Fembio Specials Frauen aus Frankfurt am Main Bettine von Arnim Lexikoneintrag in Killys Literaturlexikon
Fembio Special: Frauen aus Frankfurt am Main
Lexikoneintrag in Killys Literaturlexikon
Arnim, Bettine von (getauft: Catharina Elisabetha Ludovica Magdalena), * 04.4.1785 Frankfurt/M., † 20.1.1859 Berlin; Grabstätte: Wiepersdorf/Jüterbog. – Erzählerin.
A. stammte aus einer in Frankfurt/M. etablierten ital. Familie. Der Vater Peter Anton Brentano hatte in zweiter Ehe die Tochter von Sophie von La Roche, Maximiliane, geheiratet. Das später von A.s Brüdern geleitete »Haus zum Goldenen Kopf« war die Zentrale einer prosperierenden Ex- u. Importfirma, von der ein beträchtl. Erbteil auf A. überging. Nach dem Tod der Mutter wurde A. zunächst (seit 1794) im Pensionat des Ursulinenklosters in Fritzlar, dann (seit 1797) von ihrer Großmutter La Roche in Offenbach erzogen. Seit 1802 lebte sie überwiegend in Frankfurt, wo sie Privatunterricht (u.a. in Kompositionslehre u. Zeichnen) erhielt. Wesentlich für ihren Werdegang war die sich 1799 entwickelnde intensive Geschwisterliebe zu Clemens, die im Jugendbriefwechsel der beiden dokumentiert ist. Später veröffentlichte A. selbst diese Korrespondenz u. d. T. Clemens Brentanos Frühlingskranz aus Jugendbriefen ihm geflochten, wie er selbst schriftlich verlangte (Charlottenburg 1844). Seit 1799 war sie auch mit der Schriftstellerin Karoline von Günderrode eng befreundet, deren Freitod in Winkel am Rhein (1806) sie sehr bewegte. Der Briefwechsel mit ihr ist Grundlage von Die Günderode (2 Bde., Grünberg u. Lpz. 1840). Die enge Beziehung zu Goethes Mutter (seit 1806) u. schließlich auch zu Goethe selbst (Besuche in Weimar 1807, 1810 u. 1811) ist Gegenstand der bekanntesten Publikation A.s: Goethes Briefwechsel mit einem Kinde (3 Bde., Bln. 1835). Der Briefwechsel ist – ebenso wie die beiden zuvor genannten – stark überarbeitet, um später entstandene Teile ergänzt u. zeigt eine schwärmerische Verehrung für Goethe, die nur wenig erwidert wurde. A.s Übersetzung des Goethe-Buchs ins Englische, die zur Finanzierung eines (von ihr schon 1822/23 entworfenen) Goethe-Denkmals dienen sollte, wurde ein Mißerfolg. Achim von Arnim hatte sie durch ihren Bruder Clemens bereits 1802 kennengelernt; seit 1811 war sie mit ihm verheiratet.
Das Leben A.s läßt sich in drei Phasen einteilen: die Kindheit u. Jugend mit den beschriebenen prägenden Begegnungen, die Zeit der Ehe (mit sieben Kindern), die sie zunächst auf dem Gut Arnims (Wiepersdorf), dann seit 1817 – meist getrennt von Arnim – in Berlin verlebte (1811-1831), u. die Zeit ihrer schriftstellerischen Aktivitäten. Erst nach dem Tod Achim von Arnims (1831) publizierte sie die frühen Briefwechsel. Mit dem Goethe-Buch, das den Beginn des aufkommenden Goethe-Kults im 19. Jh. markiert, das aber auch die Jungdeutschen als Äußerung einer unkonventionell denkenden, streitbaren Frau feierten, wurde sie schnell berühmt. Ihre weiteren Aktivitäten u. Publikationen zeigen starkes polit. Engagement. A. setzte sich für die Wiedereinstellung der in Göttingen entlassenen Brüder Grimm ein u. erwirkte, daß der preuß. König Friedrich Wilhelm IV. unmittelbar nach seiner Inthronisation (1840) die beiden nach Berlin berief. Dem preuß. König, mit dem A. seither laufend korrespondierte, widmete sie Dies Buch gehört dem König (2 Bde., Bln. 1843), ein Werk, das sich durch sozialkrit. Ansätze auszeichnet. In fiktiven Gesprächen ließ sie die Mutter Goethes u. die Mutter des preuß. Königs – die von den Romantikern verehrte, 1810 gestorbene Luise – soziale Probleme in Preußen (Armut, Gefängnisreform, Todesstrafe) diskutieren. In einem Anhang veröffentlichte sie den Bericht des schweizerischen Studenten Heinrich Grunholzer über die Situation der Armen in der Berliner Vorstadt Voigtland. Das Werk wurde in Bayern verboten, eine verkürzte Fassung auch in Preußen. Zur Armenfrage plante A. 1844 eine umfassende Dokumentation (Armenbuch). Aus ganz Deutschland, bes. aber aus Schlesien, wo die Weber durch die Mechanisierung der Webstühle verarmten, wurden ihr auf ihre Aufrufe hin Armenlisten zugeschickt, in denen die Lebensumstände einzelner Familien tabellarisch erfaßt waren. Ein beträchtl. Teil der geplanten Veröffentlichung war bereits gesetzt, als 1844 der Weberaufstand in Schlesien ausbrach. In Berlin wurde A. der Anstiftung zu diesem Aufstand bezichtigt, weshalb Freunde sie zu einem Verzicht auf die Publikation überredeten. Die Handschriften (Armenlisten u. ein fragmentar. Nachwort) sowie zahlreiche Materialien zu dem Projekt haben sich erhalten u. wurden erstmals von Werner Vordtriede (in JbFDH 1962, S. 379-518; später separat) veröffentlicht.
