Fembio Specials Exilantinnen (1933-1945) Stella Rotenberg
Fembio Special: Exilantinnen (1933-1945)
Stella Rotenberg
(geb. Siegmann)
geboren am 27. März 1916 in Wien, Österreich-Ungarn
gestorben am 3. Juli 2013 in Leeds, Großbritannien
österreichisch-britische Schriftstellerin und Lyrikerin
10. Todestag am 3. Juli 2023
Biografie • Zitate • Literatur & Quellen
Biografie
Ihr Werk ist durch ihre Exilerfahrungen geprägt, wie auch durch die Ermordung eines Großteils ihrer Familie. Und es macht deutlich, dass es auch nach Auschwitz möglich ist, Gedichte zu schreiben.
Leben
Geboren als Stella Siegmann wuchs sie mit ihrem älteren Bruder in Wien in einer assimilierten jüdischen Familie in behüteter Atmosphäre auf. Sie besuchte ein humanistisches Gymnasium, auf dem sie Französisch und alte Sprachen lernte, und engagierte sich in der Vereinigung sozialistischer Mittelschüler.
Sie war 18 als 1934 der Bürgerkrieg in Österreich die Hoffnung auf eine demokratische Entwicklung zunichte machte. Sie musste miterleben, dass Verdächtige ohne Gerichtsverfahren in Lager eingeliefert werden konnten. Die Freiheit war ihr dadurch nicht mehr selbstverständlich, und sie wurde zu einem verunsicherten Menschen.
Auf einer Reise durch Europa mit ihrem Bruder und einem Freund im Sommer 1934, die sie nach Italien, wo sie bereits Flüchtlinge aus Deutschland traf, Frankreich, Belgien und die Niederlande führte, wurde sie sich des stärker werdenden Antisemitismus bewusst.
Sie wollte Ärztin werden, konnte aber nur zwei Jahre studieren, bis sie 1938 als Jüdin ihr Studium nach dem „Anschluss“ abbrechen musste. Die Wohnung ihrer Eltern wurde enteignet, die Mutter misshandelt, ihr Onkel stark verprügelt. Ihrem Bruder gelang die Flucht nach Stockholm, wo er den Rest seines Lebens blieb.
Stella Siegmann bewarb sich sowohl in den Niederlanden als auch in Großbritannien um ein Visum, das der Niederlande kam zuerst und so ging sie 1939 nach Leiden ins Exil. Sie sollte dort als Haushaltshilfe bei einem Mann arbeiten, der sich wohl mehr davon versprochen hatte und sie im wörtlichen Sinne als „Mädchen für alles“ ansah. Über das Flüchtlingskomitee in Den Haag gelang es ihr, eine Arbeit als unbezahlte Hilfe in einem Waisenhaus zu bekommen. Aufgrund des Stellenwechsels wurde sie von der Polizei überwacht, bei der sie sich täglich melden musste und die sie sogar bis aufs Schiff brachte, als sie im August 1939 endlich ein britisches Visum erhielt. Sie konnte zwar kein Englisch, lernte es aber schnell.
In Großbritannien arbeitete sie erst als Pflegerin in einem Krankenhaus für psychisch Kranke in Colchester in Essex, wo sie nach eigenen Worten so schwer arbeiten musste wie nie zuvor oder danach in ihrem Leben.
Als nach Kriegsausbruch die Geflüchteten teilweise interniert wurden, galt sie als „friendly alien“, was bedeutete, dass sie in ihrem täglichen Leben kaum eingeschränkt wurde.
Im Oktober 1939 heiratete sie den Arzt Wolf Rosenberg, einen ehemaligen Studienkollegen aus Wien, der inzwischen auch nach Großbritannien geflohen war. Dieser war gleich nach seiner Ankunft als Freiwilliger in die britische Armee eingetreten. Daher galt Stella Rotenberg als Soldatenfrau, wodurch sie einerseits akzeptiert wurde, was aber andererseits zur Folge hatte, dass sie immer wieder umziehen musste, je nachdem wo ihr Mann gerade stationiert war. Unter anderem lebte sie in Somerset, wo sie für ein Taschengeld bei einem Arzt arbeitete, später in Darlington, das während des Krieges von schweren Luftangriffen verschont blieb. Dort arbeitete sie erst als Verkäuferin in einer Apotheke, später als Buchhalterin.
