Fembio Specials Frauenbeziehungen Adele Schopenhauer Wie Adele Schopenhauer zu sich selber kam. Essay von Renate Kraft
Fembio Special: Frauenbeziehungen
Wie Adele Schopenhauer zu sich selber kam. Essay von Renate Kraft
In den Jahren 1815 bis 1818, im Alter von 18 bis 21 Jahren, galt Adele Schopenhauer als vielversprechendes Nachwuchstalent in den gebildeten Kreisen der Stadt Weimar, damals das kulturelle Zentrum Europas. Als Tochter der bekannten Romanautorin und Salonnière Johanna Schopenhauer hatte Adele Anregung und Förderung von allen Seiten erfahren. Schon in ihrer Jugend hatte Adele die Männer und Frauen kennengelernt, die im kulturellen Leben der Zeit Bedeutung hatten. Adeles musikalischer Geschmack, ihr schauspielerisches Talent, ihre kunstvollen Scherenschnitte, ihr Verständnis für literarische und künstlerische Fragen erregten Interesse und Aufmerksamkeit. Auch Johann Wolfgang Goethe förderte die junge Frau, die ihn ihren „lieben Vater“ nannte; zu einigen ihrer Scherenschnitte hat er Gedichte geschrieben. Früh erkannte er Adeles schauspielerische Begabung und engagierte sie für Theateraufführungen am großherzoglichen Hof. 1818 trat Adele im Festspiel 'Paläophron und Neoterpe' auf, in Liebhaberaufführungen übernahm sie zahlreiche Rollen, später begeisterte sie in Danzig als Thekla in Schillers 'Wallenstein'. Adele Schopenhauer dichtete, schrieb Aufsätze, versuchte sich als Dramenautorin, sie zeichnete mit Feder und Pinsel: ein Multitalent, das noch auf der Suche war nach dem Medium, der Kunstform, die ihr gemäß war und in der sie ihre Begabung systematisch hätte ausbilden können. Dazu aber kam es nicht. Der schöpferische Impetus wie auch die Lebensaussichten Adeles gingen verloren in romantischer Entgrenzung und in den Tücken des Heiratsmarkts.
Als Teenager hatte Adele – wie viele junge Mädchen ihrer Zeit – Liebesfreundschaften mit Altersgenossinnen, vor allem mit Ottilie von Pogwisch, der Tochter einer Weimarer Hofdame. Solche Liebesfreundschaften waren ein Teil der zeitgenössischen Kultur, eine Art Moratorium, das die Gesellschaft für junge Frauen bereithielt, bevor die patriarchale Ehe ihren Tribut forderte. Wie diese Beziehungen von den Beteiligten gestaltet wurden, kann uns heute noch ein wenig neidisch stimmen: Da wurden als Ausdruck der Zuneigung Gedichte verfasst und Zeichnungen angefertigt, Blumen und Briefe waren - ganz im Sinne der Kultur der Empfindsamkeit - bedeutungsvolle Medien wechselseitiger Gefühlsbezeigung, Bücher und Theateraufführungen wurden zum Gegenstand gemeinsamer Begeisterung. Liebeserklärungen waren oft von Zärtlichkeiten begleitet, Zusammengehörigkeit und gegenseitige Abhängigkeit wurden beschworen – das bürgerliche Autonomieideal hatte diese jungen Frauen noch nicht erreicht. In einem Brief Adeles an Ottilie heißt es: “Ach, Luisen liebe ich wohl [gemeint ist beider Freundin Luise Kirsten], so wie Dich, aber Dich ganz anders, mit jeder Kraft meines Daseyns liebe ich dich, mit jedem Gefühle das in mir ist; was ich unternehme, was ich denken mag, frage ich Dich in Gedanken und glaube dass ich nicht leben kann, wenn Du nicht glücklich bist, denn Du allein weißt alle meine Gedanken und empfindest ganz so wie ich.”
