Fembio Specials Frauen aus Lateinamerika Nise da Silveira
Fembio Special: Frauen aus Lateinamerika
Nise da Silveira
geboren am 15. Februar 1905 in Maceió
gestorben am 30. Oktober 1999 in Rio de Janeiro
brasilianische Psychiaterin, Feministin, Kunsttherapeutin
120. Geburtstag am 15. Februar 2025
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Nise da Silveira, die „psiquiatra rebelde“, die rebellische Psychiaterin Brasiliens, revolutionierte die Geschichte der Psychiatrie über die Grenzen ihres Landes hinaus und nahm die weltweiten Bewegungen der Psychiatriereformen in England (60er Jahre), in Italien und Deutschland (70er Jahre) und in Brasilien (80er Jahre) vorweg. Sie trat für eine Humanisierung der Behandlungsmethoden chronisch geistig kranker PatientInnen ein, schuf ein Museum für deren künstlerischen Werke, das „Museu de Imagens do Inconsciente“, das Museum der Bilder des Unbewussten, das im Jahr 2022 eine Sammlung von mehr als 400 000 Exemplaren beherbergt - ein Ort der Erforschung des Unbewussten und seines Ausdrucks durch Kreativität. Nach ihrem Tod wurde ihr privates Archiv als Erbe der Menschheit in das „Memory of the World“- Programm der UNESCO aufgenommen, eine digitale Sammlung historischer Dokumente von außergewöhnlichem Wert für die Menschheitsgeschichte. Die Aufnahme der persönlichen Unterlagen Nise da Silveiras dokumentiert ihre herausragende Lebensleistung für die Förderung einer menschlicheren Welt.
Als Nise 1905 in Maceió, der Hauptstadt Alagoras, geboren wurde, war dieser nordöstliche Bundesstaat Brasiliens eine verarmte Region des Landes. Ihre Familie jedoch gehörte zur wohlhabenden und gebildeten Schicht, sie selbst hielt sich im Nachhinein für ein „komplett verwöhntes Einzelkind“. Ihre Mutter war Pianistin, der Vater Journalist, Mathematiker, Literaturkenner. Nise wuchs in beiden Universen auf, dem musischen und dem rationalen. Ihre spätere medizinisch-naturwissenschaftliche Forschung, ihr sicheres Gespür für künstlerischen Ausdruck, ihre tiefe humanitäre Haltung und ihr nicht nachlassendes Engagement für nicht privilegierte Menschen, für die geistig Armen unserer Gesellschaften, mögen auch diesem frühen biografischen Hintergrund geschuldet sein.
Ihre Schulbildung erhielt Nise in einer Klosterschule, dem Colégio Santíssimo Sacramento; ein anschließendes Studium war für ihre Familie eine Selbstverständlichkeit. Mit nur 16 Jahren schrieb sie sich an der medizinischen Fakultät der Universität in Bahia, Brasilien, ein – als einzige Studentin unter 157 Studenten ihres Jahrgangs.
1926 schloss sie als eine der ersten Ärztinnen Brasiliens das Studium ab, ihre Dissertation schrieb sie über Kriminalität bei Frauen. Sie heiratete ihren Studienkollegen und Cousin Mário Magalhaes da Silveira und zog mit ihm nach Rio de Janeiro. Ihr Vater war inzwischen verstorben, und sie kehrte nie mehr nach Maceió zurück. Mario da Silveira wurde als Arzt in der Nationalen Gesundheitsabteilung ein bekannter Politiker und zum wichtigsten Mentor für eine Gesundheitspolitik, die sich um die wirklichen Bedürfnisse der Bevölkerung kümmerte. Vehement trat er für eine Kommunalisierung des Gesundheitswesens ein. Die Ehe währte bis zu Marios Tod 1986.
Nise absolvierte an der neurologischen Klinik Antonio Austregésilo ihre fachärztliche Ausbildung zur Psychiaterin und gewann im selben Jahr eine landesweite Ausschreibung für eine Stelle für Psychopathologie und Vorsorge für geistige Gesundheit am Praia Vermelha Hospital in Rio.
Als am 25. Mai 1935 intellektuelle und feministische Aktivistinnen die Organisation „Uniao Feminina do Brasil“ (UFB) gründeten, trat Nise da Silveira ihr bei – möglicherweise war sie sogar eine der Mitbegründerinnen. Die Frauen forderten gesetzliche Änderungen, die den Frauen das Sorgerecht für ihre Kinder nach einer Scheidung, Lohngleichheit mit Männern und den Anspruch auf Mutterschaftsurlaub zugestanden. Diese Forderungen brachten die UFB in die Nähe linker Organisationen, die wiederum mit der Kommunistischen Partei verbunden waren. Der regierende Diktator Präsident Getúlio Vargas, ein fanatischer Antikommunist, unterzeichnete am 19. Juli 1935 das Dekret 246, das umgehend die Schließung der UFB als illegale Organisation verfügte - weniger als zwei Monate nach ihrer Gründung.
