Fembio Specials Kinder- und Jugendbuchautorinnen Astrid Lindgren Mechthild Winkler-Jordan: Ausgewählte Frauengestalten aus Astrid Lindgrens Kinderbüchern
Fembio Special: Kinder- und Jugendbuchautorinnen
Mechthild Winkler-Jordan: Ausgewählte Frauengestalten aus Astrid Lindgrens Kinderbüchern
I. Der Lebenslauf von Astrid Lindgren
Astrid Anna Emilia Ericsson wurde am 14. November 1907 als zweites Kind des Pfarrhofpächters Samuel August Ericsson und seiner Frau Hanna auf dem Hof Näs bei Vimmerby im südschwedischen Småland geboren. Mit ihren drei Geschwistern, dem älteren Bruder Gunnar und den jüngeren Schwestern Stina und Ingegerd verlebte sie dort eine herrliche Kindheit, geliebt und geachtet von ihren Eltern, denen sie in ihrem Buch „Das entschwundene Land“ ein liebevolles literarisches Denkmal gesetzt hat. A. L. hat vielfach beschrieben und betont, dass die Eltern ihren Kindern sehr viel Freiheit und gleichzeitig Geborgenheit gegeben haben, und dass sie, obwohl durchaus von Hanna zur Hilfeleistung auf dem Hof und zur Pflichterfüllung erzogen, enorm viel Zeit zum unbeaufsichtigten Spielen in der wiesen- und waldreichen Umgebung des heimatlichen Hofes genossen hat. Durch ihre Eltern erfuhr sie Stärkung ihres Selbstvertrauens, ihres Mutes und ihrer Kreativität, die sich entfalten konnten, ohne dass sie durch elterliche Warnungen und Sorgen gehemmt wurde. Einen guten Eindruck von dieser Kindheit bekommt man durch die Lektüre des Buches „Die Kinder aus Bullerbü“, in dem A. L. die Schönheit ihrer Heimat und die ungegängelte Freizeit ihrer ersten zehn Lebensjahre abgebildet hat. Immer wieder hat sie in Interviews gesagt, sie schreibe für das Kind, das sie gewesen sei, und in vielen ihrer Bücher spiegeln sich ihre eigenen Kindheitserfahrungen.
Mit 17 Jahren beginnt sie nach dem Schulabschluss ein Zeitungsvolontariat in Vimmerby und wird währenddessen schwanger. Sie empfindet allerdings keine innige Beziehung zum Kindesvater, sondern lässt sich eher aus Minderwertigkeitskomplexen mit ihm ein; denn sie hat in ihrer Pubertätszeit, verglichen mit ihren Freundinnen, kaum nennenswerte Flirt-Erfahrungen gemacht. Zu jener Zeit gilt die Schwangerschaft einer unverheirateten Frau noch als Schande. Deshalb geht sie nach Stockholm, um sich selbst und ihren Eltern abfällige Kritik von Freunden und Bekannten zu ersparen. Sie bringt ihren Sohn Lars, den sie Lasse nennt, in Kopenhagen zur Welt, weil es dort das einzige skandinavische Krankenhaus gibt, in dem ledige Müttern ohne lästige Nachfragen und behördliche Schwierigkeiten entbinden können. Da sie Lasse in dem kleinen Zimmer, das sie in Stockholm aus Kostengründen mit einer Kollegin teilt, aus diesen räumlichen, aus beruflichen wie auch aus finanziellen Gründen nicht selbst versorgen kann, aber auch ihre Eltern nicht um Hilfe bitten möchte, gibt sie ihn nach seiner Geburt zu Pflegeeltern in Kopenhagen, leidet aber unsäglich unter der Trennung von ihrem Kind, wenngleich es in der Pflegefamilie liebevoll versorgt wird. Als die Pflegemutter jedoch herzkrank wird und Lasse nicht länger betreuen kann, kommen A. Ls. Eltern zu Hilfe und nehmen das Kind bei sich auf. Nach einer Ausbildung zur Sekretärin in Stockholm findet A. L. 1928 Arbeit im Königlichen Automobilklub, wo sie Sture Lindgren begegnet, der dort als Bürovorsteher und später als Direktor arbeitet, und den sie 1931 heiratet. Sie beziehen eine gemeinsame Zweizimmer-Wohnung, und nun endlich, fünf Jahre nach seiner Geburt, kann sie Lasse zu sich nehmen.
1934 bringt sie ihre Tochter Karin zur Welt und ist in den folgenden Jahren in erster Linie Hausfrau und Mutter, schreibt aber nebenbei ihre ersten beiden Bücher sowie Märchen und kleinere Geschichten, die in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht werden. Als Karin einige Jahre später an Lungenentzündung erkrankt und deshalb lange bettlägerig ist, bittet sie ihre Mutter eines Tages: „Erzähl mir von Pippi Langstrumpf.“ Diesen Namen hat Karin spontan erfunden, und die in Bezug auf Phantasie hoch begabte Mama fängt aus dem Stegreif an zu erzählen. Später schreibt sie in einer Phase eigener Bettlägerigkeit die Pippi-Geschichten auf, um sie Karin zum zehnten Geburtstag zu schenken. Dieses Manuskript ist die Urfassung von „Pippi Langstrumpf“, kurz „Ur-Pippi“ genannt. A. L. reicht diese Fassung bei dem Kinderbuch-Wettbewerb eines Verlages ein und bekommt einen ablehnenden Bescheid. Ein Jahr später, 1945, nimmt sie an dem Wettbewerb „Kinderbücher für das Alter 6 bis 10 Jahre“ im Verlag Rabén & Sjögren teil und gewinnt mit Pippi den ersten Preis. 1946 gewinnt sie den Literaturpreis des Svenska Dagbladet und beginnt im gleichen Jahr ihre Tätigkeit als Lektorin in der Kinderbuchabteilung des Rabén & Sjögren Verlages. Dort erscheinen in diesem Jahr auch noch die Bücher „Meisterdetektiv Kalle Blomquist“ und „Die Kinder aus Bullerbü“.
