Fembio Specials Widerstandskämpferinnen Rosemarie Reichwein
Fembio Special: Widerstandskämpferinnen
Rosemarie Reichwein
(geb. Pallat)
geboren am 24. Juli 1904 in Berlin
gestorben am 5. August 2002 in Berlin
deutsche Krankengymnastin und Widerstandskämpferin, Frau des Widerstandskämpfers Adolf Reichwein
120. Geburtstag am 24. Juli 2024
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Rosemarie Pallat wuchs in einer liberalen Familie auf. Die Eltern waren begeisterte Anhänger der Reformbewegung. Der Ehemann ermunterte seine Frau Annemarie ausdrücklich, ihr eigenes Geld zu verdienen. Sie war erfolgreich als Designerin von Reformkleidern, ähnlich wie Anna Muthesius, mit der sie freundschaftlich verbunden war, so wie mit vielen anderen Größen der künstlerischen Lebensreformbewegung.
Die Kinder Peter (*1901), Rosemarie (*1904), Rolf (*1910) und Marianne (*1912) profitierten von dieser anregenden Atmosphäre, die Romai, wie sie im Familienkreis genannt wurde, vermisste, als sie während des Ersten Weltkriegs zu ihrer Tante nach Schweden geschickt wurde, um dem Hunger in Berlin zu entgehen. 1920 machte sie ihre Mittlere Reife. Nach einem Haushaltsjahr im Harz belegte sie Kurse der Elizabeth-Duncan-Schule. Allerdings entschloss sie sich gegen eine Solokarriere im Tanz, kehrte zurück nach Schweden, um dort 1924 eine Abschlussprüfung als „Gymnastikdirektör“ abzulegen. Zwei Jahre später machte sie noch ein deutsches Staatsexamen und kam über verschiedene Stationen 1932 an die Pädagogische Akademie in Halle. Hier lernte sie den Reformpädagogen Adolf Reichwein kennen, mit dem sie sich ausgerechnet am 30. Januar 1933 verlobte. Im Sommer heiratete man, nach der Hochzeitsreise waren die Lehrerin und der Professor arbeitslos, denn die „rote Akademie“ war von den Nazis geschlossen worden.
Ab Oktober 1933 lebte das Paar im brandenburgischen Dörfchen Tiefensee nordöstlich von Berlin. Während Edolf, wie Freunde und Familie ihn nannten, hier seine reformpädagogischen Konzepte nach seinen Vorstellungen konkret umsetzen konnte, war Rosemarie Hausfrau in einem ungewöhnlich primitiven Haushalt, der nicht einmal fließendes Wasser hatte. Rosemarie war an der musischen und gymnastischen Erziehung der Schüler und Schülerinnen beteiligt, die zum Teil auch die Eltern einband. Doch nachdem 1938 das dritte Kind geboren worden war, wurde die Wohnsituation immer beengter, der Alltag immer mühsamer, so dass auch diese Umstände mitverantwortlich waren für den Umzug nach Berlin. Aber auch Adolf Reichwein drängte auf Veränderung, er wurde 1939 Leiter der neu eingerichteten Abteilung Schule und Museum im Museum für deutsche Volkskunde. Reichwein hatte über die Jahre seine sozialdemokratischen Kontakte gepflegt. Als der Krieg vor der Tür stand, wurde klar, dass das Netzwerk nicht länger nur dem Informationsaustausch dienen konnte. Es musste gehandelt werden.
Adolf Reichwein wurde aktives Mitglied des Kreisauer Kreises, der sich um Helmuth James von Moltke und Peter Yorck von Wartenburg gebildet hatte. Die Gruppe entwarf staatliche Strukturen für ein Deutschland nach Hitler. Man traf sich im kleinen Kreis, um keinerlei Aufsehen zu erregen, getarnt als geselliges Beisammensein, immer wieder an verschiedenen Orten, auch bei den Reichweins. Aber Rosemarie war selten dabei. Sie galt, auch in ihren eigenen Augen, als sehr direkt und wahrheitsliebend, was bisweilen auch undiplomatisch genannt werden musste. Reichwein fürchtete die Gefahr, die diese Eigenschaften für Rosemarie selbst, für die Familie, aber auch für den Widerstand bedeuteten und erzählte ihr wenig von seinen Aktivitäten.