Ein Jahr später wurde Nise da Silveira von einer Krankenschwester denunziert, die in Da Silveiras Schließfach marxistische Literatur entdeckt hatte. Es folgte eine 18monatige Haft, möglicherweise im Zuge des Kommunistischen Aufstandes im Jahr 1935, sowie ein Berufsverbot.
1944, als die Diktatur des Präsidenten Getúlio Vargas nach 15 Jahren überstanden war, gewannen demokratische Prozesse die politische Oberhand, die Emanzipation der Gesellschaft durch Bildung und Kunst wurde zum politischen Anliegen. Nise da Silveira wurde amnestiert und in ihre frühere Stelle in der nunmehr „Psychiatrisches Zentrum Pedro II“ genannten Klinik in Engenho de Dentro, einem Stadtteil Rio de Janeiros, zurückversetzt. Zutiefst schockiert reagierte sie auf die invasiven und für sie brutalen Behandlungsmethoden, die während ihrer Abwesenheit zur Norm der internationalen Psychiatrie geworden waren: Insulinschocktherapie, Elektroschock, Lobotomie (eine neurochirurgische Operation, bei der den PatientInnen Stahlnadeln tief ins Gehirn getrieben werden, um die Nervenbahnen zwischen Thalamus und Frontallappen und Teile der Grauen Substanz zu durchtrennen. Als Folge der Lobotomie treten Persönlichkeitsveränderungen, Störungen des Antriebs sowie ein Nachlassen der Emotionalität auf. Der portugiesische Arzt António Egas Moniz (1874 – 1955) wurde 1949 für die Entwicklung der Lobotomie mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet. Seit den 1970er Jahren wird in Deutschland keine Lobotomie mehr durchgeführt. Das Gleiche gilt für Verfahren mit ähnlich massiver Zerstörung von Hirngewebe wie die Insulinschocktherapie).
Als Nise da Silveira diese Therapien selbst anwenden sollte, weigerte sie sich strikt - was ihr von diesem Moment an den Titel „rebellische Psychiaterin“ einbrachte. Für sie waren diese Methoden riskant, aggressiv und ineffektiv – eine Barbarei, die an Folter grenzte und keineswegs geeignet, um PatientInnen zu beruhigen oder sie vor eventuellen aggressiven Impulsdurchbrüchen zu bewahren. Sie war überzeugt, dass „alle diese Techniken …eine Attacke auf die Integrität des Menschen im edelsten seiner Organe darstellen“. Sensibilisiert für ein Leben in Gefangenschaft durch ihre eigene Haft reagierte sie ebenso entsetzt auf die Unterbringung der damals ca.1500 schizophrenen PatientInnen in geschlossenen Räumen und ummauerten Innenhöfen. Wollte sie allerdings ihren Arbeitsplatz behalten, bot sich ihr als einzige Lösung, sich in die vergessene und verwahrloste Abteilung für Beschäftigungstherapie versetzen zu lassen. Auch wenn die Beschäftigung bisher nur aus Putzen und Wartungsarbeiten bestand, nahm da Silveira das Angebot an – stellte die Beschäftigungstherapie doch die einzige nicht-invasive Behandlungsform dar. Sie übernahm einen ungenutzten Verwaltungsbereich des Klinikkomplexes und gründete am 9. September 1946 die Secao de Terapeutica Ocupacional e Reabilitacao, die Sektion für Beschäftigungstherapie und Rehabilitation und startete ihr bahnbrechendes Werk.
