache. Erst im Neolithikum ergaben sich aus den schon differenzierten Tätigkeiten der Geschlechter erste Hierarchien, die die Frauen allmählich und zunächst unbemerkt zu Unterlegenen machten. In dieser Zeit entstand erstmals das, was als Arbeit und Arbeitsteilung bezeichnet werden kann. Die Zeit des gleichberechtigten früheren Tauschs, der erste soziale Beziehungen überhaupt ermöglichte, ging ihrem Ende entgegen.
Domestizierung von Tieren, Viehzucht, beginnende Landwirtschaft, Sesshaftigkeit, Arbeitsteilung und das entstehende Wissen über die Rolle der Väter bei der Zeugung veränderte grundlegend das gesamte Zusammenleben und gab zukünftigen Gesellschaften die Richtung vor.
Spielte bei den herumschweifenden Sammlervölkern Arbeitsteilung keine Rolle, weil ihre Tätigkeit eben noch keine Arbeit war, sondern wie bei den Tieren einfach das Leben, änderte sich dies nun grundlegend. Viehzucht erfordert Arbeit und Arbeitsteilung. Und weil der Umgang mit größeren Tieren sich hauptsächlich zu Männertätigkeiten entwickelt hatte, spielten sie auch bei der Viehzucht die größere Rolle. Sie brauchten Mitarbeiter, die auf Anweisungen hörten. Deshalb war es so wichtig, dass diese Männer über Söhne verfügten über deren Abstammung sie sicher sein konnten. Das trug dazu bei, auch die Frauen allmählich in dieses System zu integrieren und – gewissermaßen als Beiprodukt, sie zu unterwerfen. Die ersten Städte vor ca. 10.000 Jahren zeigen Frauen in den gefundenen Statuen noch als starke Mutterfiguren. Und es gibt in den verschiedenen Völkern immer noch heute nachweisbare Reste früherer Selbständigkeit wie z.B. Heiratsverträge aus Ägypten, die zugunsten der Frauen abgefasst wurden oder - auch dort - die Regel, dass die Pharaonen, um anerkannt zu werden, die Zustimmung ihrer Schwestern brauchten (Doris Wolf: Es reicht – 5000 Jahre Patriarchat sind genug/ DEWO Verlag Zürich). Nach anfänglicher Gleichstellung sollten viele andere Gruppen den Frauen in die Abhängigkeiten folgen und immer weitere Gebiete umfassen und auch die Männer nicht ungeschoren davonkommen lassen als Sklaven, einfache Krieger, Arbeiter usw. Bei jedem Entwicklungsschritt blieb bei allen ein Stück früherer Autonomie auf der Strecke und umfasst heute durch die Globalisierung die ganze Weltbevölkerung. Immer größere Gruppen von Menschen wurden durch andere dahingemordet, weil sie anders waren, wie Indianer, Hereros, Armenier, Juden, Kambodschaner, Ruander, Hutis. Der Sieg des Patriarchats kam gewissermaßen schleichend und wurde mit der Viehzucht besiegelt. Die Viehzucht war eine ungeheure Entwicklung und erlaubte das Zusammenleben von mehr Menschen als zuvor, weil sie nun ernährt werden konnten. Blieben der Regen oder Wasserquellen aus, kam es zu Kämpfen um dasselbe Stück Land, d.h. es kam zu Krieg und Verwüstung und Katastrophen, die immer mehr Menschen erfassten.