Im August 1943 wurde das Haus der Reichweins bei einem Bombenangriff völlig zerstört. Rosemarie zog mit ihren inzwischen vier Kindern nach Kreisau in Schlesien auf das Gut der Moltkes. Adolf Reichwein wurde Anfang Juli 1944 verhaftet, also vor dem Attentat vom 20. Juli, nach einem Treffen mit Kommunisten, unter denen sich ein Verräter befand. 14 Tage lang wusste Rosemarie nicht, was mit ihrem Mann geschehen war. Sie durfte ihn nur noch einmal im Gefängnis besuchen, bevor er am 20. Oktober 1944 hingerichtet wurde. In ihrem Tagebuch notierte sie an diesem Tag: „Der böseste Tag bis jetzt: Verhandlung mit vermutlich Todesurteil, aber keiner sagte mir etwas, auch nicht, wo er ist u. ob er lebt!“
Rosemarie Reichwein hat den Widerstand ihres Mannes gebilligt, wohl wissend, dass er ihn das Leben kosten könnte. Auch die Familie war dadurch ständiger Lebensgefahr ausgesetzt. Wir wissen heute, dass die Frauen des Kreisauer Kreises mit dem Leben davon gekommen sind, aber den Zeitgenossinnen konnte dies nicht so klar sein. Es wäre den Nationalsozialisten durchaus zuzutrauen gewesen, dass sie auch die Frauen foltern und töten. Sie haben viele der Frauen aus dem Umfeld des 20. Juli tatsächlich in „Sippenhaft“ genommen, ihnen ihre Kinder weggenommen, die, ohne Wissen der Mütter, in einem Kinderheim in Bad Sachsa untergebracht wurden. Dort mussten sie ihre Namen „vergessen“, weil sie später in lupenreinen NS-Familien zu „guten Nazis“ erzogen werden sollten. Der Plan wurde jedoch nicht verwirklicht, Frauen und Kinder kamen wieder frei, verängstigt und traumatisiert.
Rosemarie Reichwein und Freya von Moltke blieben allerdings aus ungeklärten Gründen in Kreisau unbehelligt, erlebten dort das Kriegsende und einen fast surrealen Sommer 1945, „eigentlich war es eine schöne Zeit“, erinnerte sich Rosemarie. Doch Rosemarie Reichwein war Zeit ihres Lebens eine aktive Frau, die die Augen nicht vor den Tatsachen verschloss. Als Witwe mit vier Kindern musste sie jetzt selbst ihren Lebensunterhalt verdienen und begann damit bereits als Heilgymnastin in der Stadt Schweidnitz nahe Kreisau. Von dort aus organisierte sie schließlich die abenteuerliche und anstrengende Flucht im September 1945 nach Berlin, die sie in ihren Erinnerungen ausführlich beschrieb. Als anerkanntes Opfer des Faschismus bekam sie 1946 eine vollständig eingerichtete Wohnung in Berlin zugewiesen und fand im März 1946 Arbeit in der Charité. Unterdessen war sie viel unterwegs im zerstörten Nachkriegsdeutschland, bei Edolfs Verwandten und Freunden, bei ihren Eltern in Göttingen und weiteren Stationen, an denen sie die Kinder auf die Verwandtschaft aufgeteilt hatte, um den Neuanfang in Berlin vorzubereiten. 1949 meldete sie sich als eigenständige Krankengymnastin an, ab 1950 mit einer eigenen Praxis in Berlin-Wannsee. „Verharren ist Stillstand!“ lesen wir im April 1950 in ihrem Tagebuch. Erholung fand sie zwischendurch immer wieder in dem kleinen Häuschen in Vitte auf Hiddensee, das ihre Mutter Annemarie sich 1929 von ihrem eigenen Geld gekauft hatte.