Die Liebesfreundschaft zwischen Adele Schopenhauer und Ottilie Pogwisch ging über die empfindsame Tradition noch hinaus, indem die beiden jungen Frauen, unter Führung Ottilies, eine eigene Welt aus Träumen und Sehnsüchten errichteten. Adele bekannte später: “Ich passte nur zu Ottilien, ihre Phantasie, die Regellosigkeit des weit greifenden Geistes, die fesselfreie Empfindung aller Tiefen des Lebens und Liebens hatten mich verdorben für alles andere Leben. Ich konnte glücklich machen, aber nicht mehr glücklich sein ohne sie.” Aber es scheint, dass Ottilies Persönlichkeit aus mehr flüchtigen als festen Teilen bestand, und als sie begann, sich für junge Männer in ihrer Umgebung zu interessieren, gewannen Begeisterung und Sehnsucht schnell den Vorrang vor den Menschen, die mit diesen Gefühlen bedacht wurden. Adele, die spürte, dass es dabei um sie nicht mehr ging, folgte der Freundin in ihre Gefühlsstürme und verlor sich selbst dabei, das Bewusstsein für den eigenen Wert ebenso wie die Überzeugung, selbst etwas bewirken zu können – solche Selbstkonzepte können sich ja nur im Austausch mit einem bedeutungsvollen Gegenüber bilden. Aber Adele fand kein Gegenüber. Sie verliebte sich in die gleichen jungen Männer wie Ottilie, aber mit deutlich geringerem Erfolg als diese. Ottilie bezauberte schon durch ihre Schönheit, und Adele war nicht nur weniger schön, sie war auch von vornherein dadurch behindert, dass sie als Dritte zwischen der Freundin und einem Mann stand, die beide aneinander stärker interessiert waren als an ihr. Angela Steidele hat Briefe und Tagebucheinträge aus dieser Zeit so interpretiert, dass Adele sich ein sexuelles Verhältnis zur Freundin wünschte und sich an deren Männerbeziehungen gleichsam beteiligte, um sie zu kontrollieren. Dass sie sich dabei aber selbst abhanden kam, liegt meiner Ansicht nach vor allem an der romantischen Dynamik in ihrem Verhältnis zur Freundin, die Gabriele Büch in ihrer Biographie über Adele in den Vordergrund stellt, wenn auch eher nachempfindend als analysierend.
Das romantische Begehren ist bekanntlich nicht auf Erfüllung angelegt, sondern hält den Zustand idealisierender Sehnsucht fest, weil jede Realisierung die imaginierte vollkommene Verschmelzung der Liebenden beeinträchtigen würde. Das Problem, das die reale Verschiedenheit der Menschen für die romantische Liebe bedeutet, hat Friedrich Schlegel in seiner Dichtung 'Lucinde' dadurch zu lösen versucht, dass er der Frau die Aufgabe zuweist, sich dem Bild des Mannes von ihr vollkommen anzupassen; die Konsequenz, dass auf diese Weise die Frau sich selbst verlorengeht, hat ihn wenig interessiert. Adele Schopenhauer ging sich selbst gleich im doppelten Sinne verloren, denn sie war nicht einmal selbst die romantische Geliebte, sondern bloß ein Trabant Ottilies. Diese verfiel nacheinander Ferdinand Heinke, Heinrich Nicolovius, Baptiste Blondin, Ferdinand Nicolovius und Charles Sterling, und sie heiratete schließlich Goethes unglücklichen Sohn August, nicht weil sie ihn etwa gemocht hätte, sondern um dem verehrten Dichter-Vater näher zu sein – auch dies eine konsequente Umsetzung des romantischen Prinzips.
Die verlassene Adele sah sich der Aufgabe gegenüber, auf dem Heiratsmarkt einen Mann fürs Leben zu finden, und das war nach ihrer Lesart nicht einfach eine gute Partie, sondern einer, den sie lieben konnte und der sie lieben würde. Ihre Suche scheiterte, obwohl sie dabei große Gefühle investierte. Regierungsrat Könneritz zeigte ein gewisses Interesse an gebildeten Gesprächen, verlobte sich dann aber mit Luise von Werthern. Mit dem Chemiker Gottfried Osann war Adele fünf Jahre lang in Unentschiedenheit verbunden - er war ihr zu nüchtern, sie ihm zu extrem - bis er eine wissenschaftliche Stelle im Baltikum annahm. Der Medizinstudent Louis Stromeyer zeigte sich gefühlvoll und zog Adele in eine Affäre, die Adele für eine Liebesbeziehung hielt, er selbst aber nur für eine Bettgeschichte. Die Scham über das Verlassenwerdens war so groß, dass Adele in ihrem 'Tagebuch einer Einsamen' das Ende ihrer Liebschaften regelmäßig umdeutet in eine Entsagung im Dienste höherer Werte. Im Alter von 27 Jahren war Adele Schopenhauer am Ende: emotional ausgeplündert, an Depression leidend und definitiv jenseits des heiratsfähigen Alters. Ihre Tagebucheintragung vom 21. Februar 1826 lautet: “Ich werde diese Blätter nicht mehr fortsetzen - für wen? weshalb? Ich werde leben, tragen, dulden, hoffnungslos bleiben, freudenlos sterben, denn Leben und Tod sind mir, wenn ichs recht bedenke, gleich fern, beide dem Wunsche fremd!”