Jede Entwicklung hat eine Kehrseite, die häufig erst später erkannt wird. Das lässt sich auf einer ganz anderen Ebene, nämlich mit dem heutigen Restwissen über die verschiedenen Göttersysteme, die in dieser Zeit entstanden, verfolgen. Wurden zunächst Naturerscheinungen verehrt, Sonne, Mond, Sterne, Feuer, Wasser, andere Tiere und Pflanzen, so wurden allmählich konkrete Repräsentantinnen dieser Erscheinungen erschaffen, und zwar waren das weltweit über Jahrtausende ausschließlich Mutterbilder. Die Gebärfähigkeit der Frauen war das Wunder, das unmittelbar verstanden wurde und woran sich immer weitere Zusammenhänge knüpften. Es verband Frauen mit kosmischen Ereignissen, die Menstruation mit Mondphasen und entstehenden Kalendern und Springfluten. Geburt, Tod und Wiedergeburt, Sommer und Winter, Ernte und Vergehen können sich unmittelbar aus der Gebärfähigkeit der Frauen erklären, ebenfalls die mit Ocker gefärbten Gräber oder Höhlen, in denen diese Figuren oft gefunden wurden. Darum ist es eine eklatante Fehlinterpretation, diese Mutterfiguren mit dem Namen „Venus von...“ zu belegen, was Sex assoziiert. Diese neu entstehenden Bilder und Plastiken von Frauenfiguren verbreiteten keine Bilder von Herrschaft. Menschen, Tiere und Pflanzen waren nicht hierarchisch unterschieden. Die tausende gefundenen dicken, auf die Gebärfähigkeit weisenden Mutterfiguren stellten ein Stück Welterklärung dar. Sie stellten dar, was gedacht werden konnte: den Kreislauf des Lebens. In den vielen Auseinandersetzungen des Neolithikums, die durch die neuen konfliktreichen Arbeitsweisen entstanden, verloren die als weiblich vorgestellten Gottheiten allmählich ihre Macht. Die Figuren der Verehrung überhaupt als Gottheiten zu bezeichnen, zeugte schon von einem ungeheuren Abstraktionsvermögen, was auch erst im Neolithikum entstanden sein dürfte. In den alten, lückenhaft überlieferten Mythen von Sumerern, Babyloniern, später Persern und Griechen, lässt sich noch heute rekonstruieren, wie allmählich die Mutterbilder durch Männer, d.h. Vaterfiguren ersetzt wurden. Es war gleichzeitig die Zeit, als Männer ihre Mitwirkung bei der Befruchtung erkannten, was wesentlich dazu beitrug, ihnen einen neuen Status zu verleihen. Mit der Erkenntnis der Vaterschaft, mit dem Beginn von Arbeit und Arbeitsteilung entstanden allmählich und spät in der Geschichte, auch männliche Gottheiten. Sie spiegelten wider, was auf der Produktionsebene geschah. Die alten Mythen und Religionen erzählen von ständigen Kämpfen in den verschiedenen und doch ähnlichen Götterhimmeln zwischen Frauen und Männern. Es ging jahrhundertelang um die Vormacht, und die neuen männlichen Götter schreckten nicht vor Muttermord zurück und verdrängten die Göttinnen als gedachte Weltschöpferinnen. Das alles spielte sich vor allem in den nahöstlichen Gesellschaften ab, in denen schon seit Vorzeiten die Entwicklungen kulminierten, weil immer neue Völker mit eigenen Gottesvorstellungen die gleichen Gebiete durchzogen oder dort sesshaft wurden. Der Monotheismus mit dem einen männlichen Gott entwickelte sich in mehreren Gesellschaften, jedoch nicht ohne Widerstand. Er setzte sich schließlich nach einigen Vorläufen in Ägypten bei jüdischen Gruppen um ca. 1800 bis 1500 v.d.Zt. allmählich durch, während andere Völker im fruchtbaren Halbmond, in Griechenland, Rom und bei den nordischen Völkerschaften noch einige Jahrhunderte bei ihren alten Göttinnen und Göttern blieben. Allerdings gab es auch in den jüdischen Gesellschaften immer wieder Rückfälle in die alte Göttinnenverehrung, was in der biblischen Geschichte vom Kampf um das goldene Kalb deutlich wird. Das Kalb ist natürlich eine Kuh – schon ein gezielter Übersetzungsfehler - und als Kuh ein Bild der ägyptischen Muttergöttin und Weltschöpferin Hathor, die in anderen Gesellschaften des Nahen Ostens andere Namen trägt. Es ist die Geschichte einer Rückkehr zur Muttergöttin und des Aufstands gegen den EINEN GOTT, der bei Moses mit einem Gemetzel beendet wird, von dem nur die Mädchen verschont blieben, die noch nicht menstruiert hatten.
Das Alte Testament - aufgeschrieben vermutlich um 600 v.d.Zt. – also ca. 1000 Jahre nach allmählicher Übernahme des Monotheismus - zeigt schon den vollständigen Sieg des Patriarchats. Es geht davon aus, dass die Tiere dem Menschen untertan sind, es verfestigt eine totale Hierarchisierung der Gesellschaft, die Frauen sind selbstverständlich schon den Männern untertan, und ein Mann kann mehrere Frauen heiraten.
Es gibt nur eine Autorität, fixiert in dem einen männlichen strafenden Gott, der geradezu besessen davon ist, Andersdenkende zu vernichten oder deren Vernichtung gut zu heißen. In seinem Namen können alle anderen, die noch früheren und friedlicheren Überzeugungen anhängen, umgebracht werden.