Mittlerweile war A. L. mit ihrer Familie in eine andere, größere Wohnung in der Dalansgatan gezogen, in der sie bis an ihre Lebensende wohnte. In den Jahren zwischen 1945 und 1986 erschienen 31 Hauptwerke von A. L., darunter ● „Pippi Langstrumpf“, ● „Meisterdetektiv Kalle Blomquist“, ●„Die Kinder aus Bullerbü“. ● „Im Wald sind keine Räuber“ ● „Kati in Amerika“, ● „Mio mein Mio“, ● „Karlsson vom Dach“, ● „Die Kinder aus der Krachmacherstraße“, ● „Ferien auf Saltkrokan“, ● „Madita“, ● „Immer dieser Michel“, ● „Die Brüder Löwenherz“ und ● „Ronja Räubertochter“.
Darüber hinaus schrieb A. L. viele Märchen, von denen die drei wichtigsten ebenfalls hier genannt sein sollen. ● „Klingt meine Linde“, ● „Sonnenau“ und ● „Der Drache mit den roten Augen“.
In dieser intensiven Schaffensperiode musste sie 1952 den frühen Tod ihres Mannes und 1986 den ihres Sohnes verkraften; beide hatten an Alkoholismus gelitten. Lasses Tod hat sie tief erschüttert, und den Schmerz darüber hat sie nie völlig bewältigen können.
Astrid Lindgren erhielt zahlreiche Auszeichnungen, teils für einzelne Werke, teils für ihr Gesamtwerk, darunter ►die Hans Christian Andersen-Medaille, die weltweit als höchste Auszeichnung für Kinderliteratur gilt ►den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, die höchste deutsche Auszeichnung für Literatur ►den Alternativen Nobelpreis ►die Nils-Holgersson-Plakette ►den International Book Award der Unesco ►den Selma-Lagerlöf-Literaturpreis und im Jahre 1999 wurde sie in einer Umfrage der Tageszeitung Aftonbladet zur beliebtesten Schwedin des Jahrhunderts gewählt.
„Ronja Räubertochter“ war ihr letztes großes Werk für Kinder, aber keineswegs ihre letzte Veröffentlichung. In Alter engagierte sie sich zunehmend politisch. Anlass war ein Steuerbescheid, der sie zu einer Steuerzahlung von 102 Prozent ihres Einkommens verpflichtete. Ihren Protest dagegen verpackte sie in das „Märchen von der Hexe Pomperipossa in Monismanien“ und trug damit dazu bei, dass die regierenden Sozialdemokraten nach 44 Jahren zum ersten Mal die Wahl verloren. Sie erhob ihre Stimme gegen Krieg, gegen Kernkraft und ganz besonders gegen Massentierhaltung und erreichte so, dass ein neues Tierschutzgesetz auf den Weg gebracht wurde, das sie zwar nicht zufrieden stellte, aber immerhin ein Anfang war. A. Ls. wunderbare ausführliche Zeitungsartikel zum Thema Tierschutz (einer davon mit dem Titel: „Meine Kuh will auch Spaß haben“) bewirkten auch, dass in der Bevölkerung ein stärkeres Bewusstsein für das Elend der Massentierhaltung entstand.
Mit zunehmendem Alter wurde A. L. des öffentlichen Interesses an ihr müde. Immer wieder wurde sie um Interviews, um Hilfeleistungen und um Briefantworten gebeten. Pro Woche erhielt sie durchschnittlich 150 Briefe, besonders von Kindern, und sie war viele Jahre lang bemüht, alle zu beantworten, um die Kinder nicht zu enttäuschen.
Aber in ihren letzten Lebensjahren, als sie taub und fast blind geworden war, zog sie sich mehr und mehr aus dem öffentlichen Leben zurück. Sie wurde 94 Jahre alt und starb am 28. Januar 2002 sanft und friedlich in ihrer Wohnung in der Dalansgatan. Tausende nahmen an der Trauerfeier in der größten Kirche von Stockholm teil. Begraben wurde sie jedoch in ihrer geliebten Heimat Vimmerby.
II. Mütterliche Nebenfiguren
Bevor wir zu den weiblichen Hauptfiguren Pippi und Ronja kommen, die jeder Lindgren-Fan kennt, die aber beide keine erwachsenen Frauen sind, möchte ich zunächst über einige erwachsene Frauengestalten sprechen, die mich wegen ganz bestimmter Eigenschaften und Handlungsweisen beeindrucken. Sie können als Vorbilder dienen, wenn es im Zusammenleben mit Kindern zu Konflikten kommt, welche Müttern auf die Nerven gehen, ihnen die Geduld rauben, oder sie auch mal wütend machen. Meistens sind sie dann der Ansicht, die Kinder seien daran schuld, und reagieren mit Strafen oder Verboten, schlimmstenfalls mit Schlägen oder gar Liebesentzug. Selten nehmen sich Mütter die Zeit, darüber nachzudenken, ob ihre persönliche Sichtweise und ihre Erwartungen dem Kind überhaupt gerecht werden, und ob sie ihm mit der gleichen Achtung begegnet sind, die sie einem Erwachsenen entgegenbringen würden. Genau dies hat Astrid Lindgren aber immer gefordert, und die Tante Berg aus der Krachmacherstraße gibt uns ein beeindruckendes Beispiel für die Achtung und Güte, mit der man Kindern begegnen sollte.