1956 lernte sie das Bobath-Center in London kennen, in dem die deutschen, jüdischen Exilanten und Physiotherapeuten Karl und Berta Bobath ihre Methode zur Behandlung von Erkrankungen des zentralen Nervensystems praktizierten. Rosemarie Reichwein besuchte dort in den folgenden Jahren Lehrgänge, um anschließend die Bobath-Methode in Deutschland einzuführen. 1958 war sie Gründungsmitglied der Spastikerhilfe Berlin. Sie konzentrierte sich in ihrer heilgymnastischen Arbeit auf die Arbeit mit spastisch gelähmten Menschen und hat sich in diesem Bereich einen Namen gemacht. Das Gästehaus der Spastikerhilfe Berlin ist nach ihr benannt.
Rosemarie Reichwein wollte den Neuanfang: „Das ist wie ein zweites Leben gewesen, nach dem Krieg. Sehr anders als vor dem Krieg, da war ich auf Familie eingestellt.“ Diese bewusste Entscheidung war eher die Ausnahme. Ein persönlicher Neuanfang war nicht für alle Frauen aus dem Umfeld des 20. Juli 1944 eine Option. Im Leben der Witwen stand das Thema Widerstand zunächst einmal für Verlust, der für viele so schmerzlich war, dass sie nicht daran rührten und nicht darüber sprachen und damit der Vergangenheit nicht entfliehen konnten. Andere richteten sich in der Erinnerung ein. Wieder andere hatten gar keine Zeit sich darüber Gedanken zu machen, weil sie, anders als Rosemarie Reichwein, keine Berufsausbildung hatten, aber gezwungen waren, irgendwie ihren Lebensunterhalt zu verdienen, denn in den Prozessen vor dem Volksgerichtshof hatte man den Widerstandskämpfern ihr Vermögen entzogen. Sie waren mittellos, und die ihnen zustehende Wiedergutmachung bekamen sie erst – und das längst nicht alle – Anfang der 1950er Jahre. Denn die Widerstandskämpfer galten in den Augen vieler bundesdeutscher Zeitgenossen als „Landesverräter“, eine Haltung, die auch in den Amtstuben viele Anhänger fand, in denen oft genug dieselben Personen saßen wie vor 1945.
Dies war mit ein Grund dafür, dass viele Überlebende und Angehörige des Widerstands, so auch Rosemarie Reichwein, sich jahrzehntelang nicht öffentlich zu diesem Thema äußerten, weil sie Demütigung und Beleidigungen zu fürchten hatten. Erst als den Frauen von außen Interesse entgegengebracht wurde, weil sich in den 1980er Jahren das Verhältnis der westdeutschen Gesellschaft zum Thema Widerstand änderte, wurden auch die Frauen selbst aktiv. Sie meldeten sich zu Wort, schrieben eigene Erinnerungen, gaben Interviews, und Rosemarie Reichwein trat sogar in einer Talkshow auf. Sie forderten jetzt ihren Teil an der Geschichte ein und machten klar, dass sie sich zwischen 1933 und 1945 nicht nur um Haushalt und Kinder gekümmert haben, wie es ihnen immer wieder in einem Ton der Geringschätzung unterstellt wurde. Ihre Billigung und Unterstützung war ein wichtiges Element des Widerstands ihrer Männer, was diese anerkannten und in zahlreichen Äußerungen deutlich gemacht haben.