Innovationen in Psychiatrie und Kunst
Sie begriff ihre Strafversetzung als Chance, zunächst eine freundliche, unterstützende und humane Atmosphäre für die PatientInnen zu schaffen. Mit dem Maler Almir Mavignier (1925 – 2018), damals Angestellter der Klinik, startete Da Silveira ein umfangreiches beschäftigungstherapeutisches Programm, das Malerei, Modellieren und skulpturelles Arbeiten umfasste. Da Silveira war überzeugt, dass der freie künstlerische Ausdruck die PatientInnen befähigt, Konflikte und Emotionen bildnerisch auszudrücken – was wiederum zu einem tieferen Verständnis für deren innere Welt führt. Bilder stellten für Da Silveira den wichtigsten Weg zum Unbewussten dar. Sprache ordnete sie der Logik und dem Verstand zu, beides bewirkt ihrer Meinung nach keine Heilung. Nise da Siveira war davon überzeugt, dass mit Bildern und der Verbindung zwischen sensorieller Erfahrung und kreativer Befähigung therapeutisch gearbeitet werden könne. (da Silveira nach Neubauer, S. 96) „Wir müssen auf der nonverbalen Ebene beginnen“ (ebd. S.97). Zum damaligen Zeitpunkt bereits vertraut mit Schriften C.G. Jungs, stimmte sie seiner Aussage zu: „Wenn ein hohes Maß an Bewusstseinseinschränkung besteht, sind oft genug nur die Hände in der Lage zu phantasieren“ (ebd.). Gleichzeitig ermöglichte ihr dieser Ansatz, mit dem Affekt als therapeutische Form zu arbeiten, eine ihrer PatientInnen nannte die Abteilung „den Raum zur Bewältigung von Gefühlen“. Ungeachtet vieler Rückschläge und ohne jede Unterstützung seitens der Kollegen oder der Klinikleitung baute sie ein äußerst erfolgreiches Atelier auf. Im Sinne der Deinstitutionalisierung psychiatrischer Krankenhäuser sprach Da Silveira nun nicht mehr von „Geisteskrankheiten“, sondern von „Zuständen des Seins“. Sie lehnte die Verriegelung der Räume und die Unterbringung in geschlossenen Arealen ab und öffnete Türen und Tore: diese Maßnahme erleichterte besonders Familien und Freunden den Kontakt mit PatientInnen und ermöglichte Letzteren wieder gesellschaftlichen Umgang. Da viele ihrer PatientInnen in ihrer verbalen Kommunikationsfähigkeit stark eingeschränkt waren, brachte Nise da Silveira zudem Hunde und Katzen in die Klinik und führte als erste Psychiaterin eine tiergestützte Therapie ein. Heutzutage sind die Wirkungen der Tiertherapie bekannt und anerkannt: Tiere haben ein großes emotionales Potenzial, sie strahlen Wärme aus, vermitteln Sicherheit und wecken Vertrauen, fördern die Liebesfähigkeit und machen nonverbale Bindungen erfahrbar.
Bereits drei Monate nach Eröffnung der Kunstwerkstatt organisierte Mavignier eine erste Ausstellung mit Werken von 35 KünstlerInnen in der Klinik. Die Schau erregte soviel Aufmerksamkeit, dass das Bildungsministerium 1947 eine Ausstellung mit 245 Werken ermöglichte. Schon 1949 fand eine dritte Ausstellung in Sao Paulo statt. Die Bilder und Skulpturen trafen nicht nur auf ein begeistertes Publikum, sondern riefen das Erstaunen und Interesse der Kunstwelt hervor.
Besonders der in Brasilien damals führende Kunstkritiker Mario Pedrosa war zutiefst beeindruckt von der Kunst der „Verrückten“ und gab dieser neuen Kunstform den Namen „arte virgem“, jungfräuliche Kunst – stammten die Werke doch von KünstlerInnen, die nie eine Ausbildung genossen oder unter dem Einfluss anderer Stilrichtungen gestanden hatten. Es entbrannten Diskussionen um das bisher vorherrschende Kunstverständnis und um die Beziehung zwischen Kunst und psychischer Gesundheit. Pedrosa und Mavignier verteidigten immer den künstlerischen Charakter der Werke der PatientInnen und verneinten, dass nur Menschen mit kunstakademischen Abschluss Künstler sein könnten. Pedrosa formulierte ein breites inklusives Konzept von moderner Kunst, in dem Expression und Kreativität Teil eines größeren kulturellen, spirituellen Erbes sind, an dem alle Menschen teilhaben. Er verstand moderne Kunst wie auch die Kunst der „Primitiven“, der Kinder und Laien als eine Rekonzeptualisierung des menschlichen Geistes, der ein Unbewusstes besitzt (da Silveira nach Neubauer S.11). In Deutschland kam ein solches innovatives Kunstverständnis erst viel später mit dem Namen Joseph Beuys in den öffentlichen Diskurs. Ausgehend von der Beschäftigung mit den Werken aus Engenho de Dentro und anderer psychiatrischer Kliniken in Brasilien entwickelte sich eine fruchtbare Auseinandersetzung mit expressiven, organischen und aus dem Unterbewusstsein entstehenden Ausdrucksformen. (Neubauer, S. 107). Dieser Anspruch von Kunst als „Ausdrucksform der Welt“ ist einzigartig und exemplarisch in der Kunstentwicklung Rio de Janeiros und Brasiliens in den er 50er Jahren. „Die Künstler und Poeten tauchen ins Unbewusste ein und kehren daraus zurück. Die Wahnsinnigen, die Geisteskranken – sie haben keine Rückfahrkarte. Das ist der Unterschied“ (Nise da Silveira).
