Fembio Specials Exilantinnen (1933-1945) Veza Canetti
Fembio Special: Exilantinnen (1933-1945)
Veza Canetti
(Geburtsname: Venetiana Taubner-Calderon, Pseudonyme: Veza Magd, Martha Murner, Veronika Knecht)
geboren am 21. November 1897 in Wien, Österreich-Ungarn
gestorben am 1. Mai 1963 in London, Großbritannien
jugoslawische, dann staatenlose, zuletzt britische
Schriftstellerin und Übersetzerin
60. Todestag am 1. Mai 2023
Biografie • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Wie die österreichisch-britische Schriftstellerin Hilde Spiel sich erinnerte, war Elias Canetti in den 1930er Jahren in Wien bekannt als der Ehemann der Schriftstellerin Veza Magd – so eins der Pseudonyme unter denen Veza Canetti damals veröffentlichte. Sie galt als brillantes Talent, aber wie bei so vielen Autorinnen ihrer Zeit wurde ihre Karriere durch den aufkommenden Faschismus abrupt beendet. Inzwischen hat sich die Wahrnehmung der beiden Canettis in der Öffentlichkeit umgekehrt.
Wien
Als Venetiana Taubner-Calderon wurde sie in Wien geboren; ihre Mutter Rachel Taubner-Calderon war eine bosnisch-serbische-sephardische Adelige, ihre Vater Hermann Taubner ein ungarisch-jüdischer Kaufmann. 1915 legte sie ihre Matura ab und bildete sich im Anschluss im Selbststudium weiter. Einige Zeit arbeitete sie als Lehrerin an einem privaten Gymnasium. Sie interessierte sich sehr für Literatur und besuchte regelmäßig Vorlesungen von Karl Kraus. Zu ihrer Mutter hatte sie eine sehr enge Bindung und wohnte bis zu deren Tod 1934 mit ihr zusammen. Häufig besuchte sie auch Familie in Manchester.
Vermutlich bereits von Geburt an fehlte ihr der linke Unterarm. Sie trug nie eine Prothese, sondern nur einen ausgestopften Ärmel, der schlaff herunterhing mit einem schwarzen Handschuh – eine Umstand, den ihr späterer Mann Elias Canetti in seiner Autobiografie genauso verschweigt wie das erfolgreiche Schreiben Veza Canettis.
Als sie sechs Jahre alt war, starb ihr Vater. Ihre Mutter heiratete einige Zeit später erneut, diesmal einen despotischen Patriarchen, der wie sie selber aus dem bosnischen Sarajewo stammt, der vor Gewalt gegen die beiden Frauen nicht zurückschreckte. So erstaunt es nicht, dass in den Werken Veza Canettis dann später auch gewalttätige Männer auftreten, so beispielsweise in ihrem Theaterstück Der Oger.
Anfang der 1930er Jahren begann Veza Canetti Erzählungen, Romane und Stücke zu schreiben, die sie unter vielsagenden Pseudonymen wie Veza Magd, Martha Murner und Veronika Knecht veröffentlichte. Diese waren offensichtlich nötig, denn – wie ihr gesagt wurde –, „bei dem latenten Antisemitismus kann man von einer Jüdin nicht so viele Geschichten und Romane bringen, und Ihre sind leider die besten.“
Ihre nachdenklichen Erzählungen, in denen sie als Sozialistin klar Stellung zu sozialen Problemen bezieht, erschienen vor allem in der österreichischen Arbeiter-Zeitung. Diese war das Organ der Sozialistischen Partei, der damaligen Regierungspartei Wiens, und galt als die bestgeschriebenen Zeitung Wiens zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und 1934. Bei einem Wettbewerb für die beste Kurzgeschichte erhielt ihre Erzählung „Ein Kind rollt Gold“ den zweiten Preis unter 827 Einsendungen, ein erster Preis wurde nicht vergeben. Diese Erzählung erschien im März 1933 in der Arbeiter-Zeitung.