Rosemarie Reichwein hörte im Rentenalter nicht etwa auf zu arbeiten, sie trat nur etwas kürzer und begann zu reisen, in den 1970er Jahren z.B. nach Japan und in die USA. 1979 schenkten ihre Kinder ihr zum 75. Geburtstag eine gemeinsame Reise nach Kreisau, das erste Mal, dass sie seit 1945 wieder dort war, aber bei weitem nicht das letzte Mal. Wenige Jahre später trat sie in einem Film des DDR-Fernsehens als Zeitzeugin auf, und später engagierte sie sich für das Neue Kreisau, die europäische Jugendbegegnungsstätte, die dort entstand. Sie starb 2002 hochbetagt und ihr Name verbindet sich in Deutschland sowohl mit der Bobath-Therapie als auch mit Kreisau.
Verfasserin: Frauke Geyken
Zitate
Also ich habe mich ja nachher ganz anders betätigt als früher mit meinem Mann. Habe also meinen alten Beruf aus der Jugend wieder aufgegriffen, von dem er nur wusste, dass ich gerne Sport trieb. ... Ich hab mich dann mit der Zeit auf spastisch gelähmte Kinder konzentriert. ... Also das war eine völlig neue Arbeit, von der mein Mann überhaupt keine Ahnung hatte. ... [Es war ein] ganz neuartiges Leben, auf das ich mich dann ausgerichtet habe. Ich war immer an Politik interessiert, aber nicht an erster Stelle, das ist schon wichtig zu wissen, dass ich dann was Neues entwickelt habe, völlig neu.
(Rosemarie Reichwein in einem Interview mit Jonathan Bauerschmidt 2001)
Links
http://www.spastikerhilfe.de/startseite_ev.html
Literatur & Quellen
Erinnerungen
Reichwein, Rosemarie (1999): Die Jahre mit Adolf Reichwein prägten mein Leben. Ein Buch der Erinnerung, herausgegeben von Lothar Kunz und Sabine Reichwein, München. C. H. Beck. ISBN 3406453589.
s.a. Bielenberg, Christabel (1979): Als ich Deutsche war. 1933-1945, München, dtv. ISBN 3423014946.
Haeften, Barbara von (1997): „Nichts Schriftliches von Politik“. Hans Bernd von Haeften. Ein Lebensbericht, München.
Moltke, Freya von (1997): Erinnerungen an Kreisau 1930-1945, München. C. H. Beck. ISBN 3423308036.
Trott zu Solz, Clarita von (2009): Adam von Trott zu Solz. Eine Lebensbeschreibung, Berlin. Publikation der Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin.
Yorck von Wartenburg, Marion ([1984] 1985.): Die Stärke der Stille. Erzählung eines Lebens aus dem deutschen Widerstand, Köln. Diederichs. ISBN 3424007870.
—- Ulrich Dietzel im Gespräch mit Rosemarie Reichwein, in: Sinn und Form 36 (1984), Heft 6, S. 1191-1202.
Geyken, Frauke (2014): Wir standen nicht abseits. Frauen im Widerstand gegen Hitler. 1. Aufl. München. Beck. ISBN 3-406-65902-0. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Kaiser, Hella (1986): „Wir waren nur die Stützen unserer Männer.“, in: Tagesspiegel, 2. Februar 1986, S. 54f.
Meding, Dorothee von (1992): Mit dem Mut des Herzens. Die Frauen des 20. Juli, Berlin.
Reichwein, Rosemarie (1974): Adolf Reichwein. Ein Lebensbild aus Briefen und Dokumenten. Ausgewählt von Rosemarie Reichwein unter Mitwirkung von Hans Bohnenkamp, hrsg. und kommentiert von Ursula Schulz, München.
Filme
Teschner, Ulrich (Regie), Hans Bentzien, Hans Sparschuh (Buch) (1984), Wir haben nichts zu bereuen. Augenzeugen über den 20. Juli 1944 und den Kreisauer Kreis, Berlin, DDR-Fernsehen.
zur Mühlen, Irmgard von 1985/86, Die Frauen des 20. Juli, Chronos Film, Berlin.
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