Fembio Specials Black History Alice Walker "Die Farbe Lila" revisited. Essay von Renate Kraft
Fembio Special: Black History
"Die Farbe Lila" revisited. Essay von Renate Kraft
Was ist das für ein Roman, der nach seinem Erscheinen mit den höchsten literarischen Auszeichnungen der USA geehrt wurde, für den Alice Walker 1983 als erste afroamerikanische Frau den Pulitzer-Preis errang, der schließlich, von Steven Spielberg verflmt, einen Siegeszug durch die Welt antrat? Die einfach wirkende, unprätentiöse Schreibweise verdeckt zunächst, dass Alice Walker sehr bewusst und kenntnisreich an literarische Traditionen anknüpft, an den englischen Briefroman des 18. Jahrhunderts, an den US-amerikanischen Sklavenroman, der von der gelungenen Flucht einzelner Sklaven in die Freiheit der Nordstaaten handelt, vor allem aber an die Literatur schwarzer Südstaatlerinnen wie Margaret Walker (1915-1998) und Zora Neale Hurston (1861-1960), mit deren Leben und Schreiben sich Alice Walker eingehend beschäftigt hat. In Hurstons Roman “Und ihre Augen schauten Gott” gibt es eine Szene, in der die junge Heldin Jamie von ihrer Großmutter in die Geschichte der Afroamerikaner eingeführt wird. Diese Geschichte fasst Jamies Großmutter in der Einsicht zusammen, dass der weiße Mann über die Welt herrscht und die Last des Lebens dem schwarzen Mann aufbürdet. Dieser wiederum nimmt die Last zwar auf, weil er keine andere Wahl hat, gibt sie aber sogleich an die Frauen in seiner Familie weiter. Wörtlich sagt die Großmutter zu Jamie: “Die Negerfrau ist das Lasttier der Welt.” Diesen Satz macht Alice Walker zum Ausgangspunkt ihres Romans.
Die Romanhandlung setzt im Jahr 1908 ein, zu einer Zeit also, als die Abschaffung der Sklaverei in den Südstaaten erst 45 Jahre her ist. Das Mädchen Celie, zu Beginn des Romans 14 Jahre alt, schreibt Briefe an den „lieben“ Gott, in denen sie ihm ihre bedrängte Situation schildert und ihn um ein „Zeichen” bittet. Celie wird in den sechs Jahren bis zu ihrem 20. Geburtstag von dem Ehemann ihrer Mutter, den sie für ihren leiblichen Vater hält, sexuell missbraucht und zweimal geschwängert, ihre Kinder werden ihr gleich nach der Geburt weggenommen. Als Celies Mutter stirbt, schützt Celie ihre jüngere Schwester Nettie erfolgreich vor der sexuellen Gewalt des Vaters, indem sie sich ihm selbst anbietet. Ein Witwer mit drei Kindern, den Celie „Mr.“ nennt, will Nettie heiraten, der Vater verweigert ihm Nettie jedoch und bietet ihm stattdessen Celie an, sie sei zwar hässlich und „gebraucht“, aber frei von Geschlechtskrankheiten und praktischerweise unfruchtbar, sie arbeite gut und habe eine kleine Aussteuer, außerdem werde er ihr eine Kuh mitgeben. „Mr“ nimmt das Angebot nach langer Bedenkzeit an, nicht ohne sich zu vergewissern, dass die Kuh noch immer im Angebot ist. Das Geschäft zwischen Celies Vater und Celies Ehemann in spe erinnert nicht zufällig an den Sklavenhandel, wie er noch knapp 50 Jahre zuvor vonstatten gegangen war. Celie wird als Arbeitstier und zum sexuellen Gebrauch verkauft, und die folgenden Briefe, die Celie im Haus von „Mr.“ schreibt, zeigen, dass sie exakt so behandelt wird. Auch die Bezeichnung “Mr.”, die Celie für ihren Ehemann wählt, erinnert an den “Master”, den weißen Herrn.
Beim Einkaufen in der nächstgelegenen Stadt meint Celie in der Tochter einer anderen Kundin ihr eigenes Kind wiederzuerkennen, ihre Schwester Nettie sucht vor den Zudringlichkeiten des Vaters Zuflucht bei ihr, muss aber wegen der sexuellen Avancen von „Mr.“ wieder fliehen. Sie verspricht Celie, ihr Briefe zu schreiben, so lange sie lebt. Monate später hat Celie noch immer keinen Brief von Nettie erhalten, sie arbeitet Tag und Nacht auf den Feldern und im Haus von “Mr.” und wird von diesem regelmäßig geschlagen. Das sexuelle Verhalten “Mr.“s kennzeichnet Celie mit dem Satz „Er verrichtet sein Geschäft“. - All das erfahren wir auf den ersten 20 Seiten.