1946 erhielt sie die britische Staatsbürgerschaft und zog 1948 zusammen mit ihrem Mann, der ein abgeschlossenes Medizinstudium hatte, nach Leeds, wo sie in einer kleinen Dienstwohnung lebten, die ihnen von dem Krankenhaus zur Verfügung gestellt wurde, an dem er sein klinisches Praktikum absolvierte. 1951 wurde dort ihr Sohn Adrian geboren.
Erst nach dem Krieg erfuhr sie, dass ihre Eltern und weitere Familienangehörige von den Nationalsozialisten ermordet worden waren.
Eine Rückkehr nach Österreich kam für sie nach 1945 nicht mehr in Frage, da sie den Antisemitismus, den sie bereits seit ihrer Kindheit dort kannte, als unübersehbare Tatsache wahrnahm. Aber auch England konnte ihr keine Heimat werden, da dort nicht Deutsch gesprochen wurde. Sie konnte sich nicht von ihrer Sprache trennen. Wie sie in dem Gedicht „Ohne Heimat“ in dem Band Scherben sind endlicher Ort schreibt: „Wir haben keine Heimat“.
Werk
Erst im Exil, ab etwa 1940 entstanden die ersten Gedichte Stella Rotenbergs, die erst einmal nicht für eine Publikation gedacht waren. In ihrer Familie sprach sie mit Mann und Kind nur Englisch, ihre Gedichte verfasste sie jedoch auf Deutsch, wie Beate Schmeichel-Falkenberg schreibt, „(…) in dieser Sprache schreibend im Bewußtsein, daß es die Sprache der Mörder ihrer Eltern ist, einer Sprache, die sie liebt, um die sie bangt und die sie in der fremden Umgebung doch um keinen Preis verlieren möchte“. Sie bezeichnet Rotenbergs Ton als einen klaren, schmucklosen, knappen, eindeutigen Sprachstil und befindet, „das Dichten nach Auschwitz über Auschwitz, und das in makellosem, formvollendetem, klaren Deutsch“ ihr gelingt. Für Rotenberg war Dichten eine unabdingbare Notwendigkeit, Schreiben verstand sie als Widerstandsakt.
Bis etwa 1970 schrieb sie nur für sich, erst seit den 1980er Jahren neben der Lyrik auch Prosa. Sie lebte in der englischen Provinz und hatte keine Kontakte zu anderen ExilantInnen (außer ihrem Mann), Exil-Organisationen oder literarischen Verbänden. Als sie 1971 schwer erkrankte, wollte sie im Falle ihres Todes ihre Gedichte veröffentlicht wissen. Bereits ein Jahr später wurde ein erster Band mit fünfzig Gedichten mit dem einfachen Titel Gedichte in Israel veröffentlicht. Dieses Buch wurde auch in Deutschland besprochen, wodurch die Berliner Schriftstellerin Ingeborg Drewitz auf die Dichterin aufmerksam wurde. Durch deren Vermittlung konnte Stella Rotenberg, die bis dahin jeglichen Kontakt nach Österreich und Deutschland verweigert hatte, 1978 einen ersten Lyrikband im Darmstädter Bläschke Verlag veröffentlichen, der allerdings kurz danach seine Tätigkeit einstellen musste.
Gedichte von Stella Rotenberg erschienen inzwischen in deutschen und deutschsprachigen amerikanischen und israelischen Publikationen. Auch wurden mehrere Bände Lyrik und Prosa von ihr veröffentlicht.
In ihrer Prosa beschreibt sie unter anderem Kindheitserzählungen ihrer Mutter, oft geht es um Verlassenheit und Heimatlosigkeit, es sind Beobachtungen eines Kindes. Aber sie verfasste auch Texte mit Bezug zu Großbritannien, so beispielsweise einen über das Frauenwahlrecht und einen über Elizabeth Garrett, die erste Ärztin Großbritanniens.