Im gleichen Jahr wurde erstmals einer ihrer Texte in einem Buch aufgenommen: „Geduld bringt Rosen“, die in der Anthologie 30 neue Erzähler des neuen Deutschland. Junge deutsche Prosa im Malik Verlag veröffentlicht wurde – ein Buch, das kurz danach auf der Liste der verbotenen Bücher in Deutschland stand.
In ihren Erzählungen geht es um hilflose, zu kurz gekommene Menschen, die sie aus ihrem täglichen Leben kannte, vor allem aber auch um Frauen, die sich für andere aufopfern oder in Ehen Gewalt ausgesetzt sind, um Dienstmädchen und rechtlose Arbeiterinnen. Ihre alltäglichen Erfahrungen in Wien verarbeitet sie in dem Roman Die gelbe Straße.
Ihre beiden vermutlich ersten Romane Kaspar Hauser und Die Genießer, die sie noch in Wien verfasste, sind verschollen.
Schnell gewann sie Ansehen in Wiener intellektuellen Kreisen. 1924 lernte sie Elias Canetti bei einer Lesung von Karl Kraus kennen. 1933 zog sie mit Canetti zusammen; ein Jahr später wurde geheiratet. Sie war ihm nicht nur Partnerin, sondern auch Lehrerin in philosophischen und literarischen Fragen.
Vor ihrer Ehe hatte sie die jugoslawische Staatsbürgerschaft, durch diese war sie in den 1930er Jahren von einer Abschiebung nach Jugoslawien bedroht. Die Ehe machte auch sie staatenlos – deshalb konnte sie nicht mehr nach Jugoslawien abgeschoben werden.
Durch den Austrofaschismus ab 1934 war Veza Canetti nicht mehr in der Lage, weiter in Österreich zu veröffentlichen, nur versteckt gelang es ihr bis 1937 noch einzelne Texte unterzubringen. Als ihre letzte Publikation vor dem Zweiten Weltkrieg gilt „Drei Helden und eine Frau“ unter ihrem Pseudonym Veronika Knecht, die im Sommer 1934 in der in Prag erscheinenden Monatszeitung für Literatur und Kritik Neue deutsche Blätter veröffentlicht wurde. Darin verarbeitete sie die Ereignisse des österreichischen Bürgerkriegs vom Februar des gleichen Jahres.
Als 1938 die deutschen Nationalsozialisten in Österreich einmarschierten und es auch dort im November zu einer Pogromnacht kam, floh das Ehepaar Canetti zu Elias Canettis Bruder Georges in Paris, von wo aus sie im Januar 1939 ins Exil nach Großbritannien aufbrachen.
Großbritannien
Beiden Canettis war ihr Exilland nicht fremd. Sie hatten Verwandte in Manchester, die sie bereits früher besucht hatten, die Sprache war ihnen also vertraut. Auch hatten sie dort bereits Kontakte. Dennoch wussten sie nicht, wovon sie leben sollten. In englischer Sprache zu schreiben, konnten sie sich erst einmal nicht vorstellen, auch wenn Veza Canetti dem Wechsel aufgeschlossener gegenüberstand.
Die Eingewöhnung in ihr Exilland wurde für Veza Canetti dadurch erschwert, dass ihr Ehemann – wie bereits in Wien – immer wieder Affären mit anderen Frauen hatte, mit denen er zeitweilig auch zusammenlebte. Dennoch war sie diejenige, die unter den Schwierigkeiten des Exils und des Krieges für ein Einkommen für beide sorgte. Auf Dauer wurde sie auch Mitglied des Free Austrian PEN. Zu ihrem Bekanntenkreis in London gehören unter anderem der Dichter Erich Fried und die Bildhauerin Anna Mahler, die beide ebenfalls aus Wien stammten.