Tante Berg wird oft besucht von den Nachbarskindern Jonas, Mia-Maria und Lotta. Sie besitzt eine sehr schöne Kommode, in deren Schubladen sie besondere Dinge aufbewahrt, an denen sie hängt. Kinder lieben Schubladen, stöbern darin gerne nach Kostbarkeiten oder nach Dingen, denen sie sonst im Alltag nur selten begegnen, weil ihnen das Öffnen solcher Schubladen oft nicht gestattet ist. Tante Berg jedoch erlaubt den drei Kindern, ihre Schubladen-Schätze anzuschauen. Sie hat keine Angst, dass etwas kaputtgemacht wird, und die Kinder belohnen dieses Vertrauen durch Achtsamkeit. Einmal entdeckt Lotta auf dem Sofa ein Pulloverteil, das Tante Berg gerade in der Mache hat. Lotta entfernt die Nadeln und zieht an dem Faden, wobei sie eine kindliche Freude an der gekringelten Wolle hat, die sie sich wie Ketten um Hals und Körper drapiert. Jede Mutter, Oma oder Tante möge sich fragen, wie sie darauf reagiert hätte –
Als Tante Berg wenig später aus der Küche ins Wohnzimmer kommt und die Bescherung sieht, sagt sie, es wäre wohl das Beste, wenn sie jetzt alle in den Garten gingen und Waffeln äßen, und anschließend könnten die Kinder dann nach Hause gehen. Sie erspart Lotta Vorwürfe und findet einen liebevollen Weg, sie von ihrem Tun abzulenken, ohne ihr ein schlechtes Gewissen zu suggerieren oder die gehabte Freude mieszumachen. In ihrer Güte weiß sie, dass Lotta sie nicht hat schädigen wollen. Ein ganz anderer Typ von Tante ist die von Kati in dem Buch „Kati in Amerika“. Nach dem frühen Tod von Katis Eltern hat sie an dem Kind Mutterstelle vertreten und fühlt sich in hohem Maße verantwortlich für das, was sie als Katis Wohlergehen empfindet, wobei sie ihren eigenen Maßstab für allgemeingültig hält. Als Kati eine Amerikareise machen möchte, reagiert ihre Tante entsetzt. Sie sieht das Kind, das immerhin schon fast erwachsen ist, einer Gefahr nach der anderen in Amerika ausgesetzt und versucht vehement, Kati von der Reise abzuhalten. Aber schließlich möchte sie ihr auch die Freude nicht verderben und beschließt nach einer jammervollen Nacht, Kati auf dieser Reise zu begleiten: „Als Tante begriff, dass es mir ernst war, weinte sie ein paar vereinzelte Schauer und redete den ganzen Abend davon, welches Glück es sei, dass meine arme Eltern beizeiten dahingegangen seien. Als ich mich jedoch nicht erweichen ließ, ging sie tief gekränkt zu Bett. Am nächsten Morgen kam sie mit übernächtigtem Gesicht zu mir und sagte: Wenn ich mich durchaus ins Verderben stürzen müsse, so sei es ihre Pflicht mitzustürzen.“
An Katis Tante, in der sich manche Mütter mit ihren Sorgen wiedererkennen können, imponiert mir, dass sie ihre Ängste um Katis und um ihrer selbst willen immer wieder zu überwinden versucht, weil sie Kati liebt. Wir schwächen den Mut der Kinder mit unseren Ängsten um sie, besonders dann, wenn wir erwarten, dass sie sich diese Ängste zu Eigen machen und auf ihre kreativen Pläne verzichten, nur, um uns zu beruhigen.
Ähnlichkeit mit Tante Berg hat Michels Mama, und zwar in einem ganz wesentlichen Punkt: Sie verurteilt Michel nie, und sie lässt auch nicht zu, dass es andere tun. Das heißt nicht, dass sie das, was er macht, immer gutheißt. Aber sie kann sehr genau unterscheiden zwischen dem, was Michel tut, und dem, was er ist. Was er tut, notiert sie für ihn in kleinen blauen Schulheften zur Erinnerung für später, wenn Michel erwachsen ist. Aber in ihrem Herzen sieht sie Michel als liebenswertes Kind, das sie gegen Vorwürfe verteidigt. Das erinnert an den berühmten Satz von Antoine de Saint-Exupéry: „Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Michels Mama kann hinter die Unfug-Fassade blicken und erkennen, dass dieser vordergründige Unfug oft aus gut gemeinten Motiven erwächst. Sie unterstellt Michel keine Böswilligkeit, sondern hilft ihm, Fehlgeschlagenes wieder in Ordnung zu bringen. Ihre Gegenfigur ist Michels Vater, dem nichts anderes einfällt, als seinen Sohn wütend in den Tischlerschuppen zu sperren, wenn Michel mal wieder Unfug gemacht hat.
Michels Mama steht für Astrid Lindgrens Ansicht, dass Kinder nicht von Natur aus böse der schwierig sind, und dass sie sich am besten entwickeln in der Geborgenheit einer unverbrüchlichen Liebe, die unabhängig ist von einzelnen kindlichen Handlungsweisen, selbst, wenn diese missglückt sind.
Frau Settergren, die Mutter von Pippis Freunden Annika und Thomas, ist auf den ersten Blick eine ganz normale Hausfrau und Mutter, die ihre Kinder gemäß den damals wie heute gesellschaftlich vorherrschenden Maßstäben erzieht, und Annika ist das getreue Abbild davon. Sie ist immer sauber und adrett gekleidet, geht pünktlich zur Schule, macht ordentlich ihre Hausaufgaben – so weit, so gut. Aber sie ist ausgesprochen ängstlich, fürchtet sich vor Pippis ungewöhnlichen Verhaltensweisen, versucht oft, mäßigend auf sie einzuwirken oder sie abzuhalten von Aktionen, die sie ungehörig oder gefährlich findet, und das gilt so ziemlich für alles, was Pippi tut. Sie missbilligt auch Pippis Auflehnung gegen die Obrigkeit sowie ihren Hang, sich in Szene zu setzen, und sie tadelt Pippis ständige Lügerei. So verkörpert sie die Erziehungsprinzipien ihrer Mutter: Man darf nicht lügen, man muss gehorchen, man muss still und bescheiden sein, seine Pflicht tun und Erwachsene respektieren. Deshalb ist es bemerkenswert, dass Frau Settergren ihre Kinder überhaupt mit Pippi spielen lässt, und ihnen den Umgang mit ihr nicht verbietet. Es ist anzunehmen, dass Annika und Thomas vorsichtigerweise nicht viel über ihre Spiele und Erlebnisse mit Pippi erzählen. Solange die Kinder zu Hause artig sind, fleißig für die Schule lernen und abends um sieben ins Bett gehen, hat ihre Mutter gegen den Umgang mit Pippi nichts einzuwenden. Erst als sie Pippis schlechtes Benehmen beim Kaffeekränzchen erlebt, zu dem sie auch Pippi eingeladen hat, befindet sie kategorisch: „Du darfst nie mehr herkommen, wenn du dich so schlecht benimmst.“
Umso erstaunlicher ist, dass sie ihren Kindern erlaubt, mitzufahren nach Taka-Tuka-Land, als Pippi von ihrem Vater, dem Südsee-König, dorthin eingeladen wird. Die Zeitspanne für diese Reise ist unbestimmt; Frau Settergren weiß also nicht, wie lange ihre Kinder weg sein werden. Als ihre Bekannten ihr wegen dieser Reise-Erlaubnis entsetzt Vorhaltungen machen, erwidert sie: „Solange ich Pippi kenne, hat sie niemals etwas getan, was Thommy und Annika geschadet hat. Niemand ist liebevoller zu ihnen als sie.“ Hier zeigt sich, dass Frau Settergren frei von Vorurteilen ist, und dass sie loslassen kann, eine Fähigkeit, die man, wenn man alle Mütter in Astrid Lindgrens Büchern vergleicht, bei Frau Settergren am wenigsten erwarten würde. Sie lässt ihre Kinder in unbekannte Ferne reisen, mit unbestimmtem Ziel auf unbestimmte Zeit. Sie vertraut sie Pippi an, diesem Kind, das sich zwar nicht benehmen kann, aber ein gutes, liebevolles Herz hat.
