Fembio Specials Exilantinnen (1933-1945) Sophie Freud
Fembio Special: Exilantinnen (1933-1945)
Sophie Freud
(Professorin Sophie Freud-Loewenstein, PH.D.)
geboren am 6. August 1924 in Wien, Österreich
gestorben am 3. Juni 2022 in Lincoln MA
US-amerikanische Sozialwissenschaftlerin
100. Geburtstag am 6. August 2024
Biografie • Zitate • Literatur & Quellen
Biografie
Sophie Freud ist eine Enkelin von Sigmund Freud. Sie wurde am 6. August 1924 in Wien geboren. Ihr Vater Martin war der älteste Sohn von Sigmund und Martha Freud. Ihre Mutter war Ernestine (Esti) Drucker, die älteste von drei Töchtern aus einer wohlhabenden jüdischen Familie in Wien.
Schon vor Sophies Geburt war die Ehe der Eltern zerrüttet. Martin hatte eine Affäre nach der anderen, Esti machte ihm deshalb Szenen und beide stritten unentwegt um Geld. Von der Freud-Familie wurde aber nicht er, sondern Esti für das Scheitern der Ehe verantwortlich gemacht, weil sie als exzentrische Person galt. Weder Martin noch die Freud-Schwiegereltern erkannten an, dass Esti sich mit außerordentlicher Energie einen eigenen Beruf erarbeitete und als Sprachpädagogin für sprachgestörte Kinder und Erwachsene an der Universitätsklinik in Wien tätig war.
Sophie stand zwischen den Fronten und wurde das “bravste Kind in Wien”. Wie die Mutter sehnte auch sie sich danach, vom Vater und dem berühmten Großvater geliebt zu werden. Doch als 1938 die Freuds nach dem Einmarsch der Nazi-Truppen in Wien unter dramatischen Umständen aus Wien fliehen mussten, blieb Sophie mit ihrer Mutter zwei Jahre lang in Paris zurück, während alle anderen, auch ihr Vater und ihr Bruder, mit Sigmund Freud nach London emigrierten.
In Frankreich gelang es der Mutter, mit Sophie auf Fahrrädern (!) den vorrückenden deutschen Truppen zu entkommen und mehr als zwei Jahre in Nizza und Casablanca auszuharren, weil ihnen die Visa und die Schiffsfahrkarten fehlten. Während dieser Wartezeit gelang es Esti erstaunlicherweise, auch in der anderen Sprache ihren Beruf als Sprachpädagogin weiter auszuüben. Und Sophie schaffte in Casablanca sogar das französische Abitur. Im November 1942 gelang es ihnen endlich, sich in die USA zu retten. Das neue Leben in Freiheit konnte beginnen.
Die 18-jährige Sophie bekam durch die Hilfe eines Verwandten aus der Freud-Familie ein Stipendium für das renommierte, der Harvard Universität angeschlossene Radcliffe-College für Frauen in Cambridge, Massachusetts, wo sie Psychologie studierte und 1948 am Simmons College in Boston mit dem Master-Examen in Sozialarbeit abschloss.
1945, noch während ihres Studiums, heiratete sie Paul Loewenstein, einen deutsch-jüdischen Emigranten, den sie schon in Frankreich kennengelernt hatte. Für Sophie war es eine Vernunftehe, zu der ihr alle rieten. Paul Loewenstein war das Gegenbild ihres Vaters Martin - zuverlässig und ihr treu ergeben.
Auch als ihre drei Kinder - zwei Töchter 1949 und 1951 und ein Sohn 1955 - geboren waren, blieb sie als Sozialarbeiterin erwerbstätig. Sie arbeitete vorwiegend praxisbezogen mit Eltern und Kindern in Kliniken, in Adoptionszentren, in Wohlfahrtsverbänden. Sie entwickelte Kurse für BeraterInnen, denen sie ihre eigenen praktischen Erfahrungen vermittelte. Und auf diesem Weg entdeckte sie ihre pädagogische Begabung, ja Berufung, als Lehrerin und Dozentin. Sie begann ein weiteres Studium der Soziologie und schloss 1970 mit dem Doktorexamen (Ph.D.) ab.
Sophie war fasziniert von den neueren, soziologischen Theorien, in denen - im Gegensatz zur Psychoanalyse Sigmund Freuds - die zwischenmenschlichen Beziehungen im Mittelpunkt standen. Auch neuere Therapiemethoden wie Gruppentherapie, Familientherapie, Psychodrama, Verhaltenstherapie eignete sie sich an. 1970 wurde sie Professorin für Sozialarbeit am Simmons College in Boston, wo sie insgesamt 30 Jahre lehrte.
Und nun wurde sie auch zu einer leidenschaftlichen Feministin, die sich mit dem Theoriegebäude ihres Großvaters auseinandersetzte und seine frauenfeindlichen Mythologien der Weiblichkeit entlarvte. In ihren Lehrveranstaltungen, aber auch in öffentlichen Vorträgen wurden ihre oft provokanten, patriarchatskritischen Statements mit Begeisterung aufgenommen. Ihr Ziel war es, Frauen Mut zu machen, sich aus traditionellen Rollenmustern zu befreien.