Gleich nach ihrer Ankunft in London begann sie an ihrem eindrucksvollen Roman Die Schildkröten zu arbeiten, in dem sie davon erzählt, wie ein Ehepaar nach dem „Anschluss“ auf das ersehnte Visum wartet. Es wird deutlich, wie sich die Situation in Österreich zuspitzte und wie aussichtslos sie war. Leicht als autobiografisch gefärbt erkennbar, schreibt sie darin über die letzten Monate des Paares in Wien, vom Einmarsch der Deutschen in Österreich, wie die NS-Organisationen das Straßenbild zunehmend bestimmten, über die Aufgabe ihres Hauses und die Pogromnacht, über die Zerstörung der jüdischen Einrichtungen bis hin zur Flucht nach England. Der Roman wurde bereits im Juli 1939 von einem englischen Verlag angenommen, erschien aber dann doch nicht mehr, da während des Krieges nur noch eine geringe Zahl an Büchern in Großbritannien veröffentlicht werden konnte.
Bereits 1939 bot Veza Canetti Handelskorrespondenz in drei Sprachen an und gab Sprachunterricht. Ihr war klar, dass die Publikationsmöglichkeiten in Großbritannien für sie gering waren, und sie erkundigte sich dann auch nach Arbeitsmöglichkeiten für Geflüchtete.
Veza Canetti arbeitete als Lektorin bei Hutchinson und übersetzte unter anderem The Power and the Glory von Graham Greene ins Deutsche.
Auf keinen Fall wollte Veza Canetti nach dem Krieg zurück nach Wien. Sie ging davon aus, dass die Nazis dort „bald alle jüdische Pässe haben“ würden. 1952 wurde sie britische Staatsbürgerin.
Bis in die 1950er Jahre hinein arbeitete sie weiter an ihren eigenen Texten, aber ihre politisch engagierte Prosa war zu dieser Zeit nicht gefragt. Vieles davon gilt als verschollen. Als 1956 ein weiteres Werk von ihr abgelehnt wurde, vernichtete sie einen Großteil ihrer Arbeiten und schrieb nichts mehr.
Auf Dauer sollte Veza Canetti zur „Managerin“ und Förderin ihres nur langsam erfolgreich werdenden Mannes werden; beispielsweise übernahm sie seine Korrespondenz. Vor allem aber war sie seine Lektorin. Wie Elias Canetti zu seinem Hauptwerk Masse und Macht an Hermann Kesten schrieb: „Vielleicht, wenn Sie es lesen, werden Sie finden, daß das elende Leben meiner Frau nicht ganz umsonst war. Ihr geistiger Anteil daran ist so groß wie meiner. Es gibt keine Silbe darin, die wir nicht zusammen bedacht und besprochen haben.“ Obwohl dies inzwischen bekannt ist, erscheint das Buch weiterhin nur unter seinem Namen. Veza Canettis Anteil bleibt also bewusst ungenannt.
Veza Canetti starb nach einer Krankheit, vermutlich einer Lungenembolie, 1963 in London.
Erst ab 1990 wurden ihre Werke als Bücher veröffentlicht, nachdem der Göttinger Germanist Helmut Göbel und der Literaturhistoriker Eckhart Früh, der das Tagblatt-Archiv der Wiener Arbeiterkammer betreute, Veza Canettis zahlreiche Pseudonyme entschlüsselt hatten. Neben den Veröffentlichungen ihrer Prosawerke wurde ihr Schauspiel Der Oger, das sie für das Beste hielt, was sie geschrieben hatte, 1992 am Schauspielhaus in Zürich uraufgeführt.
Erst Anfang des 21. Jahrhunderts wurden Briefe von Veza Canetti an Georges Canetti, den homosexuellen Bruder ihres Mannes, in Paris gefunden, aus denen ihre Liebe zu ihm deutlich wurde und in denen sie sich häufig über ihren Mann beklagte. Diese wurden 2006 veröffentlicht. Die Öffnung des privaten Nachlasses von Elias Canetti, die er für das Jahr 2024 verfügt hat, wird vermutlich weitere Informationen auch über Veza Canetti liefern.