Der Beginn der Frauenunterdrückung durch Fortschritt in den Produktionsweisen, den ich den ersten Gau der Menschheitsgeschichte nenne, wird abgerundet oder vollendet durch den Monotheismus.
Heute haben die meisten Menschen nicht mal mehr eine Ahnung davon, dass es vor dem Patriarchat und Monotheismus eine vermutlich friedlichere Zeit gab, die noch nicht beherrscht war von dem monotheistischen Glauben, sich die Erde und das Vieh untertan machen zu müssen, was die neuen Arbeitsorganisationen überhöhte und scheinbar göttliche Erklärungen und Verhaltensregeln lieferte. Aber, wie schon gesagt, ein Zurück gibt es auch nicht, ebenso wenig wie einzelne Schuldige. Unser Verstand steht nicht still und gebiert nicht nur Fortschritt, sondern laufend Ungeheuer – bis heute. Die Religionen beziehen sich auf ihren Anfangsmythos, und sie haben es geschafft, dass die meisten heutigen Menschen ihr Zeitgefühl damit verbunden haben. Darum konnten sich abweichende Meinungen gewissermaßen nur auf der Grundlage dieser Religionen entwickeln, und so sind auch freundliche Rituale, Kunstwerke, Traditionen, neue Denkmuster, immer im Rahmen der vorgegebenen Zeithorizonte und auf der Grundlage dieser Religionen zu verstehen. Was davor existierte, ist gewissermaßen im Bewusstsein nicht (mehr) vorhanden.
Dass Frauen weniger galten als Männer wurde Allgemeinwissen und ist noch heute Standard in vielen Gesellschaften, wie z.B. in Albanien. („Die Frau - ein Schlauch, in dem Waren transportiert werden“). Während verbale Angriffe an Ausländern z.B. einen Pressebericht wert sind, gelten die vielen Frauenmorde als „häusliche Gewalt“ und damit als etwas quasi Unabänderliches, und es braucht private Initiativen, um sie überhaupt bekannt zu machen. Mit der Bezeichnung "Femizid" ist diese Praxis heute immerhin an die Öffentlichkeit gedrungen.
Die wenigen Menschen, die an dieser Einteilung der Welt ihre Zweifel zeigten, wurden ausgegrenzt oder ermordet. Uraltes Wissen wurde vernichtet (z.B. viele antike Bibliotheken durch Christen), und so ist es im Prinzip bis heute geblieben. Das kann man schon daran erkennen, mit wie wenig Neugier erforscht wird, warum und wie es dazu überhaupt kam, dass unsere Vormenschen allmählich ihr instinkthaftes Verhalten aufgaben und neue soziale Umgangsformen erfanden.
Warum diese Katastrophe, die geistig zum Monotheismus und praktisch zur Frauenunterdrückung und Arbeitsteilung mit all ihren Konsequenzen führte, eine Entsprechung auf der sich gleichzeitig großartig entwickelnden Produktionsebene hat, beschreibe ich in meinem Buch. Beide Ebenen sind eng miteinander verknüpft.
Dies vorausgeschickt, macht hoffentlich deutlich, dass der neue Kampfbegriff LGBTIQ zwar dazu taugen kann, bestimmte Diskriminierungen zu bezeichnen und zu bekämpfen aber nicht dazu, die 2-Geschlechtlichkeit überhaupt infrage zu stellen.
Immer wurde allerdings auch gegen diese strengen Regeln protestiert, wenn auch oft mit den falschen Mitteln und Vorstellungen. Abgesehen davon, dass in vielen Gesellschaftsschichten in patriarchalen Zeiten ein gewisser Status erreicht worden sein musste, bevor überhaupt ein Hausstand gegründet werden konnte, wurde nicht nur für Frauen, sondern auch für viele Männer die freie Sexualwahl begrenzt. So konnte auch später bei bürgerlichen Männern und Frauen das Konzept der neuen Liebesheirat entstehen. In jungen Jahren stand bei den potentiellen Brautpaaren oft nicht mehr die Versorgung an erster Stelle, sondern die sexuelle Anziehung, die mit Liebe übersetzt oder verbrämt wurde – und sich tatsächlich auch hier und da entwickelte. Bei Frauen, kaum bei Männern, kam der Wunsch hinzu, mit der Liebesheirat auch geistig einen gleichberechtigten Austausch mit dem Mann zu erwerben.