Loslassen-Können ist eine Fähigkeit, die alle Eltern lernen müssen, und vielen fällt es schwer. Es geht einher mit dem Verzicht auf Einfluss und Kontrolle, mit Sorgen und Ängsten, die wir nur ungern auf uns nehmen. Wer kennt nicht die unguten Gedanken, die einen beschleichen, wenn das Kind abends zum diktierten Zeitpunkt nicht zuhause ist, weil es sich mit Freundinnen oder Freunden köstlich amüsiert und darüber Zeit und elterliche Ermahnungen völlig vergessen hat. Frau Settergren ist Astrid Lindgrens Beispiel für ihre Auffassung, dass man Kindern Freiheit schenken und ihnen Selbstbestimmung ermöglichen sollte, damit sie Eigenverantwortlichkeit lernen und erproben können.
Lovis, die Mutter von Ronja, ist eine Persönlichkeit, die ihresgleichen sucht in der Reihe der Frauengestalten, die A. L. in ihren Büchern beschrieben hat. Sie ist frei in ihren Handlungsweisen und Ansichten, und sie steht in der Mattisburg furchtlos und führungsstark dem Räuber-Clan ihres Mannes vor, auch wenn der glaubt, diese Rolle selbst auszufüllen. Aber wie man so schön sagt: Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine starke Frau – so auch hier.
Gleich im ersten Abschnitt des Buches erfährt die Leserin überrascht, dass Lovis sehr wohl weiß, was ihr gut tut: Sie singt bei der Geburt ihrer Tochter! Wer selbst Singerfahrungen gemacht hat, etwa in einem Chor, hat schon erlebt, wie gut das tut, und wie entspannend das Singen ist. Lovis hat auf ihrer Räuberburg keine Hebamme, die ihr sagt, wie sie atmen soll, um sich und dem Kind die Geburt zu erleichtern; sie weiß es intuitiv.
In Begleitung dieser starken Mutter wächst Ronja heran und wird wie sie selbständig, klug und furchtlos. Lovis gängelt Ronja in keiner Weise, sondern vertraut ihr und lässt ihr Freiheit. Auch sie kann loslassen und bildet sich nicht ein, das Beste, was Ronja in jungen Jahren widerfahren könne, sei die Erziehung durch ihre Mutter. Lovis lässt ihre Tochter durch das Leben erziehen, lässt sie eigene (auch gefährliche) Erfahrungen machen, ohne ihre Besorgnis in den Vordergrund zu rücken oder gar auf Ronja zu übertragen. Im Inneren der Mattisburg regelt sie das Räuberleben und kocht für die Bande wie eine gute Hausfrau. Aber sie lässt sich nicht ausnutzen. Wenn Mattis vor Wut oder vor Kummer Frühstücksbrei, Suppe oder Braten an die Wand schleudert, sagt Lovis nüchtern: „Aber hinterher machst du eigenhändig sauber, merk dir das!“
Als die Räuber nach langen Wintertagen, an denen sie sich in keinem Fluss waschen konnten, allmählich anfangen, ätzend zu riechen, jagt Lovis sie, unbeeindruckt von dem heftigen Protest der Männer, nackt hinaus in den Schnee, damit sie den ärgsten Schmutz loswerden.
Sie kann sich gut durchsetzen, aber sie kann auch sehr gut Entwicklungen abwarten, ohne einzugreifen. Als Ronja sich wegen des Streites zwischen Mattis und Borka monatelang in den Wald zurückzieht, läuft Lovis ihr nicht nach, sondern stellt nur sicher, dass ihr Kind nicht verhungert. Sie bringt das Brot aber nicht selbst, sondern schickt einen der Räuber als Lieferanten. Ronja sagt einmal von ihr, sie sei eine Mutter, die an alles denke. Wenn man berücksichtigt, dass unter Räubern vermutlich nicht viel gelobt wird, ahnt man, dass Ronja damit dankbare Bewunderung ausdrücken will. Mehr Worte sind auch nicht nötig, denn Lovis ist vollkommen uneitel.
Ihrem Mann gegenüber verhält sie sich so loyal wie möglich, überlässt ihm die eingebildete Machtposition, und tröstet ihn, wenn er glaubt, sie verloren zu haben. Als sie sieht, dass Mattis unmenschlich leidet unter der Trennung von seinem Kind, entschließt sie sich, Ronja um seinetwillen zu bitten, wieder heimzukehren.
In Lovis versammeln sich viele der Eigenschaften, die A. L. allen Kindern wünscht, besonders, wenn sie erwachsen geworden sind: Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen, natürliche Autorität und Einfühlungsvermögen, Mut, Verantwortungsbewusstsein und Hilfsbereitschaft, Gemeinschaftsfähigkeit, Durchsetzungskraft, Kreativität und Naturverbundenheit.
Ich will jedoch nicht verhehlen, dass andere Interpreten Lovis auch anders sehen als ich. Dazu hier ein entsprechendes Zitat von Katrin Askan: „Nicht eine Sekunde wird von Ronja verlangt, wie ihre Mutter zu werden, eine zwar resolute, doch traditionelle Frau, die als geachtete Dienerin den gesamten Räuberhaushalt versorgt.“ Diese Sicht scheint mir Lovis nicht vollständig gerecht zu werden, aber das mag jede Leserin des Ronja-Buches selbst entscheiden.