In ihrem Gedicht „Auf Besuch in Deutschland nach dem Jahr 1945“ aus dem Band Scherben sind endlicher Hort heißt es:
Zu wem spreche ich?
Wem folge ich vertrauend ins Haus?
Welcher hat meine Mutter getötet?
Sie sehen doch alle wie Menschen aus.
Erst ab 1990 trug Stella Rotenberg ihre Werke in der Öffentlichkeit vor, erst bei einem Symposium in Schottland, später auch in Deutschland und Österreich; wesentlich hierfür, wie auch für weitere Veröffentlichungen, waren ihre Kontakte zur Theodor-Kramer-Gesellschaft in Wien.
(Text von 2021)
Auszeichnungen:
- 1996: Österreichisches Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst, I. Klasse
- 2001: Theodor-Kramer-Preis
Verfasserin: Doris Hermanns
Zitate
… adorno
see her and see here
the possibility of poetry
after auschwitz on auschwitz …(Donal McLaughlin: Stella Rosenberg reads. In: West Coast Magazine 17, Glasgow, May 1994)
Literatur & Quellen
Literatur über Stella Rotenberg:
Conterno, Chiara: Biographien jüdischer Frauen: Von Wien nach Leeds – Stella Rotenbergs (1915-2013) englisches Exil. In: Medaon 14 (2002), 26 – Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung, S. 1-5.
https://www.medaon.de/de/artikel/biographien-juedischer-frauen-von-wien-nach-leeds-stella-rotenbergs-1915-2013-britisches-exil/
Gruber, Doris: Das Exil als Schreiberfahrung und literarisches Thema im Werk von Ilse Losa, Stella Rotenberg und Ruth Tassoni. Wien, Un. Wien, Diplomarbeit, 1998
Herz-Kerstanek, Miguel (Hg.): In welcher Sprache träumen Sie? Österreichische Lyrik des Exils und des Widerstands. Wien, Theodor Kramer Gesellschaft, 2007
Kerber, Claudia: Lyrik nach Auschwitz. Die Dichterin Stella Rotenberg. München, GRIN, 2007
Müller-Kampel, Beatrix: Man nennt sie Emigranten, doch meint man die Verbrannten. Zum Leben von Stella Rotenberg. In: Stella Rotenberg: An den Quell. Wien, Theodor Kramer Gesellschaft, 2003
Schmeichel-Falkenberg, Beate: Das Unsagbare sagen: Stella Rotenbergs Exildichtungen. In: Keine Klage über England? Deutsche und österreichische Exilerfahrungen in Großbritannien 1933–1945. Hg. von Charmian Brinson, Richard Dove, Anthony Grenville, Marian Malet und Jennifer Taylor. München, Iudicium, 1998. Publications of the Institute of Germanic Studies, University of London; Band 72
Stella Rotenberg in der Österreichischen National Bibliothek
Stella Rotenberg in der Deutschen National Bibliothek
Werke von Stella Rotenberg:
Gedichte. Tel-Aviv, Olamenu, 1972
Die wir übrig sind. Darmstadt, Bläschke, 1978
Scherben sind endlicher Hort. Ausgewählte Lyrik und Prosa. Hg. von Primus-Heinz Kucher und Armin A. Wallas. Mit Illustrationen von Yehuda Bacon. Wien, Verlag für Gesellschaftskritik, 1991
Ungewissen Ursprungs. Gesammelte Prosa. Hg. und mit einem Nachwort von Siglinde Bolbecher. Bilder von Hildegard Stöger. Wien, Theodor Kramer Gesellschaft, 1997
Meine wahre Heimat = My true homeland. Mit Tamar Radzyner. Übersetzung ins Englische: Herbert Kuhner. Mit einem Vorwort von Armin A. Wallas. Klagenfurt, Alekto, 1999
An den Quell. Gesammelte Gedichte. Hg. und mit einem Vor- und Nachwort versehen von Siglinde Bolbecher und Beatrix Müller-Kampel. Wien, Theodor Kramer Gesellschaft, 2003
Shards. Translation: Donal McLaughlin & Stephen Richardson. Edinburgh, Centre for the History of Ideas in Scotland, 2003
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