Die Ereignisse von 1848 nahm A. in Berlin aufmerksam wahr; in diesem Jahr veröffentlichte sie anonym eine Polen-Denkschrift (An die aufgelöste Preußische National-Versammlung. Paris/Bln.). 1852 erschien in Berlin eine Fortsetzung des Königsbuchs (Gespräche mit Dämonen. Des Königsbuches zweiter Band), die jedoch – wie auch der Briefwechsel mit einem jungen Freund Philipp Nathusius (Ilius Pamphilius und die Ambrosia. 2 Bde., Lpz. 1847/48) – ohne größere Resonanz blieb. A. stand den Ideen der Frühsozialisten nahe (sie traf vermutlich 1842 in Kreuznach mit Karl Marx zusammen), hielt jedoch zugleich an der romant. Idee eines »Volkskönigs« fest, die sie im Dämonenbuch einem »Proletarier« in den Mund legte. Ihre eigne Aufgabe erblickte sie in der Vermittlung zwischen Volk u. König.
A.s Bedeutung liegt darin, daß sie die frühromant. Ideen einer spontanen, phantasievollen, manchmal provokativen Jugendlichkeit in die Zeit der Restauration u. des Vormärz hinüberrettete u. dabei ohne Bedenken politisch brisante Themen aufgriff u. publizistisch wirksam vertrat. Bei den Jungdeutschen stand sie deshalb in hohem Ansehen; die etablierte Berliner Gesellschaft vereinnahmte sie als »das Kind«, als polit. »enfant terrible«, das durch geistreiches Auftreten beeindruckte. Verwandtschaftl. u. freundschaftl. Verbindungen mit einflußreichen Persönlichkeiten in Preußen (Savigny, Wilhelm von Humboldt, Varnhagen, Friedrich Wilhelm IV.) bewahrten sie wiederholt vor Eingriffen der Polizei- u. Zensurbehörden, die sie mit verächtl. Stolz attackierte. Ihr Engagement ging stets von persönl. Erfahrungen aus u. galt bes. benachteiligten sozialen Gruppen wie Juden u. Armen sowie politisch Verfolgten wie Gottfried Kinkel. Ihr Wirken ist das Beispiel einer gelebten Emanzipation, jedoch spielen in ihrem Werk Fragen zur Stellung der Frau nur eine untergeordnete Rolle (im Königsbuch); mit Selbstverständlichkeit nahm sie alle Rechte einer unabhängigen Frau wahr u. trat selbstbewußt u. kämpferisch auf.
Die dem Tode A.s folgende Wilhelmin. Ära verdrängte die Erinnerung an die selbständig politisch denkende u. handelnde Schriftstellerin u. schuf in philisterhaftem Harmonisierungsdrang das fleckenlose Bild der Ehefrau u. Mutter, der reinen Liebenden, der mitleidigen Seele. Die sog. Neuromantik reklamierte, beginnend mit Ricarda Huchs zweibändigem Romantik-Werk (Lpz. 1899/1902), A. für sich u. überhöhte sie zum romant. Mythos: zum dämon. Elementargeist (Huch), zur großen (narzißtisch) Liebenden (Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Lpz. 1910). Margarete Susman (Frauen der Romantik. Jena 1929) stilisierte A. gar zur klassischen Kunstfigur, die im Sinne Stefan Georges »heldisch« u. »schauend« die bürgerl. Welt überragt. Von Richard Benz wurde ihr Leben als »wesentliche Erprobung« romant. Ideen von einem »poetisierten Leben« (Novalis) verstanden.