III. Die „Kindfrauen“ Pippi und Ronja
III.1. Pippi
Pippi ist die weltweit bekannteste Figur der Kinderbuch-Literatur. Ihre Geschichte wurde in mehr als 80 Sprachen übersetzt (auch ins Kirgisische und Aserbaidschanische), sie wurde millionenfach verkauft und gelesen, und sie löste heftige Debatten unter Eltern, Lehrern und Erziehern aus. Die heute so genannte „Ur-Pippi“, also das Manuskript, das Astrid Lindgren für ihre Tochter Karin schrieb, um es ihr zum zehnten Geburtstag zu schenken, und das erst vor ein paar Jahren zur Veröffentlichung freigegeben wurde (2007 bei Oetinger), fiel, wie im Lebenslauf bereits erwähnt, bei einem Kinderliteratur-Wettbewerb völlig durch. Es gewann aber ein Jahr später den ersten Preis in dem Wettbewerb eines anderen Verlags, woran man besonders gut erkennen kann, dass sich an Pippi die Geister scheiden. Die Gründe liegen auf der Hand:
► Pippi ist Kindertraumfigur und Elternschreck. Astrid Lindgren hat ihr konsequenterweise auch keine Eltern zugesellt, die danach trachten könnten, Pippi nach eigenem Bilde zu formen. Die Mutter ist früh gestorben, der Vater gondelt auf den Weltmeeren herum, regiert ab und zu sein Königreich Taka-Tuka-Land, und kommt nur einmal bei Pippi vorbei, um sich zu vergewissern, dass es ihr gut geht und ihre Goldstücke noch nicht alle sind. Pippi wäre nicht, was sie ist, wenn sie Eltern hätte, die ihr sagen, was sie essen soll, wann sie ins Bett zu gehen hat, und dass sie zur Schule muss, um Dinge zu lernen, die sie gar nicht wissen will.
► Sie ist eine Kunstfigur, ausgestattet mit übernatürlicher Stärke und kolossalem Reichtum, der ihr erspart, darüber nachzudenken, ob und wie sie ihn einteilen muss. Diese beiden Ausstattungsmerkmale bewirken, dass sie sich kräftemäßig über jeden Angreifer erhaben fühlen kann, und deshalb vor niemandem Angst hat, und dass sie sich überaus großzügig verhalten und Bonbons nicht stückweise, sondern kiloweise kaufen und verschenken kann, wodurch sie natürlich viele Freunde gewinnt. Hinzu kommt, dass sie allein in einem großen Haus lebt. Ihr Vater hat es für sie gekauft hat, bevor er sie sich selbst überließ: ein Haus mit viel Platz für sie zum Spielen und für ihren Affen, Herrn Nilsson, zum Herumturnen; außerdem mit einer Veranda, die als Stall für ihr Pferd dient, es sei denn, sie möchte dort Kaffee trinken; in dem Fall hebt sie das Pferd einfach über die Brüstung und stellt es in den großen Garten, der das Haus umgibt.
►Manieren hat sie nicht; in jüngeren Jahren ist sie auf einem Schiff bei ihrem Vater und seiner Mannschaft aufgewachsen, einer rauhen Gesellschaft, die auf gutes Benehmen wenig Wert gelegt hat. Pippi lügt in einem fort oder, milder gesagt: sie erfindet ständig Geschichten, die einer realistischen Überprüfung nicht standhalten. Normalerweise lügen Kinder aus Angst, Pippi hingegen lügt aus Lust am Fabulieren. Sie legt sich forsch und furchtlos mit der Obrigkeit an, respektiert keine Autorität, sondern macht die Lehrerin bei einem eintägigen Kurzbesuch in der Schule vor den Augen der Schulkinder so lächerlich, dass sie nach einiger Zeit ihre Geduld und Fassung verliert und inständig hofft, das ungezogene und lernunwillige Kind werde den Besuch nicht wiederholen.
Pippi ist das ganze Buch lang neun Jahre alt und hat auch keine Lust, älter zu werden. Um das zu verhindern, kann sie sich erbsenähnlicher Pillen bedienen, die sie nimmt, wenn die Vorstellung vom Älterwerden sie angraust.
Dieses in den Augen Erwachsener höchst merkwürdige und unangepasste Mädchen wird seit nunmehr 70 Jahren von Kindern in der ganzen Welt bewundert. Die Gründe dafür sind einleuchtend:
• Pippi verfügt über mitreißende Kreativität und überbordende Phantasie, die kein Vater und keine Mutter in sogenannte geordnete Bahnen abzulenken versucht. • Sie ist beneidenswert frei von Ängsten, weil stärker als alle Erwachsenen. • Sie ist reich und spendabel und teilt bereitwillig alles, was sie hat, mit anderen Kindern. • Sie ist hilfsbereit, wann immer sie jemanden in Bedrängnis sieht. • Sie ist sehr sportlich, witzig und völlig unbekümmert. Will ihr jemand an den Karren fahren, spielt sie mit ihm: Sie tritt den Polizisten, die sie ins Kinderheim bringen wollen, nicht erbost gegen das Schienenbein, sondern spielt mit ihnen Fangen auf dem Dach der Villa Kunterbunt, bis die Männer entnervt um eine Leiter zum Runterklettern bitten und dann das Weite suchen.
Damit verkörpert sie alle Eigenschaften und Fähigkeiten, die Kinder sich wünschen und von denen sie träumen. Was Wunder, dass sie Pippi lieben.
►Wie bereits erwähnt, erweckte Pippi bei vielen Erwachsenen zwiespältige Gefühle:
• Der erste Verleger, der das Buch angeboten bekam und ablehnte, tat dies unter anderem deshalb, weil er fürchtete, seine eigenen Kinder könnten vom Pfad der Tugend abgelenkt werden. • Auch in Deutschland gab es eine grundlegende pädagogische Debatte wegen des schlechten Einflusses, den Pippi auf kindliche Leser ausüben könnte. Der schärfste Protest kam von einem schwedischen Kritiker: Unter anderem sei es geradezu unverantwortlich, dass Pippi frohgemut in einen schönen roten Fliegenpilz beiße und danach völlig unbeschadet weiterspiele. In diesem Punkte hatte er wohl Recht; denn dazu sollten Kinder keinesfalls angeregt werden. • Zum Schluss sei noch eine kuriose Kritik aus Frankeich erwähnt: Es erschien dem französischen Verleger unmöglich, dass Pippi ein Pferd stemmen könne. Das Buch durfte daher erst erscheinen, als das Pferd vom Übersetzer zu einem Pony geschrumpft worden war. Dass A. L. dieser Änderung nur kopfschüttelnd und zähneknirschend zustimmte, lässt sich denken.
