Fembio Specials Europäische Jüdinnen Ruth Liepman
Fembio Special: Europäische Jüdinnen
Ruth Liepman
(Ruth Lilienstein [Geburtsname], Ruth Stock [1. Ehename])
geboren am 22. April 1909 in Polch (Eifel)
gestorben am 29. Mai 2001 in Zürich, Schweiz
deutsch-Schweizer Juristin und Literaturagentin, Widerstandskämpferin
115. Geburtstag am 22. April 2024
Biografie • Zitate • Literatur & Quellen
Biografie
Sie galt als die „Grande Dame“ unter den Literaturagentinnen. Als Ruth Lilienstein wurde sie 1909 in Polch bei Koblenz in der Eifel geboren. Sie kam aus einem jüdischen Elternhaus und hatte zwei jüngere Brüder. Mit ihrer Familie zog sie nach kurzen Stationen in Köln und Berlin, wo ihr Vater als Arzt arbeitete, schließlich nach Hamburg. Dort machte sie ihr Abitur an der Lichtwarkschule, einer Reformschule, die sie gegen den Willen ihrer Eltern besuchte. Dort lernte sie vor allem, selbstständig zu arbeiten. Wie sie sich später erinnerte, war der Umgang dort von gegenseitiger Hilfe und Solidarität geprägt, und alle SchülerInnen dieser Schule wurden mutige Erwachsene, die unkonventionelle Wege gingen. Mit einer damaligen Mitschülerin, der späteren Schriftstellerin Ruth Tassoni, blieb sie zeitlebens befreundet.
Mit 19 Jahren schloss sie sich der Kommunistischen Partei an. Sie war überzeugt, dass allein die Kommunisten die Welt verändern und für Gerechtigkeit eintreten würden.
Nach einem Semester Jura in Hamburg wechselte sie nach Berlin. Diese Ausbildung sollte ihr später als literarische Agentin sehr von Nutzen sein. Ihr erstes Staatsexamen konnte sie noch ablegen, ihre Referendarzeit musste sie abbrechen, zum zweiten Examen wurde sie 1933 erst gar nicht mehr zugelassen. Dennoch gelang es ihr 1934 noch zu promovieren. Sie war eine der Ersten, die aus politischen Gründen Berufsverbot bekam, ihrer Einschätzung nach eher als Kommunistin denn als Jüdin.
Als die Verhältnisse in Deutschland für sie unerträglich wurden - zahlreiche Menschen wurden verhaftet, viele ermordet - flüchtete sie im April 1934 in die Niederlande. Lange Zeit blieb sie davon überzeugt, dass es in Deutschland eine Revolution gegen Hitler geben würde. Daher erschien ihr Amsterdam als Exilort nahe liegend, weil nicht allzu weit von Hamburg entfernt.
Über eine Bekannte fand sie Arbeit in einer Handweberei, die allerdings bald Bankrott machte. Für tausend Gulden, die sie sich leihen musste, bekam Lilienstein eine Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung. Anschließend arbeitete sie lange bei deutschen Emigranten, z.B. als Sekretärin von John Rothschild. Zusammen mit ihm und einem zweiten Juristen, Hugo Emmerich, schrieb sie ein Buch über die Rechtssituation von Deutschen im Ausland. Sie konnte dabei nicht als Mitautorin genannt werden, da sie mittlerweile in Deutschland wegen Vorbereitung zum Hochverrat steckbrieflich gesucht wurde, nachdem sie in Abwesenheit verurteilt worden war. Wegen dieses Steckbriefes hatte sie Angst um FreundInnen und Verwandte. Zudem hat er sie davon abgehalten, sich in den Niederlanden so aktiv am Widerstand zu beteiligen, wie sie es eigentlich gerne getan hätte.
Trotzdem machte sie immer wieder illegale Reisen nach Deutschland und führte Kurierdienste für die Kommunistische Partei aus. Diese hielt sie davon ab, am Spanischen Bürgerkrieg teilzunehmen. Man fand, dass sie in den Niederlanden dringender gebraucht würde. Lilienstein wurde aus der Partei ausgeschlossen, nachdem sie verbotswidrig bei einer Fahrt nach England öffentlich über die Erziehung im Nationalsozialismus gesprochen hatte, als sie nach der Praxis der Nazis gefragt wurde. Auch wenn sie der Ausschluss schmerzte, blieb sie noch bis zum Ende des Krieges in Kontakt mit KommunistInnen. Erst danach wandte sie sich vom Kommunismus ab.