Erst nach 1945 wurde die polit. Schriftstellerin A. wiederentdeckt. Sarah Kirsch versteht Wiepersdorf in ihrem gleichnamigen Gedichtzyklus (in: Rückenwind. Bln./Weimar 1976) auch als Ort der Auseinandersetzung mit den Mächtigen – jenen von 1848 u. denen von heute. Während Christa Wolf ihrem Bettine- Essay (in: Lesen und Schreiben. Darmst./Neuwied 1980) A.s Günderrode-Buch als utopisches Experiment einer Frauensolidarität in der Männergesellschaft deutet, zeichnet Ingeborg Drewitz das Gesamtbild der politisch aktiven A., die im Spannungsfeld von Konvention u. Revolution den bürgerl. Freiheiten zuarbeitet.
WEITERE WERKE: Werkausgaben: B. v. A.s Sämtl. Werke. Hg. Waldemar Oehlke. 7 Bde., Bln. 1920-22. – Werke u. Briefe. Hg. Gustav Konrad u. Joachim Müller. 5 Bde., Frechen 1958-63. – Werke. Hg. Heinz Härtl. Bln./Weimar 1986 ff. – Werke u. Briefe. Hg. Walter Schmitz u. Sibylle v. Steinsdorff. Ffm. 1986 ff. – Briefe: Briefw. des Fürsten Hermann v. Pückler-Muskau. Hg. Ludwig Geiger. Ffm. 1902. – Achim v. Arnim u. Bettine Brentano. Hg. Reinhold Steig. Stgt. u. Bln. 1913. – Bettinas Briefw. mit Goethe. Hg. Reinhold Steig. Lpz. 1922. – Bettinas Leben u. Briefw. mit Goethe. Hg. Fritz Bergemann. Lpz. 1927. – Die Andacht zum Menschenbild. Hg. Wilhelm Schellberg u. Friedrich Fuchs. Jena 1942. – Achim u. Bettina in ihren Briefen. Hg. Werner Vordtriede. Ffm. 1961. – B. v. A.s Briefe an Julius Döring. Hg. Werner Vordtriede. In: JbFDH 1963, S. 341-488. – Der Briefw. zwischen Bettine Brentano u. Max Prokop v. Freyberg. Hg. Sibylle v. Steinsdorff. Bln./New York 1972. – Der Briefw. B. v. A.s mit den Brüdern Grimm 1838-41. Hg. Hartwig Schultz. Ffm. 1985. – Bettine u. Arnim. Briefe der Freundschaft u. Liebe. Hg. Otto Betz u. Veronika Straub. 2 Bde., Ffm. 1986/87.
LITERATUR: Bibliographie: Otto Mallon in: Imprimatur 4 (1933), S. 141-156. – Weitere Titel: Waldemar Oehlke: B. v. A.s Briefromane. Bln. 1905. – Hilde Wyss: B. v. A.s Stellung zwischen der Romantik u. dem Jungen Deutschland. Bern/Lpz. 1935. – Maria Zimmermann: B. v. A. als Dichterin. Basel 1958. – Karl-Heinz Hahn: B. v. A. in ihrem Verhältnis zu Staat u. Politik. Weimar 1959. – Gertrud Meyer-Hepner: Der Magistratsprozeß der B. v. A. Weimar 1960. – Ursula Püschel: B. v. A.s polit. Schr.en. Diss. Bln. 1965. – Werner Milch: Die junge Bettine 1785-1811. Heidelb. 1968. – Frieda Margarete Reuschle: An der Grenze einer neuen Welt. B. v. A.s Botschaft vom freien Geist. Stgt. 1977. – Gisela Dischner: B. v. A. Eine weibl. Sozialbiogr. aus dem 19. Jh. Bln. 1977. – Gertrud Mander: B. v. A. Bln. 1982. – Ingeborg Drewitz: B. v. A. Romantik – Revolution – Utopie. Köln 1969, Düsseld. 51984. – Christoph Perels (Hg.): Herzhaft in die Dornen der Zeit greifen [...]. (Ausstellungskat.). FDH, Ffm. 1985. – Fritz Böttger: B. v. A. Ein Leben zwischen Tag u. Traum. Bln. 1986. – Konstanze Bäumer: ›Bettine, Psyche, Mignon‹. B. v. A. u. Goethe. Stgt. 1986. – B. v. A. Romantik u. Sozialismus (1831-59). Schr.en aus dem Karl-Marx-Haus Trier 35 (1987). – Helmut Hirsch: B. v. A. Reinb. 1987. – Internat. Jb. der B. v. A. -Gesellsch. Bln. 1987 ff.
(Hartwig Schultz, in: Killy, Walther (Hg.) (1988): Literaturlexikon. Band 1 – Autoren und Werke von A bis Z. A – Bis. Gütersloh: Bertelsmann Lexikon Verlag. ISBN 3-570-04671-0. S. 214 ff.)
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