Wenn ein Leben so vielversprechend beginnt und so dramatisch ins Straucheln gerät, liegt es nahe, nach Gründen dafür auch in der Familiengeschichte zu forschen. Und tatsächlich waren die Schopenhauers für die Lieblosigkeit ihres Umgangs miteinander bekannt. Die Ehe der Eltern, Johanna und Heinrich Floris Schopenhauer, war definitiv nicht aus Zuneigung geschlossen worden und endete vorzeitig, als Heinrich Floris sich vom Speicher seines Hauses im Großen Wandrahm in den Kanal stürzte, woraufhin seine Ehefrau sich endlich ihren Lebenstraum erfüllen konnte, indem sie nach Weimar zog und dort einen Salon führte. Den älteren Sohn Arthur verwies sie wegen seiner notorischen Unverträglichkeit des Hauses. Arthur wiederum war klug genug, auf einer Auszahlung seines Anteils am väterlichen Erbe zu bestehen, bevor die Mutter es durchbringen konnte, so wie sie es in den Folgejahren mit Adeles Vermögen tat. Johanna Schopenhauer lebte gern auf großem Fuß - auch dann noch, als sie und Adele einen Großteil ihres Vermögens beim Zusammenbruch des Danziger Bankhauses Muhl verloren hatten. An Gefühlen war sie wenig, an gesellschaftlicher Geltung dagegen sehr interessiert. Ihre große Willenskraft scheint in ihrer Tochter wenig Widerstand gefunden zu haben, diese trat vielmehr schon als Kind mit einem besonderen Talent zur Einfühlung in die Bedürfnisse ihrer Mutter hervor, ohne dass diese sich in ähnlicher Weise um ihre kleine Tochter bemüht hätte. - Wo so wenig reale Zuneigung zu haben ist, muss die von der Romantik beschworene Sehnsucht eine starke Wirkung entfalten.
Dennoch beschreiben Zeugnisse aus ihrer Kindheit Adele als natürliches, lebhaftes, ja anmutiges Kind. Erst später beklagten Zeitgenossen ihren zu großen Kopf, ihre ungelenken Bewegungen, ihre gespreizte Redeweise. Noch als junge Frau war sie vor allem durch ihre vielfachen Talente aufgefallen, als Schauspielerin hatte sie ihr Publikum begeistert. Die immer wieder kritisierte Hässlichkeit der erwachsenen Adele Schopenhauer war möglicherweise kein Naturereignis, sondern Niederschlag dessen, was ihr als junger Frau zugestoßen war: romantische Auszehrung und das Scheitern auf dem Heiratsmarkt.
Als Adele Schopenhauer vier Jahre später, 1828, auf einer Reise ins Rheinland Sibylle Mertens-Schaaffhausen begegnete, verliebten sich beide sofort ineinander. Sibylle scheint diejenige gewesen zu sein, die das Verhältnis forcierte, gegen alle Hindernisse: Ein Jahr später wohnten Adele und ihre Mutter im Landhaus der Familie Mertens in Unkel und teilten Haus und Garten mit ihrer Vermieterin. Diese hatte soeben ihr fünftes Kind zur Welt gebracht und ging ihrem Ehemann, dem Bankdirektor Louis Mertens, so weit wie möglich aus dem Weg. Die Beziehung der beiden Frauen wurde von der zeitgenössischen Auffassung geschützt, dass Frauen zwar innige Freundschaften, aber mangels geeigneter Organe keinen sexuellen Kontakt miteinander haben konnten. Bis ins 20. Jahrhundert hinein wirkte außerdem die Überzeugung, eine Frau müsse ohne die Liebe und den Schutz eines Mannes unglücklich werden. Noch 1944 stellte Rudolf Hiller in seiner Aufsatzsammlung über die Schwestern berühmter Männer fest: “Sibylle ist die Trösterin der weltmüden Adele [...] und entschädigt das arme, reizlose Mädchen für die entgangene Gattenliebe und Bruderliebe.” - Dennoch entwickelte Louis Mertens nach einiger Zeit eine Ahnung von dem, was sich in seinem Landhaus abspielte. Und auch wenn seine Ehe mit Sibylle Schaaffhausen vor allem zum Zwecke der Vereinigung zweier Vermögen geschlossen worden war: Mit dieser Konstellation wollte er sich nicht abfinden. Er versuchte mit allen Kräften, Sibylle wieder auf die Familie und das gemeinsame Haus zu verpflichten.