Sprachlich erfasst der Roman die Lebensumstände und Handlungen seiner Akteure wie auch das, was in Celie vorgeht, sehr genau: „Harpo hat seinen Vater gefragt, wieso er mich prügelt. Mr.—- sagt, weil sie meine Frau is. Und störrisch dazu. Frauen taugen zu nix wie – er sagts nich fertig. Reckt nur das Kinn über die Zeitung, wie ers immer macht. Ich muss an Pa denken.“ In einfacher, oft ungrammatischer Sprache mit Einsprengseln aus dem Südstaatendialekt lässt Alice Walker ihre Heldin komplexe Sachverhalte psychologisch genau beschreiben. Sie stellt sich auch damit in die Tradition Nora Zeale Hurstons, deren Ziel es war, die Redeweise der schwarzen Südstaatler, das so genante “black vernacular”, zu rehabilitieren und literaturfähig zu machen. - Geradezu anrührend ist die Beziehung, die Celie zu Gott als dem Adressaten ihrer Briefe herstellt. Obwohl sie sich diesen Gott als älteren weißen Herrn vorstellt, wendet sie sich an ihn wie an eine mitfühlende Mutterfigur, von der sie sich ein Zeichen der Zuneigung und einen Sinn für ihr zerstörtes Leben erhofft. Ihre Briefe zeigen Celie als eine Frau, die noch nicht aufgegeben hat, weil sie sich – gegen alle realen Erfahrungen - eine vertrauensvolle, schützende Beziehung vorstellen kann.
Die Leserin jedoch wird durch den Romanbeginn in eine Art Schockzustand versetzt, indem sie an Celies Situation der Isolation und des Ausgesetztseins an männliche, patriarchale Gewalt teilnimmt. Schon die Form des Briefromans zieht ja die Leserin in die innere Welt der Heldin hinein. Die Leserin kann nicht anders als Celies Perspektive der Enge, der Bedrückung und Ausweglosigeit zu teilen. Erst viel später nimmt der Roman auch den gesellschaftlichen Zusammenhang in den Blick, innerhalb dessen schwarze Männer ihre Frauen und Töchter unterwerfen, während sie ihrerseits Opfer individueller und struktureller Gewalt sind: So hat “Mr.” als junger Mann der Macht seines Vaters nachgegeben, als dieser ihm verbot, seine große Liebe Shug Avery zu heiraten. Harpo schlägt seine Frau Sophia, so wie er selbst während seiner Kindheit und Jugend von seinem Vater geschlagen worden ist. Die Brutalität weißer Herrschaft wird deutlich, als Sophia zur Strafe für ihre Gegenwehr gegen die Ohrfeige des weißen Bürgermeisters ins Gefängnis gesteckt und dort beinahe zu Tode geprügelt wird, und als Celie erfährt, dass ihr leiblicher Vater vor vielen Jahren vom weißen Mob gelyncht wurde.
Der erste und bleibende Eindruck jedoch, den der Roman vermittelt, ist der von der Gewalt schwarzer Männer gegen ihre Frauen und Töchter. Dieser Eindruck übte schon bei Erscheinen des Buches auf Leserinnen und Leser eine starke Wirkung aus. Teile der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung liefen Sturm gegen den Roman und seinen überwältigenden Erfolg. Spätestens als Steven Spielberg und die Produktionsfirma Warner Brothers die Filmrechte erwarben, sah das für viele schwarze Männer so aus, als würde der Roman auf Kosten ihres guten Rufs das weiße Publikum erobern. Der Vorwurf der Nestbeschmutzung stand im Raum, mindestens warf man der Autorin mangelnde politische Klugheit vor: Angesichts der fortdauernden Diskriminierung der Schwarzen in den USA hätte sie kein so negatives Bild von schwarzen Männern in die Öffentlichkeit tragen dürfen! Die „Koalition gegen die Ausbeutung der Schwarzen“ verlangte allen Ernstes, bei der Verfilmung des Romans die Dreharbeiten zu kontrollieren. Es ging ihren Vertretern um das öffentliche Bild von afroamerikanischen Männern, u n d es ging darum, zu verhindern, dass der Film, wie der Roman, lesbische Beziehungen zwischen Frauen als Ausweg aus der weit verbreiteten Gewalt gegen Frauen in heterosexuellen Beziehungen propagieren würde. In einem Brief an den Co-Produzenten Quincy Jones drohte ein Funktionär der “Koalition”, Earl Walter Jr., mit einem Boykottaufruf für den Fall, dass der Film „Homosexualität als Lösung der Probleme darstelle, denen schwarze Männer und Frauen miteinander [sic!] gegenüberstehen“. Freundschaft, auch Liebe zwischen Frauen seien akzeptabel, nicht aber Sexualität. Steven Spielberg holte bei den Dreharbeiten keinen Vertreter der “Koalition” ans Set, wohl aber die Autorin selbst. Bei der Premiere des Films in Chicago 1986 kam es daraufhin zu Demonstrationen gegen den Film und zu Gegendemonstrationen für den Film. Unzweifelhaft hatte Alice Walker in ein Wespennest gestochen. Bis heute wird “Die Farbe Lila” in USA vielfach nicht als feministischer (oder gar lesbischer) Roman wahrgenommen, sondern als Roman über Probleme in der schwarzen Community.
