Fembio Specials Europäische Jüdinnen Sophia Parnok
Fembio Special: Europäische Jüdinnen
Sophia Parnok
(Sophia (Sonja) Yakovlevna Parnok)
geboren am 11. August 1885 in Taganrog, Russland
gestorben am 26. August 1933 bei Moskau
russische Lyrikerin
90. Todestag am 26. August 2023
Biografie • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Als die beiden russischen Dichterinnen Sophia Parnok (1885-1933) und Marina Zwetajewa (1892-1941) sich im Herbst 1914 kennenlernten und ineinander verliebten, war Parnok, damals als Dichterin kaum ein Begriff, eine 29jährige Journalistin, geschieden, eine Müßiggängerin, der „sapphische Vorlieben“ nachgesagt wurden, und Marina Zwetajewa, die kurz zuvor ihren ersten Gedichtband veröffentlicht hatte, eine verheiratete Frau von 22 Jahren mit einer kleinen Tochter, der rebellische Liebling der Moskauer Intelligentsia.
Parnok, die einzige “offen” lesbische Dichterin des “Silbernen Zeitalters der russischen Lyrik” (1893-1917), entstammte der jüdischen Intelligenz der Provinz. Sie wuchs auf in ihrer Geburtsstadt Taganrog (Tschechows Heimatstadt), in der große Teile der Bevölkerung jüdischer oder nicht-russischer Abstammung waren.
Parnoks Mutter war Ärztin (eine der ersten in Russland), ihr Vater Apotheker und Besitzer einer Apotheke. Die Dichterin war die älteste von drei Kindern und wuchs in einem gebildeten Haushalt auf, seit ihrer Kindheit sprach sie fließend Deutsch und Französisch; sie bekam Musikunterricht und erwog sogar eine musikalische Laufbahn. Sie besuchte das Mariinsky Gymnasium in Taganrog und bekam 1903 zum Abschluß eine Goldmedaille. Ihr Lesbischsein machte sich in ihrer Pubertät bemerkbar und wurde eines der Hauptthemen ihrer frühen (noch unveröffentlichten) Gedichte. Etwa um dieselbe Zeit starb Parnoks Mutter, und ihr Vater heiratete bald wieder. Parnok vertrug sich weder mit ihrer Stiefmutter noch mit ihrem Vater. 1905, kurz nach dem Schulabschluß, verließ sie Taganrog mit ihrer Geliebten, einer Schauspielerin. Aus Geldmangel musste sie aber im folgenden Jahr nach Russland zurückkehren. Das Leben im Haus ihres Vaters wurde ihr jedoch bald unerträglich, und 1907 willigte Parnok in eine Ehe mit ihrem Freund und literarischen Berater Vladimir Wolkenshtein (1883-1974) ein, der sie offenbar liebte, obwohl er wusste, dass seine Frau lesbisch war und dies, wie es heißt, „akzeptierte“. Als Parnok feststellte, dass sie keine Kinder bekommen konnte und dass darüberhinaus ihr Ehemann ihre lesbischen Beziehungen nicht so tolerierte wie er behauptete, traf sie die kühne Entscheidung, ihn zu verlassen. Nach Monaten erbitterten Feilschens, während derer Wolkenshtein drohte, Parnoks jüngeren Geschwistern die lesbischen Verirrungen seiner Frau kundzutun, willigte er schließlich in die Scheidung ein.
Die nächsten sieben Jahre lebte und arbeitete Parnok in Moskau und verdiente ihren Lebensunterhalt als Journalistin, Librettistin und Dichterin. Sie litt an verschiedenen chronischen Krankheiten: Herzrasen, Migräne, Darmbeschwerden, Stimmungsschwankungen - alles Symptome einer schweren Erkrankung der Schilddrüse. Trotzdem führte sie ein frenetisches und ungezügeltes Lesbenleben und hatte mehrere Beziehungen mit Frauen aller Schichten, von der Halbwelt bis zur High Society. Ihre wichtigste Beziehung vor Zwetajewa war Iraida Albrecht, eine reiche Dame der Moskauer Gesellschaft, bei der sie sich 1913 niederließ. Die beiden Frauen kamen kurz nach Beginn des 1. Weltkriegs gerade von einer Europareise zurück, wenige Monate bevor Parnok Zwetajewa kennenlernte.
Von Anfang an gingen Parnok und Zwetajewa miteinander um, als ob zwei Willen ein Duell miteinander ausföchten. Den Streit schienen sie genau so zu genießen wie die Versöhnung. Obwohl über die Affäre der beiden Frauen in der Moskauer Literaturszene viel und gern geklatscht wurde, ist doch die wichtigste Quelle dazu - besonders über die intensiven Gefühle, die ihre Liebe in beiden hervorrief - das, was die Liebenden selbst in ihren Gedichten über einander sagten und imaginierten. Zwetajewas Gedichte über Parnok sind überwiegend in dem Gedichtzyklus Freundin [Podruga] versammelt, der gleichzeitig mit den darin thematisierten Ereignissen entstand, aber erst in den 1980er Jahren veröffentlicht wurde. Parnoks Gedichte über Zwetajewa finden sich in ihrer ersten Gedichtsammlung Gedichte von 1916, die erschien, als die Liebesgeschichte soeben zu Ende war.