Noch vor der Besetzung der Niederlande durch die Nationalsozialisten heiratete sie den Schweizer Architekten Oskar Stock - eine Schutzheirat, durch die sie die Schweizer Nationalität erhielt. Sie konnten allerdings nicht in der Schweiz heiraten, da die Fremdenpolizei darüber informiert war, dass sie steckbrieflich gesucht wurde. Trotzdem konnte sie nach ihrer Eheschließung mit ihrem Mann ein Jahr in der Schweiz leben.
Ab Mai 1940 arbeitete Ruth Stock, wie sie nun hieß, beim Schweizer Konsulat in Amsterdam. Sie war nicht beim Konsulat, sondern beim Schweizer Konsul persönlich angestellt. In dieser Position konnte sie viel für Flüchtlinge erreichen. Da die Schweiz Schutzmacht für England und Amerika war, versuchten sie, so viel Menschen wie möglich als in England oder Amerika geboren auszugeben, so dass sie unter die Schutzmachtbestimmungen fielen, wodurch sie zahlreiche Menschen retten konnten. Auch war sie bei der Suche nach Untertauchquartieren und Fluchtmöglichkeiten behilflich. Neben diesen halb legalen Aktivitäten hatte sie immer auch Kontakt zu Untergrundorganisationen und beteiligte sich an illegalen Aktionen.
Als Ruth Stock hatte sie „den einzigen richtigen falschen Pass bekommen, denn die Schweiz je ausgestellt hat“, wie sie später in einem Interview erklärte. Da der Konsul wusste, dass sie steckbrieflich gesucht wurde, stellte er ihr einen Pass aus, in dem er ihren Mädchennamen einfach wegließ – zudem wird in Schweizer Pässen nicht der Geburtsort angegeben, sondern die Heimatgemeinde und in ihrem Pass stand die ihres Mannes. Dies beschützte sie jedoch nur so lange, bis der Konsul starb. Kurz danach wurde sie von einem Beamten des Konsulats angezeigt, erst bei der niederländischen Fremdenpolizei an, später dann bei der Gestapo. Er befürchtete, dass sein Land durch sie in große Schwierigkeiten geraten könnte. Die Fremdenpolizei zeigte noch Verständnis für ihre Situation, warnte sie aber, dass diese Information sicher zu den Deutschen gelangen würde.
Bei einem Urlaub in der Schweiz im Dezember 1942, überlegte sie, dort zu bleiben. Aber als sie von einem deutschen Offizier von der geplanten „Endlösung“ erfuhr , entschied sie sich, doch in die Niederlande zurück zu fahren, um die Juden zu warnen. Ihre Warnungen wurden jedoch nicht ernst genommen, sondern als hysterisch abgetan.
Da Ruth Stock wusste, dass sie von der Gestapo gesucht wurde, musste sie 1943 untertauchen. Nach einer wochenlangen Flucht vor der Gestapo, bei der sie bei immer wieder anderen FreundInnen und Bekannte Unterschlupf suchen musste, kam sie schließlich bei einer Familie in Beverwijk unter, wo sie als Haushaltshilfe durchgehen konnte. Die Schutzgebenden wurden für sie lebenslang zu ihrer zweiten Familie.
Nachdem sie neue Papiere bekommen hatte, fing sie an, für die beiden illegalen Zeitungen in der Stadt zu arbeiten und wurde auch schnell wieder für Aktionen des Widerstands aktiviert.
Die Zeit nach der Befreiung im Mai 1945 war für Ruth Liepman die schönste ihres Lebens, „es war eben plötzlich eine Freiheit da, das Gefühl, nicht mehr unter Druck und Gefahr zu sein. Das war unglaublich.“
Bis 1948 blieb sie noch in den Niederlanden. Erst arbeitete sie beim „volksherstel“, einer Organisation, die dafür sorgte, Familien wieder zusammenzubringen, die durch Kriegswirren und Zwangsarbeit in Deutschland auseinandergerissen worden waren, und anschließend bei einer Firma für Duftstoffe. Nach dem Krieg wurde sie von Oskar Stock geschieden, blieb ihm aber zeitlebens freundschaftlich verbunden.