Celies Ehemann “Mr.” liebt seit seiner Jugend die Blues- und Jazzsängerin Shug Avery, eine auffallend schöne, unkonventionelle und eindrucksvolle Frau, von deren Foto Celie schon bezaubert ist, bevor sie sie kennengelernt hat. Shug lebt ihr Leben so, wie sie es für richtig hält, und schert sich herzlich wenig um die öffentliche Meinung oder um die Respektabitiltät ihrer wechselnden Liebesbeziehungen. Womöglich hat Zora Neale Hurston mit ihrer ungewöhnlichen Biographie und ihrer freien Lebensweise hier Patin gestanden.
Für Celie ist Shug alles: Ideal, Glücksversprechen, und später Freundin, Therapeutin und Geliebte. Dass „Mr.“ ihr seine Ex-Geliebte ins Haus schleppt, um sie von ihr gesund pflegen zu lassen, stört Celie nicht, für sie ist Shugs Anwesenheit vielmehr eine ersehnte Gelegenheit, ihr näher zu kommen. Celies Bewunderung und Fürsorge erwidert Shug mit Interesse und Aufmerksamkeit für Celie, die nun buchstäblich aufblüht. Shug ermöglicht es Celie, die verlorene Beziehung zu ihrer Schwester wieder anzuknüpfen, indem sie die von „Mr.“ unterschlagenen Briefe Netties aufspürt. Schließlich lehrt sie Celie, ihren Körper als Quelle von Lust und Begehren zu entdecken, und lässt sie erleben, wie es sich anfühlt, begehrt zu werden. Das Aufblühen Celies in der Beziehung zu Shug hat Steven Spielberg kongenial ins Bild gesetzt, vor allem in der Szene, in der Shug Celie von der Schönheit ihres Lächelns überzeugt. Es ist dieses neue Selbstgefühl, das Celie schließlich dazu befähigt, die Beziehung zu „Mr.“ aufzukündigen und mit Shug nach Memphis zu ziehen, um dort das Leben einer selbstständigen Frau in einer Liebesbeziehung mit einer anderen Frau zu führen. Als „Mr.“ sie bei der Trennung beleidigt und demütigt, sagt Celie den berühmten Satz: „Ich bin arm, ich bin schwarz, ich bin vielleicht hässlich und ich kann nicht kochen. Aber ich bin hier.“ Mit diesem Satz bricht sie „Mr.“s Herrschaft. Denn seit sie von Shug geliebt wird, weiß Celie, dass es ausreicht, „hier“ zu sein.
Die Paarbeziehungen und Familien des Romans sind nicht stabil: „Mr.“ hat mit Shug drei Kinder gezeugt und sie dann verlassen. Nach der Ermordung seiner Ehefrau bleibt „Mr.“ seinerseits mit vier Kindern zurück, die er von Celie versorgen lässt. Shug hat Affären mit vielen Männern und wohl auch mit Frauen und heiratet dann Grady, bevor sie mit Celie in Memphis zusammenlebt. Sophia hat mit Harpo mehrere Kinder, verlässt ihn dann und hat mit Buster ein weiteres Kind. Harpo gewinnt Mary Agnes als Geliebte und hat mit ihr ebenfalls ein Kind, das Mary Agnes bei ihm zurücklässt, als sie mit Shug und Celie nach Memphis geht. Eine Zeitlang lebt sie dann mit dem von Shug verlassenen Ehemann Grady zusammen. Shug wiederum hat später sechs Monate lang eine Affäre mit Germaine, einem jungen Musiker aus ihrer Band. Was dem Leben der Romanfiguren Stabilität gibt, ist die Gemeinschaft der Frauen, die auch für die verlassenen Kinder einen sicheren Raum bildet. Als “Mr.” Harpo verbietet, die schwangere Sophia zu heiraten, zieht diese zu ihrer älteren Schwester und bringt ihr Kind dort zur Welt. Während der jahrelangen Haft Sophias sorgen ihre Schwester und Mary Agnes für ihre Kinder, und nachdem Mary Agnes Harpo verlassen hat, kümmern sich Sophia und Celie um ihre Tochter Suzie Q. Die enge Verbundenheit mit den anderen Frauen hilft Celie später, die Zurücksetzung durch Shugs Affäre mit Germaine zu überstehen. Das Quilten, die Herstellung von Decken aus Stoffresten, symbolisiert diese Verbundenheit der Frauen, ein Kunstgriff, der später von dem Film “Ein amerikanisches Quilt” kopiert wurde.