Die Frauen brachten einander so dazu, aus ihren selbstauferlegten Schablonen auszubrechen: sie zwangen einander, Risiken einzugehen. Eine derartige Risikofreudigkeit konnte unmöglich zu einer reibungslosen Beziehung führen. Tatsächlich war ihre Liebesgeschichte ein Erdbeben, dessen Nachbeben weit länger anhielten als die erste Eruption.
Das Leben meinte es mit keiner der beiden Freundinnen gut. Wie alle RussInnen ihrer Generation, wurden sie “von einem grausamen Jahrhundert eingeholt, das die Maische von Jahrhunderten durchknetete” (um eine Metapher aus einem der späten Gedichte Parnoks (Nr. 225) zu verwenden). Die Revolution von 1917 und der anschließende Bürgerkrieg (1918-1921) brachte Parnoks gerade aufblühende literarische Karriere zum Stillstand. Sie und Erarskaja (ihre große Liebe und zugleich die beständigste ihres Lebens) verbrachten den Bürgerkrieg in Sudak auf der Krim, wo beide fast der Tuberkulose und Unterernährung zum Opfer fielen. Anfang 1922 kehrten sie nach Moskau zurück, wo Parnok die restlichen 11 Jahre ihres Lebens verbrachte. Unter den Sowjets wurde es immer schwieriger für sie, ihre Gedichte zu veröffentlichen, die wegen ihrer religiösen Thematik und ihres pessimistischen Tons zensiert wurden. Nach 1928 hatte man Parnok effektiv zum Schweigen gebracht. Ihre letzten und besten Gedichte, etwa ein Drittel ihres Gesamtwerks, wurden erst 1979 im Westen publiziert. In Russland wurden Parnoks Gesammelte Werke 1998 endlich von INAPRESS veröffentlicht, 64 Jahre nach ihrem Tod.
Während der letzten fünf Jahre ihres kurzen Lebens ertrug Parnok Armut, chronische Krankheit, Abschottung von ihren LeserInnen und die Gleichgültigkeit ihrer DichterkollegInnen, die sie mieden – so Parnok – weil sie es wagte, laut das auszusprechen, was die Leute sogar vor sich selbst verbargen. Stärke und geistigen Halt gaben ihr ihre treuen Freundinnen und Geliebten, allen voran Erarskaja, dann die Memoirenschreiberin Eugenia Gertsyk (1878-1944), die Mathematikerin Olga Tsuberbiller (1885-1975), mit der sie von 1926 bis zu ihrem Tod zusammenlebte, und die Physikerin Olga Tsuberbiller (1882-1955), Parnoks letzte Liebe und Inspirationsquelle für ihre bedeutendsten Liebesgedichte, die die einzigartige und tragische Geschichte eines Moskauer Lesbenpaars mittleren Alters während der frühen Jahre stalinistischer Herrschaft erzählen. Am 26. August 1933, kurz nachdem sie kaum hörbar vier Abschiedszeilen für Wedenejewa geflüstert hatte, starb Parnok an Herzversagen.
(Der Text wurde Diana L. Burgins Aufsatz “'Duell zweier Willen': Sophia Parnok (1885-1933) und Marina Zwetajewa (1892-1941)” entnommen (s.u.). Redaktion und Übs. aus dem amerikanischen Englisch von Luise F. Pusch)
Verfasserin: Diana Lewis Burgin
Links
Homepage von Diana Lewis Burgin, mit englischen Übersetzungen einiger Gedichte Parnoks.
Literatur & Quellen
Burgin, Diana Lewis. 1992. “Sophia Parnok and the Writing of a Lesbian Poet´s Life”, Slavic Review 51, no. 2 (Summer 1992), 214-231.
Burgin, Diana Lewis. 1994. Sophia Parnok: The Life and Work of Russia's Sappho. The Cutting Edge: Lesbian Life and Literature. New York; London. The New York UP.
Burgin, Diana Lewis. 2010. “'Duell zweier Willen': Sophia Parnok (1885-1933) und Marina Zwetajewa (1892-1941)”, aus d. am. Englisch von Luise F. Pusch., in: Horsley, Joey & Luise F. Pusch. Hg. 2010. Frauengeschichten: Berühmte Frauen und ihre Freundinnen. Göttingen. Wallstein. S. 179-204
Busch, Alexandra & Dirck Linck. Hg. 1999 [1997]. Frauenliebe - Männerliebe: Eine lesbisch–schwule Literaturgeschichte in Porträts. Frankfurt/M. Suhrkamp.
Feinstein, Elaine. 1990. Marina Zwetajewa: Eine Biographie. Frankfurt am Main. Frankfurter Verlagsanstalt.
Keller, Ursula & Natalja Sharandak. 2003. Abende nicht von dieser Welt: St. Petersburger Salondamen und Künstlerinnen des Silbernen Zeitalters. Berlin. AvivA.
Parnok, Sophia. 1998. Sobranie stikhotvorenii [Gesammelte Gedichte]. St. Petersburg. Inapress.
Schweitzer, Viktoria. 1992 [1988]. Tsvetaeva [=Byt i bytie Mariny Tsvetaevoy]. Aus d. Russ. von Robert Chandler & H.T. Willetts. New York. Noonday [Farrar, Straus & Giroux].
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