Auf einer Reise nach Hamburg lernte sie den Journalisten und Schriftsteller Heinz Liepman kennen, den sie noch von früher her kannte und der seit einiger Zeit bereits aus dem amerikanischen Exil zurück war. Sie heirateten 1949. Mit ihm zusammen gründete sie die erste Literaturagentur der Nachkriegszeit in Deutschland. Die Arbeit war zwar neu für sie, aber als Juristin konnte sie sich schnell einarbeiten. Ihr Ansatz dabei war von vornherein international: wichtige Bücher aus der ganzen Welt sollten in die ganze Welt gebracht werden. Erst einmal wurde ihre Hamburger Wohnung zu einem kulturellen Treffpunkt, bis sie 1961 nach Zürich zogen. Nach Heinz Liepmans Tod 1966 führte Ruth Liepman die Agentur zusammen mit Eva Koralnik und Ruth Weibel weiter. Sie vertreten inzwischen AutorInnen aus der ganzen Welt, wie z.B. Alfred Andersch, Anna Mitgutsch, James Baldwin, Ida Fink und Hanna Krall und betreuen auch Nachlässe wie z.B. den von Anne Frank. Einer Idee von Ruth Liepman ist es zu verdanken, dass das Lebenswerk von Charlotte Salomon, deren Bilder sie tief beeindruckt hatten, in Buchform erschienen ist.
Als erster Frau wurde Ruth Liepman 1992 von der Stadt Zürich die goldene Ehrenmedaille verliehen, die sie für ihre Errungenschaften um den internationalen Literaturbetrieb und als Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus erhielt. In der Gesellschaft für Exilforschung war Liepman seit 1998 Ehrenmitglied.
Verfasserin: Doris Hermanns
Zitate
Meine Eltern waren keine religiösen Juden. Von Anfang an hat vor allem mein Vater mich an das rationale Denken herangeführt. Er versuchte mir die Welt ohne den lieben Gott zu erklären. Aber obwohl die Religion bei uns keine Rolle spielte, bekannte man sich immer zum Judentum und fühlte sich als Jude.
So kam es, dass ich sogar mit den deutschen Behörden verhandelt habe. Gemerkt haben die nie etwas, obwohl ich doch jüdisch aussehe. Aber ich habe mich wohl nie so benommen, wie Nazis es von Juden erwarten, und außerdem nie den gelben Stern getragen. Ich war der Meinung, wer Jude ist, bestimme ich!
Vielleicht hängt mein Unverständnis nationalen Gefühlen gegenüber auch mit meiner Biographie zusammen. Ich bin ja sowohl eine Ex-Deutsche als auch Jüdin und Schweizerin. Und meine Heimatgefühle sind eher holländisch, denn die wichtigste Zeit meines Lebens habe ich dort verbracht.
Wir glauben, dass die kleinen Verlage eine besonders wichtige Funktion haben. Sie wagen Experimente.
Ich glaube, dass es ein Schritt zum Frieden in der Welt ist, wenn Völker sich besser kennen. (…) Aber auch Bücher können dabei eine große Rolle spielen. Jedes wirklich wichtige Buch, wo immer es geschrieben wird, sollte die Möglichkeit haben, auch in anderen Sprachen zu erscheinen, weil sich damit Menschen näherkommen.
Literatur & Quellen
Literatur von Ruth Liepman
Die Exterritorialität des Personals der Gesandtschaften. (unter dem Namen Ruth Lilienstein) Zeulenroda i. Th., 1934. Dissertation.
Mitarbeit ohne namentliche Nennung: Hugo Emmerich, John Rothschild: Die Rechtslage deutscher Staatsangehöriger im Ausland. Haarlem, Tjeenk Willink, 1937
Vorwort zur Neuauflage von: Heinz Liepmann (Hg.): … wird mit dem Tode bestraft. Hildesheim, Gerstenberg, 1986
Vielleicht ist Glück nicht nur Zufall: Erzählte Erinnerungen. Köln, Kiepenheuer und Witsch, 1993. Neuauflage: Gräfelfing, Verlag Silke Weniger, 2011, Band 9 der edition fünf. Mit einem Nachwort von Eva Koralnik und Ruth Weibel. (Dazu hier die Rezension von Doris Hermanns)
Literatur über Ruth Liepman
Gabriele Kreis: Frauen im Exil. Dichtung und Wirklichkeit. Düsseldorf, Claassen, 1984
Irma Hildebrandt. 1994. Die Frauenzimmer kommen: 15 Zürcher Porträts. München. Eugen Diederichs.
Ruth Liepman in der Deutschen Nationalbibliothek: http://d-nb.info/gnd/119134144
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