Verfasserin: Doris Hermanns
Links
- Veza Canetti in der Deutschen Nationalbibliothek
- Veza Canetti in der Österreichischen Nationalbibliothek
Links geprüft am 17. April 2023 (AN)
Literatur & Quellen
Literatur über Veza Canetti
Amsler, Vroni: Veza Canetti im Kontext des Austormarxismus. Würzburg, Königshausen & Neumann, 2017
Amsler, Vroni: Veza Canetti zwischen Leben und Werk. Netzwerk-Biografie. Innsbruck, StudienVerlag, 2020
Ballauf, Karin (Hg.): Veza Canetti lebt: sozialkritische Literatur zeitgenössischer Autorinnen. Wien, Promedia, 2013
Frank, Gaby: Veza Canetti. In: Britta Jürgs (Hg.): Leider hab ich’s Fliegen ganz verlernt. Portraits von Künstlerinnen und Schriftstellerinnen der Neuen Sachlichkeit. Berlin/ Grambin, AvivA, 2000
Gleichauf, Ingeborg: „Jetzt hat sie genug Ketten“: Veza Canetti, in: Ingeborg Gleichauf: Was für ein Schauspiel! Deutschsprachige Dramatikerinnen des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart. Berlin/ Grambin, AvivA, 2003
Göbel, Helmut u. a. (Hg.): Text + Kritik, Heft 156: Veza Canetti. München, edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag, 2002
Herrberg, Heike und Heidi Wagner: Wiener Melange. Frauen zwischen Salon und Kaffeehaus. Berlin, edition ebersbach, 2002
Lorenz, Dagmar: Transformation der Avantgarde: Veza Canetti, Elfriede Jelinek und Ruth Beckermann. In: Siglinde Bolbecher unter Mitarbeit von Beate Schmeichel-Falkenberg (Hg.): Zwischenwelt 9: Frauen im Exil. Klagenfurt, Drava, 2007. Hg. im Auftrag der Theodor Kramer Gesellschaft. S. 250-267
Lorenz, Natalie: Texte im Dialog. Die frühen Theaterstücke von Marieluise Fleißer und Veza Canetti. Frankfurt am Main, Lang, 2008
Marko, Gerda. 1998 [1995]. Schreibende Paare: Liebe, Freundschaft, Konkurrenz. Frankfurt /M. Suhrkamp TB 2805.
Meidl, Eva M.: Veza Canettis Sozialkritik in der revolutionären Nachkriegszeit. Sozialkritische, feministische und postkoloniale Aspekte in ihrem Werk. Im Anhang drei wiedergefundene Kurzgeschichten von Veza Canetti. Frankfurt am Main, Lang, 1998
Patz Sievers, Evelyn: „Ich bin Spaniolin“ - Veza Canetti im Fokus ihres jüdisch-sephardischen Erbes. Hamburg, Lehmweg, 2018
Reyer, Sophie: Veza Canetti. Eine Biographie. Würzburg, Königshausen & Neumann, 2019
Spörk, Ingrid und Alexandra Srohmaier (Hg.): Veza Canetti. Graz, Droschl, 2005. Dossier – Die Buchreihe über österreichische Autoren; Band 24
Wall, Renate: Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen im Exil 1933-1945. Band 1. Freiburg i. Br., Kore, 1995, S. 62-64
Ziegler, Edda: Verboten verfemt vertrieben. Schriftstellerinnen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. München, dtv, 2010
Werke von Veza Canetti
Die gelbe Straße. Roman. München, Hanser Verlag, 1990
Der Oger. Ein Stück. München, Hanser Verlag, 1991
Geduld bringt Rosen. Erzählungen. München, Hanser Verlag, 1992
Der Fund und andere Fundstücke. Wien, Gratis und Franko, 1994
Die Schildkröten. Roman. München, Hanser Verlag, 1999
Der Fund. Erzählungen und Stücke. München, Hanser Verlag, 2001
Zusammen mit Elias Canetti: Briefe an Georges. München, Hanser Verlag, 2006. Hg. von Karen Lauer
Übersetzung von Veza Canetti
Graham Greene: Die Kraft und die Herrlichkeit. Roman. Wien, Zsolnay, 1953
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