Das beruhte zum großen Teil auf Irrtum, der bis heute nicht wirklich analysiert wird. Zwar nehmen Scheidungen, die heute immerhin möglich sind, zu – in Deutschland werden ca. 40 % aller Ehen geschieden - vor allem dann, wenn Probleme in der gegenseitigen Versorgung und der Kindererziehung nicht mehr durch Sexualität und gegenseitige Anziehung ausgeglichen werden können. Die Steinzeit, die mit ihrer freien Sexualität noch in uns allen verdeckt oder verschüttet schlummert, hat sich noch nicht wirklich Bahn gebrochen und Formen ermöglicht, die Versorgung und Kindererziehung und sexuelles Begehren in neue harmonische und getrennte Bahnen lenken würde. Patchwork-Gemeinschaften bilden interessante Versuche. Allerdings stellen auch sie nicht den Doppelpack: Versorgung + Sexualität infrage.
Soweit ich weiß, gibt es kaum leibliche oder auch angenommene Eltern, die sowohl für die Kinder sorgen, als auch ein eigenes, davon unabhängiges Sexualleben führen. Dazu müsste schon die Wohnungspolitik andere Zeichen setzen.
Diese Fragen wurden 1968 mit der entstehenden Frauenbewegung und der Studentenbewegung erstmals aufgenommen und haben immerhin dazu geführt, dass es heute funktionierende Wohngemeinschaften gibt.
Allerdings gab und gibt es noch keine Antworten auf das Dilemma Begehren – Kinder – Versorgung. Es war noch zu schwer und ist es offenbar immer noch, praktische Konsequenzen daraus zu ziehen, dass Frauen zwar ein eigenes Begehren zugestanden wurde, aber die gesellschaftlichen Folgen daraus nach wie vor verdrängt werden.
Nach der Erfindung der Liebe als Grund für die Ehe war die Sexualität der Frauen zwar nun gewissermaßen freiwillig, aber doch ausschließlich an den geheirateten Mann gebunden und musste es auch bleiben, auch wenn das Begehren längst erloschen war. Für Männer galt und gilt das in der Praxis nicht. Dazu ist die Prostitution zu weit verbreitet. Menschen, die dennoch als Paar friedlich und gerne über Jahrzehnte zusammenbleiben und sich nach wie vor guttun, sind ziemlich selten, zu beneiden und zu bewundern. Sie haben Fähigkeiten entwickelt, sich gegenseitig zu respektieren, Widersprüche auszuhalten, Kompromisse zu schließen und einander auch bei Auseinandersetzungen zu vertrauen. Dies ist wirklich selten, aber es kommt glücklicherweise auch immer wieder vor. Aber die Mehrzahl der Menschen betrifft es leider eben nicht.
Die formelle Gleichberechtigung gibt bei diesen Liebesheiraten den Frauen oft das Gefühl, dass dies automatisch auch den gleichberechtigten intellektuellen Austausch mit dem Mann nach sich zieht. Dieser Anspruch soll durch häufig gewaltsame Strategien durchgesetzt werden. Dazu gehört meiner Meinung nach die seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts entstandene Sitte, Männer in die Geburtsvorbereitungen einzubeziehen und sie bei der Geburt dabei haben zu wollen. Manche Männer sehen dies auch als ein Recht an und verlangen dies. Entstanden ist dies wahrscheinlich als eine Forderung von Frauen, die Männer in die Kindererziehung mehr integrieren wollten. Jetzt ist es offenbar ein eine Sitte, der sich kaum ein Mann entziehen kann. Jahrhunderttausende lang ist es Frauen nicht in den Sinn gekommen, Männer bei der Geburt dabei haben zu wollen. Die Männer hüteten örtlich getrennt z.B. ihr Männerkindbett. Geburtshelferinnen waren Frauen – lange vor der Prostitution entstanden, ist dies „das älteste Gewerbe“. Was sich heute abspielen mag an unterdrückten Rücksichten und Lügen zwischen Frau und Mann bei der Geburt, wäre der Aufklärung wert. Ob sich die Frau auf die Geburt konzentrieren kann, wenn sie möglicherweise damit befasst ist, ob sie in dieser Situation auch noch attraktiv ist und ob sich der Mann letztlich ekelt, fürchtet oder ohnmächtig wird - alles ist möglich. Der Gedanke, alles miteinander teilen zu wollen, scheint mir etwas kurz gedacht. Einem ondit zufolge scheitern ca. 30% der Ehen nach diesen gemeinsamen Geburts-Erfahrungen.