III.2 Überleitung zu Ronja
Obwohl Astrid Lindgren schon vor dem Pippi-Buch zwei andere Bücher veröffentlicht hatte, nämlich „Britt-Marie erleichtert ihr Herz“ und „Kerstin und ich“, markiert „Pippi Langstrumpf“, erschienen 1945, doch den eigentlichen Beginn ihrer beispiellosen Karriere. Da sie sich in den letzten 20 Jahren ihres Lebens zwar als Buchautorin zurückgezogen, sich aber mit politisch motivierten Zeitungsartikeln gegen Kernkraft, zu hohe Steuern und gegen Massentierhaltung immer wieder zu Wort gemeldet hat, ist „Ronja Räubertochter“ der letzte Kinderbuch-Roman (geschrieben 1981), mit dem sie ihre literarische Arbeit für Kinder und Jugendliche gekrönt hat.
36 Jahre liegen zwischen dem Erscheinen von „Pippi“ und „Ronja“, und das merkt man: Ronja ist kein witziges Kind, hat keine absurd-komischen Ideen und ist auch keineswegs so unabhängig wie Pippi, deren Geschichten in einer Zeit entstanden, in der A. L. in wohlgeordneten und komfortablen Verhältnissen lebte, sich als Hausfrau und Mutter um ihre Familie kümmern konnte, und nicht mehr kämpfen musste um das tägliche Brot und das Geld für die Miete. Aber, wie frau durchaus nachvollziehen kann, war dieses Leben für A. L. auf die Dauer nicht ganz ausfüllend, zeitlich natürlich schon, nicht aber geistig und seelisch. So kam die Idee, ein phantasievolles Buch über eine omnipotente Kindergestalt zu schreiben, dem Bedürfnis nach Erweiterung ihrer persönlichen Möglichkeiten gerade recht. Da ihr Mann eine Putzfrau und eine Köchin bezahlen konnte, hatte sie mehr Freiheit für eigene Beschäftigung und konnte deshalb eine mehrtägige Bettruhe, erzwungen durch die heftige Verstauchung eines Fußes, bequem dazu nutzen, die Geschichten von Pippi in Stenoschrift zu Papier zu bringen.
Als aber Ronja entstand, lagen Jahre schmerzvoller Erfahrung hinter ihr, über die A.L. Zeit ihres Lebens weitgehend geschwiegen hat: Mit 45 Jahren wurde sie Witwe. Ihr Mann starb an den Folgen seines Alkoholismus, der auch in den Jahren vor seinem Tod zu einer schweren Belastung für die Ehe geworden war. 1961 starb A. Ls. Mutter, 1969 ihr Vater, den sie besonders geliebt hatte, und 1974 starb auch ihr Bruder Gunnar. In all diesen Jahren überschattete zusätzlich die Sorge um ihren Sohn Lars, der ebenfalls Alkoholiker geworden war, ihr Leben, das sowieso von Schuldgefühlen ihm gegenüber geprägt war, seit seiner Kinderzeit, in der sie ihn nicht selbst hatte betreuen können. 1981 also entstand Ronja, fünf Jahre, bevor auch Lars starb und zwar durch einen Autounfall. Die belastenden und schmerzvollen Erfahrungen, die A.L. in jener Lebensphase machen musste, scheinen mir auch die Stimmung in ihrem letzten großen Kinderroman zu prägen und sind wohl auch eingeflossen in die Darstellung der bedrückenden inneren Kämpfe der Hauptfiguren.
III.3 Ronja
Wie Pippi wird auch Ronja in eine rauhe Männergesellschaft hineingeboren, nämlich in die von Räubern, deren Hauptmann ihr Vater Mattis ist. Während bei ihrer Geburt ein Gewitter tobt und ihre Mutter Lovis gegen Donner und Wehen ansingt, spaltet ein Blitz die Mattis-Burg, und zwischen beiden Teilen klafft danach ein Abgrund, der nicht nur die Folge einer Naturkatastrophe darstellt, sondern als Sinnbild für Trennung und Gefahr Ronjas Geschichte prägt.
Mattis bringt seine überbordende Freude über Ronjas Geburt durch närrisches Tanzen und Herumspringen zum Ausdruck, und es ist A. Ls. dichterischem Feingefühl zu verdanken, dass das Ronja-Mädchen keinem der Räuber als künftiger Räuberhauptmann ungeeignet erscheint. Einen vagen Vorbehalt äußert nur der alte Räuber Glatzen-Per, als er das Baby auf den Arm nimmt und feststellt: „Irgendwie hat sie noch gar kein rechtes Gewicht.“ Als Mattis ihn daraufhin zornig fragt, was er denn erwartet habe, etwa einen fetten Räuberhauptmann mit Schmerbauch und Spitzbart, wird allen Räubern klar, dass man an diesem Kind nicht rummäkeln darf, wenn man Mattis bei guter Laune halten will.
Von diesem Tag an steht fest, dass Ronja der erklärte Liebling ihres Vaters ist; Lovis begleitet diese Entwicklung mit gelassener Klugheit. Sie greift nur ein, wenn Mattis nicht mehr weiter weiß, zum Beispiel, weil das Kind schreit oder krank ist. Ronja wächst in großer Freiheit auf, und jeder neue Entwicklungsschritt wird von Mattis als Zeichen von Hochbegabung gedeutet, während Lovis dies eher nüchtern als Folge gesunden Heranwachsens betrachtet.
Allmählich beginnt Ronja ihre Umgebung zu erforschen, und eines Tages stimmen die Eltern überein, dass das Kind lernen muss, sich auch draußen im Mattiswald zurechtzufinden. Dazu bekommt sie von ihrem Vater ein paar knappe Verhaltensregeln mit auf den Weg, zum Beispiel, dass sie, falls sie in einen Teich fällt, halt schwimmen soll, und dass sie sich hüten solle, in den Höllenschlund zu fallen, der die Burghälften trennt. Bei der Vorstellung, dass das passieren könnte, stößt Mattis ein Gebrüll aus, „als säße ihm alles Übel der Welt in der Brust“. Nachdem er fertig gebrüllt hat, fragt Ronja gelassen, ob sonst noch sonst etwas zu beachten sei. Darauf antwortete Mattis „O ja, aber das merkst du schon selber so allmählich. Geh jetzt!“ Diese Szene kennzeichnet einmal mehr A. L’s oft wiederholte Ansicht, dass man Kindern die Freiheit geben müsse, eigene Erfahrungen zu machen, auch wenn man dabei Angst um sie hat.