Auch sonst war die Verbindung von vornherein gefährdet. Die beiden Frauen hätten unterschiedlicher nicht sein können. Im Gegensatz zu Adele war Sibylle reich und trat selbstgewiss auf. Sie war es gewohnt, sich vom Leben zu nehmen, was sie haben wollte. Trotz ihrer Familienpflichten pflegte sie eigene Interessen und Talente, sie spielte virtuos Klavier und beeindruckte Fachleute durch ihre Kenntnisse in der Altertumskunde. Seit ihrer Kindheit mit wichtigen Persönlichkeiten des kulturellen Lebens bekannt, führte sie in Köln einen eleganten Salon. Ihre Lebensführung wurde durch ihre sehr komfortable finanzielle Ausstattung begünstigt. Abgesehen von ihrer Ehe, die ihr Vater im Interesse des Familienunternehmens arrangiert hatte, war Sibylle Mertens-Schaffhausen eine vom Schicksal begünstigte Frau, die ihr Leben den eigenen Wünschen gemäß einzurichten wusste, eine Frau nach dem Geschmack der Moderne.
Die Literaturwissenschaftlerin Christa Bürger sieht in ihrem Radiobeitrag vom 9. Juni 2013 Sibylle denn auch als den schönen Schwan in dieser Frauenbeziehung, Adele hingegen als diejenige, die wenig zu geben hatte. “Adele hatte das Glück, einer Frau zu begegnen, die umfassend begabt war, mit Geist, Bildung, Herkunft und Vermögen.” Höchst unterschiedliche “Begabungen” werden hier in eine Reihe gestellt. Ja, Sibylle Mertens konnte stolz sein auf ihre Intelligenz und Bildung und vor allem auf das, was sie damit bewerkstelligte. Aber ihre Wohlhabenheit und ihre sichere gesellschaftliche Verankerung waren ihr zugefallen qua Herkunft und glücklichem Zufall, während Adele um ihren Platz in der Welt kämpfen musste. Als “große Liebende”, wie Bürger Sibylle Mertens nennt, hätte sich diese auch kaum einer Frau zugewandt, die gar nicht lieben konnte, wie Bürger es Adele Schopenhauer unterstellt.
Solchen Diagnosen der Nachwelt zum Trotz verlief das Zusammenleben der beiden Frauen zunächst sehr harmonisch, und Besucher beschrieben Adele als sehr glücklich. Zum ersten Mal in ihrem erwachsenen Leben war ihre Liebe auf Gegenliebe gestoßen. In einem Brief an Ottilie schrieb sie: “Ich habe wieder eine menschlich-weiche Neigung in meinem vom Kummer versteinten Herzen - zu einer Frau, die im Wesen Dir und mir gleicht. Was sie alles getan hat, um mich zu gewinnen, aus welcher reinen Absicht, wie sie mittendrin die Absicht verloren und nur Gefühl geworden ist, das, meine Ottilie, ist zu groß und wunderlich, um es einem Wisch Papier anzuvertrauen.” Der letzte Satz ist nicht notwendig Indiz für eine Haltung, die allein das Begehrtwerden sucht. Hier wird Begeisterung darüber zum Ausdruck gebracht, dass das eigene Begehren endlich erwidert wird, dass die Liebe eine reale Gestalt gewinnt, statt nur in romantischen Träumen stattzufinden. Bemerkenswert ist auch eine Veränderung in Adeles Schreibweise: Humor findet sich jetzt darin und ein neuer Realitätsbezug. So beschreibt Adele Sibylle beim Unterrichten ihrer Kinder: ” [...] eben erklärt sie Pästum - griechische Tempel, den Aetna [...] und brüllt wie der Krater: Da sind so entzündbare Sachen wie Schwefelhölzer und wenn die im Berg ein Loch gebrannt haben etc - A CE TRAIT JE LA RECONNAIS MEIN THIERCHEN.” Adeles Namen für Sibylle, “mein Thierchen” oder “mein kleiner schwarzer Araber” (gemeint ist der Araberhengst) verweisen auf die sexuelle Seite der Beziehung zwischen den beiden Frauen und darauf, dass Adele die Leidenschaftlichkeit ihrer Geliebten sehr wohl zu goutieren wusste.