Die Zusammengehörigkeit der Frauen bildet eine Gegenwelt zu der allgegenwärtigen Gewalt, der die Romanfiguren ausgesetzt sind, aber auch, zum Beispiel, zu der äußeren und inneren Isolation der privilegierten weißen Bürgermeistersfrau Miss Millie. Dass Celie sich schließlich sogar mit “Mr.” versöhnt, nachdem dieser seine Dominanzansprüche aufgegeben hat, folgt aus dem Grundsatz der Gemeinschaftlichkeit, die Celie sozusagen auf ihren Ex-Ehemann erweitert: Sie akzeptiert ihn als Mitglied ihrer (Groß-)Familie. Diese Wendung am Schluss des Romans stieß in den achtziger Jahren auf massives Unverständnis bei weißen US-amerikanischen Feministinnen, die diesen Friedensschluss mit dem Aggressor als Verrat an der Sache der Frauen sahen. Aber für eine schwarze Südstaatlerin, das wird in Alice Walkers Schriften immer wieder deutlich, ist die Zusammengehörigkeit mit ihrer Familie und mit ihrer Nachbarschaft unendlich viel wichtiger als die feministischen Ideale von Unabhängigkeit und Abgrenzung gegenüber dem Mann. Die kollektive Erinnerung an rassistische Unterdrückung und an die Erfahrung von Zusammenhalt als wichtigstem Gegenmittel sind Teil der afroamerikanischen Identität. Dieser Identität, vor allem aber den weiblichen Traditionen darin, will Alice Walker mit ihrer Literatur eine Stimme geben. Für den schwarzen Feminismus hat Alice Walker den Begriff “Womanism” geprägt und setzt sich damit vom Feminismus der privilegierten weißen Amerikanerinnen ab. “Womanism” nimmt die kollektive Erfahrung der schwarzen Amerikanerinnen zum Ausgangspunkt und will das beschädigte Selbstgefühl der Afroamerikanerinnen wieder aufrichten, im Bewusstsein der Zusammengehörigkeit letztlich aller Lebewesen. Berühmt geworden ist Alice Walkers Satz: “Womanism verhält sich zu Feminismus wie Lila zu Lavendelblau.”
Celie gelingt es, sich aus Unterdrückung und Rechtlosigkeit zu befreien. Sie entwickelt sich zu einer selbstbewussten und auch wirtschaftlich unabhängigen Frau, die ihre Beziehungen selbst wählt und gestaltet. Ihre Liebesbeziehung mit Shug, aber auch ihre Freundschaften mit Sofia und Mary Agnes stoßen eine persönliche Entwicklung an, die sich deutlich sichtbar in Celies Briefen vollzieht: Briefen, die im Verlauf des Romans immer ausführlicher werden und äußere Ereignisse zunehmend selbstständig verarbeiten. Schreibend verständigt sich Celie mit sich selbst über die Welt und die Menschen, denen sie begegnet, und sie wird dabei zum Subjekt im vollen Sinne.