Man kann also sehen, dass die Geschichte für die Frauen seit dem Neolithikum gewissermaßen falsch verlaufen ist. Es wäre schön, wenn Historiker ihr Interesse allgemein etwas zurückverlegen und nicht immer wieder die „Zivilisation“ mit den Griechen anfangen lassen würden wie noch vor einigen Wochen wieder auf dem Sender Phoenix.
Tatsächlich konnte sich in der Zeit, als die Menschen noch sammelnd und hier und da jagend durch die Landschaft zogen und sich vor wilden Tieren fürchteten, die Vorstellung eines Paradieses entwickeln, weil bis dahin das Leben für Frauen und Männer nicht durch hierarchische Unterschiede gekennzeichnet war.
Dies alles kann gewusst werden, wenn man sich für die Umwälzungen in der Vorzeit interessiert, weil sie die Gegenwart immer noch prägen. Das geförderte Desinteresse an diesem ersten Gau der Menschheitsgeschichte ist enorm und hat ebensolch enorme Auswirkungen auf die Philosophie heute.
Wenn überhaupt, dann wachsen die meisten Menschen mit dem Wissen auf, dass die lange Zeit ca. 2000 Jahre zurück, mit der unsere Zeitrechnung beginnt und noch ein paar Jahrhunderte griechischer Kultur davor, ein vollkommen neues Zeitalter begründete, das überhaupt erst eine Zivilisation schuf und alles, was davor existierte, für primitiv erklärt. Die gewaltige Bedeutung, die der griechischen Kultur in der Menschheitsgeschichte zugewiesen wird, steht in keinem Verhältnis zu der Bedeutung der Zeiten davor.
Wenn die Politik sich heute auf die christlich - jüdischen Werte beruft, auf den Koran oder einige andere Religionen, dann beruft sie sich auf Systeme, die die Rechtlosigkeit der Frauen schon voraussetzen und die vor den weltgeschichtlich kurzen ca. 3000 Jahren zumeist im fruchtbaren Halbmond entstanden und seitdem nicht aufhören, die westliche Welt zu prägen. (Wer mehr über die Entwicklung der Götterwelten wissen will, möge sich den Schriften von Kirsten Armbruster zuwenden - diverse Titel über Internet - die die Kämpfe innerhalb der verschiedenen Systeme bis zur Etablierung des Monotheismus verständlich herausgearbeitet hat).
In meinem Buch habe ich die Zeit des Neolithikums zwar als eine Zeit ungeheurer Entwicklung beschrieben, aber eben auch als ersten Gau der Menschheitsgeschichte. Immer blieben mit jeder neuen und erleichternden Erfindung kleine unbewusst bleibende Folgen zurück und verringerten gleichzeitig immer auch ein Stück Selbstbestimmung der Menschen und gaben es ans Kollektiv ab. Diese verdrängten Folgen brachen von Zeit zu Zeit ins Bewusstsein, machten Revolutionen möglich, die wieder neue Ungerechtigkeiten schufen, manche Erleichterungen brachten, die wiederum ihrerseits nicht Begriffenes unterdrückten.
Anders als Tiere, die auf neue äußere Begebenheiten mit biologischen Veränderungen reagierten, haben Menschen ihren Verstand entwickelt. Der hat uns ungeheure technische Erkenntnisse und Erleichterungen gebracht, aber auch Überbevölkerung, Klimakrise, Flüchtlingsströme, Netzverbrechen, unendliche Kriege – nichts davon war gewollt, war aber immer eine Folge von Fortschritt.
Menschenfrauen haben ca. 5 Millionen Jahre gebraucht, um im Jetzt zu landen. Immerhin können wir inzwischen mit guten Gründen darauf verweisen, dass die herangezogenen Beweise fake-news sind, wenn uns immer neu weisgemacht werden soll, dass Frauen-Unterdrückung natur-oder gottgegeben sein soll. Sie macht auch längst keinen ökonomischen Sinn mehr, weil niemand mehr stark sein muss, um muskelbepackt Keulen zu schwingen und Tiere zu erlegen.
Die Entwicklung des Verstandes machte uns zu Menschen. Frauen haben aufgrund neu entstehender biologischer Probleme dazu einen wesentlichen Beitrag geleistet. Ob alles noch zu einem guten Ende taugt, da habe ich meine Zweifel. Aber vorher sollte das immerhin gewusst werden.
Helke Sander © 2020
Keine Kommentare
Nächster Eintrag: Klatschen am Fenster reicht nicht
Vorheriger Eintrag: Humboldt-Forum: Vorschlag zur Schloss-Beschriftung