Fembio Specials Frauenbeziehungen Marlene Stenten Luise F. Pusch: Marlene Stentens "Großer Gelbkopf" als Parabel der schwulen Existenz
Fembio Special: Frauenbeziehungen
Luise F. Pusch: Marlene Stentens "Großer Gelbkopf" als Parabel der schwulen Existenz
Wir schreiben das Jahr 1994, ein Vierteljahrhundert “nach Stonewall”: Am 28. Juni 1969 setzten sich Schwule, überwiegend Schwarze, gegen die Übergriffe von Polizisten zur Wehr, die die Stonewall Inn in der Christopher Street in New York City heimsuchten. Die Barbesitzer und ihre Kunden nahmen die Demütigung nicht mehr hin wie sonst, sie wehrten sich. Dieses Ereignis markiert international den Beginn der Befreiungsbewegung der Lesben und Schwulen (Gay Liberation Movement).
1971, zwei Jahre nach Stonewall - ein Ereignis, das in Deutschland allerdings noch kaum Konsequenzen gezeitigt hatte - erschien Marlene Stentens Buch Großer Gelbkopf. Ich besitze ein zerlesenes Exemplar der Erstausgabe und finde auf dem Umschlag folgende Angaben:
Richard Baudemann, ein junger Lehrer mit Frau und Kindern, hat eines Tages Schmerzen in den Schultern und geht zum Masseur. Das ist der Anfang vom Ende eines bürgerlich geordneten Lebens. Richard verliebt sich in seinen Masseur, fängt ein Verhältnis mit einem seiner Schüler an, verläßt Frau und Kinder, tritt in einem Kabarett auf, wird der Geliebte eines reichen Schweden und endet, alternd, als Küchenfrau in Stockholm. Marlene Stenten erzählt diese Geschichte als sei sie alltäglich. Homosexualität ist für sie nicht eine anrüchige Verirrung, eine schmutzige Sensation; sie ist eine Möglichkeit der Liebe, nicht mehr, nicht weniger. Insofern ist “Großer Gelbkopf” eine Liebesgeschichte, also eine Geschichte, in der Liebende enttäuscht werden. Die Gewöhnlichkeit dieser Enttäuschung, ihre Ursachen und die Kälte, die übrigbleibt: beides ist selten so beiläufig, aber auch, bei aller Verzweiflung, mit so viel Komik beschrieben worden.
Es ist interessant, welche Akzente diese antiseptische Kurzbeschreibung setzt und welche wir heute setzen würden, aus der Rückschau nach 25 Jahren Befreiungskampf. Der Text stellt fest, daß für Marlene Stenten Homosexualität “eine Möglichkeit der Liebe sei, nicht mehr, nicht weniger”. Marlene Stenten hat in den Büchern, die diesem Erstling folgten - Baby, Puppe Else, Die Brünne, Salome 79, Albina und Hallo Mäuschen - gezeigt, daß es ihr nicht um “Homosexualität” (geschlechtsneutral) geht, sondern um lesbische Liebe, und daß diese für sie nicht “eine Möglichkeit der Liebe” ist, sondern ihre Möglichkeit der Liebe, die sie mit einem beträchtlichen Teil der weiblichen Bevölkerung teilt. Es schreibt hier also nicht eine heterosexuelle Autorin, die liberal, tolerant und offen genug ist, um nach einem neugierigen Ausflug in die Welt “anrüchiger Verirrungen” und “schmutziger Sensationen” das Thema Homosexualität “literatur- und salonfähig” zu machen. Es schreibt eine lesbische Autorin von 36 Jahren, Jahrgang 1935 - also eine Frau, deren Adoleszenz in die frühe Nachkriegszeit fiel, die Ende der erstickenden fünfziger Jahre Mitte zwanzig war, und die auch die kaum weniger furchtbaren (für Lesben und Schwule jedenfalls) sechziger Jahre durchgemacht und irgendwie überlebt hatte.