So erkundet Ronja nun Tag für Tag die Geheimnisse und Gefahren der äußeren Umgebung. Diese hat nicht die Lieblichkeit der Bullerbü-Gegend, sondern ist dunkler, wilder und gefahrvoller, jedoch auch von atemraubender Schönheit, gerade deshalb, weil sie nicht von Menschen angetastet und kultiviert worden ist. Auch wenn Naturgeister wie Graugnome, Wilddruden und Rumpelwichte Ronja das Fürchten lehren, lernt sie, sich gegen sie zu wehren, lernt aber auch, wie ein Fisch zu schwimmen und wie ein Eichhörnchen zu klettern. Weil Mattis ihr gesagt hat, man sei am sichersten, wenn man sich nicht fürchte, übt sie sich bewusst darin, keine Angst zu haben. Nach und nach wird sie immer sicherer und furchtloser; sie überwindet die Angst, sich zu verirren oder in den tosenden Fluss zu fallen, und der geliebte Wald wird für sie zur faszinierenden Kinderstube.
Eines Tages beginnt sie auch zu üben, sich vor dem Höllenschlund zu hüten, indem sie bäuchlings nahe an ihn heranrobbt, hinabschaut und seine Gefährlichkeit erkennt. Dabei entdeckt sie auf der gegenüberliegenden Seite zum ersten Mal den gleichaltrigen Birk, Sohn des mit Mattis verfeindeten Räubers Borka, der samt seiner Sippe in der Nacht zuvor den abgespaltenen Teil der Mattisburg mit Beschlag belegt hat. Bevor die Feindschaft beider Räuberbanden nun voll zum Ausbruch kommt, deutet A. L. wie mit einem zarten Federstrich an, worum es unter anderem auf den weiteren Seiten des Buches gehen wird. „Ronja schaute ihn an, wie er dort saß, und sie lachte leise, weil es ihn gab.“ Als Mattis von dieser Begegnung und der Besetzung der anderen Burghälfte erfährt, tobt er wie ein Stier, tief getroffen darüber, dass die Borka-Räuber, diese „Hosenschisser“, wie er sie nennt, ihm sein Eigentum streitig machen. Bei dieser Raserei erfährt Ronja zum ersten Mal, dass die Vorräte in Lovis‘ reich gefüllter Speisekammer den häufigen Raubzügen ihres Vaters entstammen. Darüber ist Ronja erschrocken, und Mattis, der in den Augen seiner Tochter als der Größte und Beste dastehen möchte, fühlt sich durch ihr naives, aber konsequentes Nachfragen gedemütigt.
Hier bekommt Ronjas Liebe zu ihrem Vater erstmals einen Dämpfer, und ihr Blick auf Birk, den sie anfangs beschimpft, weil ihr Vater es auch tut, ändert sich im Laufe der folgenden Zeit. Sie üben beide das Springen über den Höllenschlund, bis sie es beherrschen, aber als Birk plötzlich wegen eines lockeren Steins abrutscht, rettet sie ihn, zwar immer noch etwas zähneknirschend, aber dennoch. Immerhin hat sie kurz zuvor mit angehört, wie Mattis sämtlichen Borka-Räubern die Höllenpest an den Hals gewünscht hat, und deshalb flucht auch sie während sie Birk rettet, vor sich hin, aber sie lässt ihn zumindest nicht schadenfroh zum Donnerdrummel fahren – (eine wundervolle Wortschöpfung von A. L. und ihrer Übersetzerin Anna-Liese Kornitzky, mit der „Hölle, Tod und Teufel“ zusammengefasst werden). Nicht nur wegen dieser Rettungsaktion lernt Birk das wilde Räubermädchen schätzen und begegnet ihren verbalen Entgleisungen mit freundlicher Geduld.
Bei einem ihrer Streifzüge im winterlichen Wald zertritt sie eines Tages unbeabsichtigt das erdige Dach einer unterirdischen Höhle, in der Rumpelwichte leben, eine liebenswerte Wichtelgemeinschaft, die nach anfänglichem Ärger über das durchbrochene Dach Ronjas steckengebliebenen Fuß als Aufhängemöglichkeit für ihre Babyschaukel benutzen.
Weil sie ihren Fuß nicht allein aus dem Loch befreien kann, muss auch sie nun gerettet werden; denn sie droht zu erfrieren in der Eiseskälte, und Birk, der sie gesucht hat, ist rechtzeitig zur Stelle. In dieser Szene erlebt Ronja zum ersten Mal völlige Hilflosigkeit und lähmende Angst, zwei Gefühle, die ihr vorher fremd waren, und Birks Rettungseinsatz wird belohnt durch Ronjas tief empfundenen Dank und ihre Bitte: „Lass mich nicht allein! Lass mich nie mehr allein!“
Bevor sie sich wieder trennen müssen, beschließen sie, einander Bruder und Schwester zu sein. Hier bahnt sich eine Liebesgeschichte an, wie sie zarter und rücksichtsvoller kaum erzählt werden kann. In keinem Buch von A. L. spielt die Sexualität eine Rolle, wohl aber die Liebe in all ihrem Facettenreichtum, so wie hier zum Beispiel in der Bereitschaft umzudenken, Vorurteile fallen zu lassen, Hilfestellung nicht nur zu geben, sondern auch anzunehmen, sowie im Verzicht auf Stolz und in der Hinwendung zum Anderen.
Mit dieser Szene ist nun der Boden bereitet für den großen schmerzhaften Konflikt, der das Verhältnis zwischen Mattis und Ronja bedrohen wird.
Im Winter ist die Burg vollständig eingehüllt von Mauern aus Schnee, die Räuber langweilen sich ohne ihre Raubzüge und Ronja sehnt sich nach Birk. Um sich zu beschäftigen, erkundet sie eines Tages die Kellergewölbe der Burg und entdeckt dabei einen von Geröll versperrten Gang, von dem sie zu Recht vermutet, dass er hinüber zur Borka-Feste führen könnte. In mühevoller Plackerei räumt sie ihn halbwegs frei und begegnet plötzlich Birk, der ihr von der anderen Seite des kleiner gewordenen Geröllhaufens entgegenkommt. Sie erfährt von ihm, dass die Borka-Räuber fast am Verhungern sind, und versorgt den gefährlich abgemagerten Birk mit Essen, das sie aus Lovis‘ Vorräten so reichlich bemisst, dass auch immer noch etwas für seine Sippe übrig bleibt. Sie treffen sich täglich in den Kellergewölben, ohne entdeckt zu werden, ihre Freundschaft festigt sich, und als der Frühling kommt, ziehen beide wieder hinaus in den Wald, wo sie sich den ganzen Tag aufhalten, zusammen schwimmen und sogar zwei Wildpferde zähmen.