Sibylle erkannte umgekehrt Adeles schriftstellerisches Talent und drängte sie, es stärker zu nutzen, diese aber war zunächst vor allem mit ihrer neuen Lebenssituation beschäftigt und auch damit, immer noch mehr Wünsche ihrer Mutter zu erfüllen. Mutter und Tochter lebten im Rheinland unaufwendiger als in Weimar, dennoch bediente sich Johanna weiterhin ungeniert aus Adeles Vermögen. Auch für ihre eigene Romanproduktion bedurfte sie der tätigen Hilfe der Tochter - wenn es sich so ergab, spannte sie, wie Angela Steidele zeigen konnte, sogar deren Freundinnen ein. Schließlich wankte auch Johannas Gesundheit, und die sich daraus ergebenden Aufgaben fielen ganz selbstverständlich ihrer Tochter zu.
Die Störungen durch Louis Mertens, Adeles Geldsorgen und die Ansprüche ihrer Mutter belasteten das Zusammenleben zunehmend, und Sibylle besann sich auf ihren Grundsatz, sich vom Leben zu nehmen, was sie sich wünschte. Erst lud sie ihre langjährige Bekannte Annette von Droste-Hülshoff zu einer gemeinsamen Reise in die Schweiz ein (die allerdings von Annettes Mutter verhindert wurde), dann machte sie der Schriftstellerin Anna Jameson Avancen. Diese war zunächst Ottilie Goethe stärker zugeneigt, ließ sich dann aber doch auf eine Liebesgeschichte mit Sibylle Mertens ein - als sie merkte, dass bei Ottilie für eine Frau nichts zu holen war. Tief verletzt verliebte sich Adele Schopenhaueer in der Folge wieder in Männer. Und es scheint, dass sie, wie schon in ihrer Jugend, viel mehr suchte als eine gute Partie und dass sie erneut auf wenig Gegenliebe stieß. Für die heutige Leserin ist es schmerzhaft, zu sehen, wie da eine Frau in ihr altes Lebensmuster zurückfällt.
Sibylle, die von ihrem Mann zur Erholung nach Italien geschickt wurde, erlebte dort mit der Genueserin Laurina Spinola eine große Liebe. Auf die politischen Umbrüche in Italien und den Ausbruch der Cholera reagierte sie mit tatkräftigem Engagement, auf den frühen Tod Laurina Spinolas mit heftiger Trauer. Innerlich hat sie in dieser Zeit, wenn wir der Biographin Angela Steidele glauben wollen, Adele Schopenhauer niemals wirklich aufgegeben - und darin steckt wohl auch ein Stück Realitätsverleugnung, denn real hatte Sibylle Adele ja verlassen.
Später wollte Sibylle die Verbindung mit Adele Schopenhauer wieder anknüpfen, Adele jedoch sperrte sich zunächst. Sie lebte nach dem Tod ihrer Mutter wieder im Rheinland, wo sich in jenen Jahren ein Netzwerk von künstlerisch und menschlich eng miteinander verbundenen Frauen entwickelte, für das Christa Bürger den Begriff „affidamento“ benutzt – in Anlehnung an die Produktions- und Lebensgemeinschaft feministischer Philosophinnen in Mailand im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts. Angela Steidele hat in ihrer Biographie anhand von Briefen gezeigt, dass Adele zu dieser Zeit in einer engen Verbindung zu Annette von Droste-Hülshoff stand und sich vorstellen konnte, mit ihr zu leben. Auch als literarische Kritikerin wurde sie von der Freundin hoch geschätzt. In diesen Jahren entwickelte sich Adele Schopenhauer zu einer ernsthaften Schriftstellerin mit zahlreichen erfolgreichen Veröffentlichungen: Erzählungen, Märchen, Romane und - zusammen mit Ottilies Sohn Walther - ein Opernlibretto. Zu ihren Lebzeiten unveröffentlicht blieben ihr 'Tagebuch einer Einsamen' und ein Reiseführer für Florenz.
In ihrer Dissertation von 2004 hat die Literaturwissenschaftlerin Domietta Seeliger alle bis dahin veröffentlichten Schriften Adele Schopenhauers untersucht. Für Leserinnen von heute sind vor allem die Romane eine harte Kost, weil Adele Schopenhauer in ihnen das Muster ihrer Männerbeziehungen neu auflegt, mit weiblicher Entsagung als bestimmendem Thema. Thematisiert wird auch die weibliche Furcht vor einer gewaltsamen männlichen Sexualität - eine verständliche Einstellung zu einer Zeit, in der viele Männer im Ehebett kaum anders vorgingen als im Krieg.