Der Umschlagtext versichert treuherzig (damit die erhofften zahlreichen Käufer nicht von vornherein zurückschrecken), Großer Gelbkopf sei “eine Liebesgeschichte, also eine Geschichte, in der Liebende enttäuscht werden”. Die literarische Gestaltung einer schwulen Obsession (damals wie heute ein Ereignis, auf das die Gesellschaft gern mit schärfster Ächtung reagiert), die wie zwangsläufig in Wahn, Verzweiflung und Auflösung endet, wird hier verkürzt auf “eine Geschichte, in der Liebende enttäuscht werden” - wie das halt so geht bei Liebesgeschichten, oder? Das ist, wie wenn man eine literarische Darstellung des Holocaust als “Kriminalgeschichte, also eine Geschichte, in der Verbrecher und Leichen vorkommen” charakterisieren würde. In der ehrenwerten Absicht, die Liebe zwischen Schwulen als “ganz normal” zu verkaufen, wurde die wesentliche Dimension des Romans und der conditio homosexualis überhaupt ausgeblendet.
Diese Dimension faßte Rosa von Praunheim in seinem Filmtitel so zusammen: “Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Welt, in der er lebt.” Der Versuch, Großer Gelbkopf als “Liebesgeschichte” und die “Enttäuschungen” als “gewöhnlich” einzuordnen, illustriert nur den ersten Teil dieses Satzes: “Der Homosexuelle ist nicht pervers.” Es fehlt in jenem Umschlagkommentar aber jeder Hinweis auf das “Pervers ist die Welt, in der der Homosexuelle zu leben gezwungen ist”.
Ich lese Marlene Stentens Roman im Sinne eines meiner Lieblingssätze von ihr. Irgendwo schreibt sie: “Wie du mir, so ich mir.” “Die Kälte, die übrigbleibt” in dem Roman ist eben keine “gewöhnliche”, genau wie die Enttäuschung keineswegs eine gewöhnliche ist. Es ist die Selbst-Vereisung, die jemand an sich vollzieht, damit er die Schnitte ins Fleisch nicht mehr spürt, die eine feindselige Umwelt ihm zufügt, sowie er sich eine Blöße gibt. Und ob er sich eine Blöße gibt, bestimmt die feindselige Umwelt, nicht Richard, deshalb ist eine Ganzkörpervereisung schon das sicherste.
Enttäuschung, Kälte, Verzweiflung werden “beiläufig” geschildert - in der Tat, mit derselben Beiläufigkeit nämlich, mit der Enttäuschung, Kälte und Verzweiflung den “Anrüchigen” von der feindlichen Umwelt als Lebensraum zugewiesen werden. Wie du mir, so ich mir. Die Personen des Romans sind keineswegs Sympathieträger, sie sind Beschädigte: entweder schwach, besessen, ausgeliefert, verwirrt und verworren wie Richard, herausfordernd, zudringlich und tyrannisch wie der Schüler Arndt, fischig-glitschig und spießig wie der Sugar Daddy Lar oder ungreifbar, undurchschaubar, verwirrend, ja dämonisch, wie der geliebte Panac, sein Doppelgänger (?) Fülop oder der “Große Gelbkopf” selbst:
In der Dämmerung ... hatte sich das schöne Lächeln auf Jozefs Gesicht verloren; plötzlich hatte er die Augen des Vogels, der in seinem Zimmer hing [eine Große Gelbkopf-Amazone], den kalten Blick des Vogels, der Richard frösteln ließ. Er hatte das Foto wieder eingesteckt; vermutlich, hatte er gedacht, liegen die Veränderungen des Fotos an mir.
Richard hat nicht nur unter Kälte bis zur Verzweiflung zu leiden; er hat vor allem auch kognitive Probleme - das ist seine auffälligste Eigenschaft und die zentrale Aussage des Romans. Marlene Stenten nimmt mit ihrer Analyse der Homosexualität als eines im wesentlichen kognitiven Problems der Gesellschaft, das bei den in die Versenkung, ins Closet, gezwungenen Opfern wiederum massive kognitive Probleme zeitigt, Ideen der “Queer Theory” um 20 Jahre vorweg.
Richards Wirklichkeit ist nicht stabil, sie verwischt und verschiebt sich, bevor sie sich schließlich ganz auflöst und er in ihr. Er hat sich in seinen Masseur, Jozef Panac, verliebt, der gemeinsam mit seinem weit weniger liebenswerten Bruder Karel eine Massagepraxis betreibt. Richard nimmt alle möglichen Anstrengungen und demütigenden Ausreden auf sich, um von Jozef massiert zu werden, gerät aber leider regelmäßig an Karel. Er verliert alle Hoffnung, wird sich selbst gleichgültig, der Abstieg beginnt. Erst wird er die sexuelle Beute eines erfahreneren älteren Schülers, und nach einer kurzen Karriere als Schmierenschauspieler bekommt er das Angebot, von einem reichen Schweden ausgehalten zu werden. Ein goldener Käfig. Bevor er dies Angebot annimmt, will er sich vergewissern, ob Jozef nicht vielleicht doch zugänglich ist. Es empfängt ihn dessen Bruder Karel. Der eröffnet ihm, es gäbe keinen Bruder, er, Karel-Jozef Panac, habe diese Massagepraxis immer allein betrieben.