Aber eines Tages wird Birk bei seiner abendlichen Heimkehr, von Mattis‘ Räubern gefangen und gefesselt zu ihrem Hauptmann geschleppt, der mit unverhohlener Schadenfreude über dieses lebendige Faustpfand jubelt und es zu benutzen plant, um seinen Erzfeind Borka samt seiner Bande zum Auszug aus der Burg zu zwingen. Als Ronja den gefesselten Birk mit blutender Stirn am Boden liegen sieht, weint sie Tränen der Wut und schlägt mit den Fäusten auf ihren Vater ein. Mattis nimmt entsetzt zur Kenntnis, für wen seine Tochter Partei ergreift und wird blass vor Zorn. Beide schleudern sich Beschimpfungen an den Kopf, die in Ronjas Ausruf gipfeln: „Menschen darfst du nicht rauben, denn dann will ich nicht länger deine Tochter sein! Pfui über dich!“ Da versteinert Mattis‘ Gesicht, und er befiehlt, Borka auszurichten, dass er sich mit Mattis am anderen Morgen am Höllenschlund treffen solle.
Dort kommt es am nächsten Tag zu einer heftigen Auseinandersetzung, und weil Mattis Birk nicht herausgeben will, springt Ronja über den Abgrund und stellt sich Borka freiwillig als Geisel zur Verfügung, um damit zu erreichen, dass beide Väter vernünftig werden und ihre Kinder wieder austauschen.
Aber sie verrechnet sich. Mattis ist durch Ronjas Verhalten, welches er nicht als Chance, sondern als Verrat an ihm selbst und seiner Sippe betrachtet, so tief verletzt, dass er mit erstarrter Miene zwar anbietet, Birk könne zu seiner Sippe zurück, aber von Tausch könne keine Rede sein, denn er habe nun kein Kind mehr. Völlig gebrochen legt er sich ins Bett und verweigert jegliche Nahrung. Birk kehrt am anderen Morgen heim, verlässt aber wenig später seine Familie und zieht in den Wald. Wegen der vergifteten Atmosphäre in der Mattisburg, die durch Mattis‘ dumpf brütendes Schweigen immer unerträglicher wird, verlässt eines Nachts auch Ronja ihre Räuberfamilie und richtet sich mit Birk eine Bleibe in einer Bärenhöhle ein, in der beide nun den ganzen Sommer lang hausen.
Es trifft Ronja tief, dass ihr Vater sie als sein Kind verleugnet hat, und sie glaubt, nun keine Daseinsberechtigung mehr auf der Mattisburg zu haben, solange ihr Vater in diesem Punkt nicht nachgibt und sie heimholt.
Hier zeigt sich Ronjas Charakterstärke, die aber keineswegs in Hass oder Rachegefühlen wurzelt, denn dazu tut Mattis ihr viel zu leid. Sie weiß, dass er unter dieser Situation wie ein Tier leidet, dass aber sein Stolz ihm verbietet, die Lossagung von Ronja zurückzunehmen. Auch sie leidet deswegen unsäglich, hat aber zum Glück in Birk eine seelische und praktische Stütze. Mit Geduld und Zuneigung vergilt er ihr, dass sie um seinetwillen den Bruch mit ihrem Vater vollzogen hat.
Den ganzen Sommer lang genießen sie ihre Freiheit, gehen fischen, jagen und Beeren pflücken und sammeln Feuerholz zum Kochen und Braten. Einmal bekommen sie Besuch von Klein-Klipp, einem Räuber aus der Mattis-Sippe, der ihnen in Lovis‘ Auftrag ein großes Brot bringt und Ronja bittet, nach Hause zu kommen, weil das Leben auf der Burg durch Mattis‘ düsteres Schweigen allen Räuber-Glanz verloren hat und immer unerträglicher wird. Aber Ronja weigert sich und bleibt im Wald bei Birk, der allerdings zu ahnen beginnt, dass sie die künftige Winterkälte in der Höhle nicht aushalten kann und deshalb notgedrungen zur Burg zurückkehren muss.
Als es Herbst wird, macht sich nach langem Zögern auch Lovis auf den Weg zu Ronja und bittet sie inständig heimzukehren: Ihr Vater wälze sich im Schlaf stöhnend hin und her und rufe dabei immerfort Ronjas Namen, was Lovis nicht länger aushalten könne. Als Ronja sie jedoch in diesem wunderbaren Mutter-Tochter-Gespräch fragt, was sie denn an ihrer Stelle tun würde, erklärt Lovis sich mit ihrer Tochter solidarisch und kehrt schweren Herzens allein zur Burg zurück. Diese suggestiven Besuche missfallen Birk gründlich, weil er befürchtet, dass Ronja eines Tages nachgeben und ihn allein lassen wird.
Endlich kommt Mattis selbst in den Wald. Als Ronja ihn zusammengekauert und weinend auf einem Stein sitzen sieht, fliegt sie schluchzend in seine Arme. Sie versöhnen sich, und Mattis glaubt, sie mit nach Hause nehmen zu können, aber Ronja will Birk nicht allein lassen. Mattis beginnt zu begreifen, was die Beiden verbindet, und willigt schließlich ein, auch Birk Zugang zur Mattis-Burg zu gewähren.
Auf diese Weise leitet er das glückliche Ende der Geschichte ein. Beide Räuber-Sippen beschließen, sich zu vereinen im Kampf gegen die Landsknechte, die ihnen nachstellen. Da es dann aber nur einen Räuberhauptmann geben sollte, verabreden Mattis und Borka, durch einen Zweikampf den künftigen Anführer zu bestimmen. Dass Mattis siegt, ist heilsam für sein malträtiertes Ego und er kann sich letztlich sogar damit abfinden, dass Ronja und Birk auch die künftigen Sommerzeiten gemeinsam im Wald verleben und nur im Winter in die Burg zurückkehren werden.
Mit dieser salomonischen Lösung endet Ronjas Geschichte, und mit ihr beendete A. L. auch ihre Jahrzehnte lange Arbeit im Dienst der Kinderbuch-Literatur.
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