Umso interessanter ist in diesem Zusammenhang das Libretto “Erlinde”, das Adele zusammen mit Ottilies Sohn Walther verfasste. Wie die Schöne Melusine aus der mittelalterlichen Sage, wie Undine bei Friedrich de la Motte Fouqué und wie später Hans Christian Andersens Kleine Seejungfrau ist auch Erlinde ein Mischwesen, eine Frau mit einem Fischschwanz und übernatürlichen Fähigkeiten, die beides aufgibt, um die Liebe eines Mannes zu gewinnen. Bei Schopenhauer und Goethe beendet der Mann die Beziehung vor allem deswegen, weil er sein Ausgeliefertsein an die Frau und an das sexuelle Erleben nicht ertragen kann - Erlinde ist hier also auch ohne ihren Fischschwanz eine Frau mit Macht, und zwar mit sexueller Macht. Es scheint, dass in dieser Märchendichtung eine lesbische Frau und ein schwuler Mann die Ordnung der Geschlechter neu entworfen haben.
Schließlich wurden, nach dem Tod von Louis Mertens, Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens doch wieder ein Paar. Tragischerweise verschlimmerte sich gleichzeitig die langjährige Krebserkrankung Adeles. Die wieder vereinten Frauen waren nun frei zu leben, wie und wo sie wollten, aber das neue, gemeinsame Leben in Bonn, Florenz und Rom stand von vornherein im Schatten des Todes. Dennoch war es eine der glücklichen Zeitspannen im Leben Adeles. Zusammen mit Sibylle stand sie im Zentrum des intellektuellen Lebens der deutschen Kolonie in Rom. Und während Sibylle sich als Sammlerin und Kennerin antiker Fundstücke einen Namen machte, arbeitete Adele an einem Florenz-Buch neuer Art: ein Reiseführer, in dem die Erläuterungen der Kunstschätze durch Berichte und Anekdoten aus dem Leben der Stadt ergänzt sind. Möglicherweise richtete sich das Buch an die zunehmende Zahl reisender Frauen im Europa des 19. Jahrhunderts, ganz sicher aber reflektiert es die Einsicht, dass ein fremdes Land nicht allein über das Aufnehmen von Faktenwissen verstanden werden kann, dass dazu vielmehr ein persönliches Sich-in-Beziehung-Setzen notwendig ist. Gegenüber den Romanen fällt eine neue Leichtigkeit des Tons auf, ein Vergnügen am Hier und Jetzt. Als hätte die todkranke Adele Schopenhauer beschlossen, von allem Unglück der Vergangenheit abzusehen und das Leben zu feiern. Auch so kann das Ankommen einer Frau bei sich selbst aussehen.
In den letzten qualvollen Wochen ihres Lebens wurde Adele von Sibylle in Bonn aufopferungsvoll gepflegt. Wenn die Schmerzen nachließen, riefen die beiden Frauen gemeinsame Erinnerungen wach und sprachen über Adeles Begräbnis und Nachlass. Ottilie kam zu einem letzten Besuch. Ganz in der Nähe von Sibylles Haus, auf dem heute so genannten Alten Friedhof in Bonn, liegt Adele Schopenhauer begraben. Der Grabstein, den Sibylle Mertens für sie errichten ließ, ist heute noch zu besichtigen.
Die Inschrift auf diesem Grabstein lässt erahnen, dass in dieser Liebesbeziehung nicht allein Adele Schopenhauer zu sich selbst gekommen ist. Sibylle Mertens, die mit ihrem Freiheitswillen und ihrer Autonomie, ihrem großen Talent, den eigenen Wünschen zur Erfüllung zu verhelfen, uns Heutigen so nahe steht, hat in der Beziehung mit Adele Schopenhauer ihre Vorstellungen von dem, was im Leben wichtig ist, offenbar erweitert. Ihr Nachruf an Adele Schopenhauer lautet: “Hier ruht Luise Adelaide Lavinia Schopenhauer nach einem Leben von 52 Jahren, ausgezeichnet durch Herz, Geist, Talent, beste Tochter, zärtlich und treu ihren Freunden, ertrug sie mit edelster Seelenwürde Wechselfälle des Schicksals und lange, schmerzhafte Krankheit mit heiterer Geduld. Sie fand das Ende ihrer Leiden am 25. August 1849. Das Grabmal errichtete die untröstliche Freundin Sibylle Mertens-Schaaffhausen.”
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