“Die Farbe Lila” erzählt nicht allein die Emanzipationsgeschichte ihrer Heldin, sondern entfaltet ein Gesellschaftspanorama, eine Südstaatensaga neuer Art. Der Roman ist auch ein Gegenentwurf zu Margaret Mitchells “Vom Winde verweht”. Und als Celie schließlich die Briefe der totgeglaubten Nettie aus Afrika lesen kann, wird das nationale Panorama um eine weitere Perspektive ergänzt: Netties kritischer und einfühlsamer Blick auf Afrika unter kolonialer Herrschaft. Netties Bericht ist auch ein Dokument des Scheiterns, denn sie ist mit Corinne und Samuel nach Afrika gegangen, um die einheimische Bevölkerung christlich zu missionieren, und muss feststellen, dass ihre guten Absichten zwischen kolonialer Gewalt, dem Leiden der afrikanischen Bevölkerung und den Selbsttäuschungen der Amtskirche zerrieben werden. Nettie distanziert sich von den brutalen Riten der Afrikaner wie der Gesichts- und Genitalverstümmelung - ihre Reise nach Afrika ist nicht etwa eine 'Rückkehr zu den Wurzeln', wie Spielbergs Verfilmung es suggeriert, sondern eine aktive Auseinandersetzung mit einem Kontinent, in dem nichts gut ist, auch nicht der Gedanke daran, dass einst Afrikaner von Afrikanern als Sklaven verkauft wurden.
Statt auf ideale Gegenbilder setzt der Roman auf die Möglichkeiten zu einem guten Leben hier und jetzt, auf eine Verbindung von individueller Emanzipation und aktiver Gemeinschaftlichkeit. Die Freiheit, die Celie für sich erringt, zeigt sich in ihrer zunehmenden wirtschaftlichen Unabhängigkeit u n d in ihrer zunehmenden Verbundenheit mit anderen Romanfiguren, bis Celie am Schluss des Romans endlich auch mit Nettie und mit ihren Kindern wieder vereint ist. Für die Mischung aus Verbundenheit und Freiheit steht die Farbe Lila, zusammengesetzt aus den Grundfarben Blau - der Farbe des Blues, der traditionellen gemeinschaftlichen Musikform der Sklaven auf den Südstaatenplantagen - und Rot, der Farbe des Jazz, der aus der Erfahrung des stärker individualisierten städtischen Lebens entstand. Lila ist auch in der US-amerikanischen Kultur die Farbe der Frauenbewegung, und Lila verkörpert in der Welt des Romans die Schönheit der Natur, in der Gott sich offenbart. In Shugs Worten heißt das so: “Ich glaub, Gott ist angepisst, wenn du irgendwo in einem Feld an der Farbe Lila vorbeigehst und sie nich siehst.” Shugs spezielle Religiosität, die zur “Botschaft” des Romans gehört, steht irgendwo zwischen Pantheismus und New-Age-Spiritualität: Gott ist überall und alles ist mit allem verbunden. Celie jedenfalls richtet nach Shugs Nachhilfestunde in Sachen Religion ihre Briefe nicht mehr an Gott, sondern an Nettie und, ganz zum Schluss, an Gott, die Sterne, die Bäume, den Himmel, die Menschen und “Alles”.
Aus Alice Walkers eigenwilligem, originellem und vielschichtigem Roman hat Steven Spielberg einen Film gemacht, der dem US-amerikanischen Mehrheitsgeschmack deutlich angepasster ist als das Buch. Die sexuelle Beziehung zwischen Celie und Shug wird lediglich angedeutet, das Zusammenleben der beiden Frauen in Memphis bleibt ausgeblendet, die Shug des Films ist eine hellhäutige, sehr schlanke Jazzsängerin, während im Roman Celie sich gerade von Shugs tiefschwarzer Hautfarbe und ihrem rundlichen Körper angezogen fühlt. Gegen Ende des Films fügt Spielberg eine ganz neue Episode in die Handlung ein: Shug gelingt es nach vielen vergeblichen Versuchen endlich, die Liebe ihres Vaters, eines konservativen Predigers, wiederzugewinnen. Die Versöhnung von Vater und Tochter vollzieht sich bei einem Gottesdienst, in der Kirche des Vaters, als musikalisches Zusammentreffen von Jazz und Gospel, und dabei geht der Jazz im Gospel auf. Wenn Shug “Lord, speak to me” singt und dabei ihren Vater ansieht, verschmilzt dieser mit Gottvater, dem Allmächtigen - zu viel Ehre für einen engherzigen Familientyrannen. Spielberg opfert die innere Freiheit und Widerständigkeit Shugs, um das überkommene Familienbild und die traditionelle Kirchenfrömmigkeit zu re-installieren, die der Roman gerade erfolgreich in Frage gestellt hat.
Literatur: Bloom, Harold (Hrsg.) (2002): Alice Walker. Broomall: Chelsea House Publishers Walker, Alice (1983): In Search of Our Mothers' Gardens. Womanist Prose. New York: Harcourt Brace Jovanovitch Walker, Alice (1996): The Same River Twice. Honoring the Difficult. New York: Washington Square Press
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