Es gelang ihr auch, die Anerkennung, ja sogar die Liebe ihrer Tante Anna, der geistigen Erbin Sigmund Freuds, zu erlangen und damit ihr Trauma der Verstoßung durch die Freud-Familie zu heilen. Als Anna Freud 1982 mit 87 Jahren starb, trauerte Sophie sehr. Doch sie war nun im Stande, den Namen Freud zu tragen. Denn in den vielen Jahren ihrer Berufstätigkeit versteckte sie ihren Mädchennamen und trat nur als Sophie F. Loewenstein an die Öffentlichkeit. Viele Menschen in ihrem Umfeld wußten nicht einmal, dass sie eine Freud-Enkelin war.
Sophies Mutter war schon 1980 mit 84 Jahren gestorben. Auch in den USA war es ihr gelungen, als Sprachtherapeutin erfolgreich zu sein. Sophies Verhältnis zu ihrer Mutter blieb bis zuletzt ambivalent. Sie konnte die ständigen Klagen und Hassausbrüche der Mutter kaum ertragen, bewunderte sie aber für ihren Lebenswillen und ihre berufliche Leistungsfähigkeit, die sie von ihr übernahm.
Sophie Freud veröffentlichte eine große Zahl von Artikeln, von denen eine Auswahl in einem Sammelband “Meine drei Mütter und andere Leidenschaften” 1988 (1989 auf Deutsch) erschienen ist.
Ihr zweites Buch erschien 2006 zuerst auf Deutsch. Es ist die Lebensgeschichte ihrer Mutter, zugleich ihre Autobiographie und ein zeitgeschichtliches Dokument: “Im Schatten der Familie Freud - Meine Mutter erlebt das 20. Jahrhundert”. Die Memoiren ihrer Mutter bilden die Grundlage des Textes. Sophie fügt ihre eigenen Tagebuchaufzeichnungen, die Briefe von verschiedenen Familienmitgliedern und ihre reflektierenden Erinnerungen hinzu, so dass eine facettenreiche Chronik entsteht. Selten findet man die erschütternde Emigrationsgeschichte einer jüdischen Familie so hautnah beschrieben. Zugleich ist es eine bewegende Mutter-Tochter-Geschichte, die zeigt, dass eine schwierige Beziehung, wenn auch erst nach dem Tod der Mutter, geheilt werden kann.
Heute mit fast 90 Jahren ist Sophie noch immer unglaublich aktiv. Sie liest ununterbrochen Bücher, gibt Kurse für SeniorInnen zu verschiedenen psychologischen und historischen Themen, sie ist weltweit mit vielen Menschen vernetzt, sie treibt regelmäßig Sport (Schwimmen, Spazierengehen), sie plant Reisen, unter anderem nach Wien, wo ihr zum 90. Geburtstag ein weiterer Ehrendoktor verliehen werden wird.
Sophie ist ein glücklicher Mensch, sie ist mit sich, ihrem Leben - und ihrer Mutter! - versöhnt. In ihren eigenen Worten: “Erstens wollte sie (die Mutter), dass ich in der Welt Erfolg erringe, damit sie auf mich stolz sein und sich selbst besser fühlen konnte. Zweitens wollte sie, dass ich heirate und ein konventionelles Leben führe, damit sie sich niemals um mich Sorgen machen musste. Drittens wollte sie, daß ich mich an der Familie Freud räche, die sie nach ihrer Meinung schlecht behandelt hatte. Und viertens wollte sie, dass ich dem Namen (Freud) Ehre mache, auf den sie so stolz war. ... Auf ihrem Sterbelager sagte sie mit Befriedigung zu mir: “Dein Bruder ist ein Drucker (Estis Herkunftsname), aber du bist immer eine Freud gewesen.” In: Meine drei Mütter, S. 365-366)
Verfasserin: Marianne Krüll
Zitate
Selbstbild: Vielleicht bin ich mein ganzes Leben lang sowohl eine 'Königin' (oder zumindest eine Prinzessin) als auch eine 'Bettlerin' gewesen, hassend und liebend, optimistisch und deprimiert, zärtlich und schroff, versöhnlich und unversöhnlich. Vielleicht tragen wir alle diese Gegensätze in uns und wenden uns, je nachdem, wie es die Situationen und Umstände erfordern, dem einen oder anderen Extrem zu, wobei die Hoffnung besteht, dass wir mit zunehmendem Alter und Weisheit uns öfter an unsere schöpferischen Möglichkeiten erinnern. Aus: Heilen lernen (1982). In: Meine drei Mütter, S. 43.
Ich bin es gewohnt, meine Schulden sehr genau zu nehmen, vielleicht, weil ich mir in der Jugend die ungeheure Schuld aufgeladen habe, als Gastflüchtling in die Vereinigten Staaten zu kommen, statt im Holocaust ermordet zu werden. Wenn ich in Europa mit meinem Bruder, meinem alten Wiener Fräulein und Freunden aus der Kindheit und Jugend zusammentraf, staunte ich immer noch über das Wunder und den Triumph, dass wir den Krieg überlebt hatten. Wir sind eine Generation von Überlebenden. Dies ist ein wesentlicher Bestandteil meiner Identität. Aus: Sabbatical (1983), in: Meine drei Mütter, S. 174.