Marlene Stenten verrät nicht, ob Richard sich irrt oder ob er betrogen wurde. Warum aber hätten die Massagebrüder Karel und Jozef ein solches Spiel mit ihm treiben sollen? Wenn sie selber schwul sind oder einer von ihnen, haben sie allen Grund für ein “Spiel”, eine Fassade, die die schwule Realität versteckt. Richard, der einen Blick hinter die Fassade getan hat, muß mit allen Mitteln draußen gehalten werden. Gesetzt den Fall aber, es gibt tatsächlich nur einen Panac und kein Bruderpaar, so ist es wiederum nicht unverständlich, wenn Richards Realitätssinn mitsamt seiner bürgerlichen Realität aus den Fugen gerät. Richard wagt den Mann, in den er sich anstößigerweise so heftig verliebt hat, ja gar nicht anzusehen, aus tiefer Scham, aus Angst, sich zu verraten. Die aus der Wahrnehmung ausgeklammerte Realität kann nicht mehr als Korrektiv wirken. Je weniger Richard sich das genaue Hinsehen erlauben kann, umso grotesker muß sich seine Phantasie entfalten.
Es bleibt sich im Endeffekt also gleich, ob Richard das Opfer einer Selbsttäuschung oder einer Täuschung ist. Beides ist unmittelbare Folge des Schwulseins, denn Schwulsein bedeutete, vor Stonewall, vor allem: ein Doppelleben führen müssen, täuschen und getäuscht werden. Zu der Zeit, als Marlene Stenten ihren Roman schrieb, war ein Coming Out (den Begriff gab es ja noch gar nicht) gleichbedeutend mit gesellschaftlichem und/oder beruflichem Selbstmord. Gay pride?? Ein Widerspruch in sich.
Und folgerichtig zeigt Stenten uns eine Subkultur mit allen Anzeichen einer durch die unerbittlichen Gesetze des Closet gezeichneten und beschädigten Identität und Denkstruktur: Ihre Welt der Schwulen ist kalt, ablehnend, ausbeuterisch, schillernd, unfaßbar, gefährlich, erniedrigend, letztlich mörderisch und selbstmörderisch.
Stentens Großer Gelbkopf gilt inzwischen als Klassiker der schwulen Literatur in deutscher Sprache. Schwule Leser wollten es nicht glauben, daß dies Buch von einer Frau stammen sollte, so genau fanden sie sich darin wieder.
Die “Täuschung”, das erzwungene Versteckspiel ist also auch hier gründlich gelungen, wie schon in Wildes Salome, Prousts Recherche, Capotes Breakfast at Tiffany's, Carson McCullers’ The Heart is a Lonely Hunter und Reflections in a Golden Eye, Yourcenars Mémoires d'Hadrien und Mary Renaults Romanen über das klassische Griechenland. Interessant, daß so viele schwule Schriftsteller ihre Geschichten ins Heterosexuelle transponierten, lesbische Schriftstellerinnen hingegen eher ins Schwule.
Großer Gelbkopf ist also nicht nur eine Studie über schwule Täuschung, Selbsttäuschung und Enttäuschung, der Roman ist, biographisch gesehen, selbst eine Täuschung, sicher nicht nur zu Tarnungszwecken - ein seltenes, fast schmerzhaftes Beispiel für vollendete Übereinstimmung von Form und Inhalt.
(Vorwort zur Wiederauflage (1994) von Marlene Stentens Großer Gelbkopf (Erstausgabe 1971). Zürich. Eco Verlag. S. 5-11. Nachdruck in Luise F. Pusch, Die Frau ist nicht der Rede wert: Aufsätze, Reden und Glossen. Frankfurt/M. 1999. Suhrkamp TB 2921)
Sollten Sie RechteinhaberIn eines Bildes und mit der Verwendung auf dieser Seite nicht einverstanden sein, setzen Sie sich bitte mit Fembio in Verbindung.