Über die Mutter: Meine ... Mutter war mir Vorbild als ehrgeizige, zielstrebige und disziplinierte Arbeiterin. Von ihr lernte ich auch, dass die Beziehungen zum Ehemann, zu den Kindern und zu Freunden zu Verrat, Enttäuschung und Katastrophen führen, während man sich auf die Befriedigungen verlassen kann, die aus eigenen Anstrengungen und Leistungen kommen. Aus: Meine drei Mütter (1984). In: Meine drei Mütter, S. 13.
Meine Mutter vererbte mir ihre Energie und Disziplin und ein paar andere weniger großartige Qualitäten. Ich bin natürlich nicht genau so wie meine unglückliche Mutter, weil das Schicksal mich mit erstaunlicher Güte behandelt hat und mir die bitteren Kämpfe ersparte, die meine Mutter dazu verleiteten, ihre eigenen negativen Schlüsse über die Welt zu ziehen. Aber in meiner neuen Verbundenheit zum Alter und dem Rückblick auf das Leben scheinen mir ihre Schwächen nicht mehr ganz so abstoßend und unangebracht zu sein. Ihre Entschlossenheit zu überleben, oft gegen große Hindernisse, und oft auch mit Erfolg, ist bewundernswert. Aus: Im Schatten der Familie Freud, S. 21-22
Über Frauen im Patriarchat: Die meisten Frauen, die ich kennengelernt habe, hegen tiefe Selbstzweifel, ob sie intelligent, attraktiv, liebevoll und liebenswert sind. ... Auch Männer scheinen von Selbstzweifeln geplagt zu werden, die vielleicht in unserer Gesellschaft überhaupt vorherrschen, aber Männer sind vielleicht eher davon abhängig, kompetent zu erscheinen als geliebt zu werden. Das gesamte Leben der Frauen wird dagegen dominiert von ihrem krampfhaften Bedürfnis, Männer zu lieben und von ihnen geliebt zu werden, als der eine große Weg zum Glück und zu möglicher Selbstliebe. Aus: “Was will das Weib” (1985). In: Meine drei Mütter, S. 275
Nach dem Tod von Anna Freud 1982: Ich brauchte Tante Annas Segen, bevor ich einen berechtigten Anspruch auf das Familienvermächtnis erheben konnte, das ich im Stich gelassen hatte und dem ich doch im Grunde treu geblieben war. Ich brauchte ihren Segen, um meinem Vater vergeben zu können, ihrem Bruder, der mich als junges Mädchen verlassen hatte. Ich brauchte ihren Segen, um mich zu vergewissern, dass ich es wert war, von einer Königin geliebt zu werden. Aus: Seidengespinst. In: Meine drei Mütter, S. 68
Über das Sterben: Ich selber hoffe, in einem Bett sterben zu dürfen, ein großes Privileg für eine europäische Jüdin des 20. Jahrhunderts. Ich weiß nicht, wer um dieses erhoffte Bett stehen wird. Meine Kinder scheinen mich zu mögen, jedes auf seine einzigartige Weise ... Auf jeden Fall verspreche ich, in meiner Verzweiflung niemandes Namen auszurufen. Statt dessen werde ich meinen Kopf zur Wand drehen und an die Erwärmung der Erde denken, wenn Wasser Städte überfluten werden, und an die ausgerotteten Wälder für rasche Profite, an Ölbohrungen in unberührter Natur und an die Seuchen, die unsere Länder heimsuchen werden. Ich werde an die Kriege und Gewalttaten denken, die das Leben auf der Erde immer mehr zerstören, vielleicht auch mit gelegentlichen Atomexplosionen. Ich werde an den Kummer meiner Kinder mit meinen Enkeln denken und an den Kummer meiner Enkel mit deren Kindern in dieser harschen neuen Welt, und ich sterbe mit Erleichterung an den Gedanken, was mir alles erspart bleiben wird. Aus: Im Schatten der Familie Freud, S. 473
Literatur & Quellen
Sophie Freud: Meine drei Mütter und andere Leidenschaften. Frausein, Liebe, Lebensmitte. Düsseldorf 1989 (Claassen und DTV 1992). Original: My Three Mothers and Other Passions, New York 1988.
Sophie Freud: Im Schatten der Familie Freud. Meine Mutter erlebt das 20. Jahrhundert. Berlin 2006 (Claassen/Ullstein). US-Englisch: Living in the Shadow of the Freud Family. Westport, CN. 2007. Übersetzung ins Italienische.
Radio-Feature: Sibylle Tamin: Ein paar Gewissheiten bleiben. Sophie Freud, Produktion: WDR/DLF 2010, Redaktion: Gisela Corves, Regie: Claudia Leist.
http://www.lincoln-ma.com/independent/docpages/freud.html
https://www.nytimes.com/2022/06/03/science/sophie-freud-dead.html?
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