Die Konzepte Nise da Silveiras, Pedrosas und Mavigniers bekamen einen zentralen Einfluss auf die entstehende Kunstrichtung des brasilianischen Neokonkretismus. Zusammen mit anderen experimentellen Bildungseinrichtungen wurde das Atelier Nise da Silveiras zu einem wichtigen Nährboden für die Kunstproduktion in Rio de Janeiro.
Aus der Abteilung für Kunsttherapie ging das „Museu de Imagens do Inconsciente“ (Museum für Bilder des Unbewussten) hervor, das Nise da Silveira 1952 in Rio de Janeiro gründete. Das Museum engagiert sich bis heute für den Kampf, Stigmatisierung zu reduzieren und die Meinungen über mentale Erkrankungen und „Wahnsinn“ zu humanisieren. Weltweit ist seine Sammlung die größte und differenzierteste ihrer Art. Das Museum ist bis heute ein lebendiges Studien- und Forschungszentrum zum Thema Kunst und geistige Gesundheit geblieben. Der interdisziplinäre Charakter ermöglicht den Austausch zwischen Kulturanthropologie, Geschichte, Kunst und Pädagogik. Es ist zudem keine Einrichtung der Vergangenheit: in seinen Ateliers arbeiten bis heute PatientInnen und teilen ihre Erfahrungen mit MitarbeiterInnen, StudentInnen, Tieren, ForscherInnen und BesucherInnen.
1956 eröffnete Nise da Silveira das „Casa de Palmeiras“, das „Palmenhaus“, einem halboffenen Ort zwischen Familie, sozialem Umfeld und Klinik. Sie selbst agierte im Kollektiv mit PatientInnen, Tieren, MitarbeiterInnen und KünstlerInnen, gewidmet dem Ziel, ein für allemal die Vorurteile gegenüber „Verrückten“ auszurotten. Sie sprach nicht mehr von „PatientInnen“, sondern von KlientInnen als Zeichen dafür, dass sie ihnen wie Kunden diente und sich ihnen zuwandte. Ihre Vorgehensweise wurde bald als „Therapie der Zuneigung“ bekannt. Die freie künstlerische Expression als Spiegelung tiefster Emotionen war eine neue Sprache in der Behandlung psychotischer Klienten, das Malstudio ein heilender Experimentierraum für den Umgang mit unbewältigten Emotionen und Konflikten.
Im Dialog mit C. G. Jung
War das Interesse von Mavignier, Pedrosa und anderen auf den künstlerischen Aspekt der Werke der schizophrenen PatientInnen fokussiert, stand für Nise da Silveira als Psychiaterin und Psychoanalytikerin die medizinisch-psychiatrische Forschung im Vordergrund des Interesses. Sie untersuchte nicht nur die psychische Dynamik der Schizophrenie und die künstlerischen Werke, sondern verstand insbesondere die Malerei als Königspfad zur Heilung. „Die Malereien werden als Start für verbale Assoziationen genutzt…Durch sie wird unterdrücktes Material, symbolisiert in den Bildern, das Bewusstsein erreichen“, so Nise da Silveira.
Die Zeichnungen kreisförmiger Formen, die die PatientInnen anfertigten – einige äußerst komplex, einige in harmonischen Formen, faszinierten Da Silveira. Sie schickte einige Proben an den berühmten Psychiater Carl Gustav Jung. Er identifizierte diese Malereien eindeutig als Mandalas, die seine Theorie der universellen Symbolsprache bestätigten.
Mandalas, Symbole des Zentrums des Selbst und der Einheit des Kosmos, zeigen sowohl das Selbstheilungspotential des Menschen wie auch die Anstrengungen der Psyche, Ordnung und Einheit in Perioden großer Konfusion und geistiger Desorganisation zu erreichen. Nise da Silveira: „Die Konstruktion eines Symbols ist der Prozess der Restauration der inneren Welt. Was heilt, ist der Stimulus der Kreativität“ und: „Der Künstler ist ein kollektives Individuum, das das Unbewusste und die aktive Seele der Menschlichkeit ausdrückt“. Die von nun an beständige Korrespondenz zwischen Da Silveira und C.G. Jung bedeutete die Einführung der Jungianischen Psychologie in Lateinamerika und machte Nise da Silveira zur ihrer Wegbereiterin.
Ihre Korrespondenz mit C.G.Jung führte 1957 zu einem ersten Treffen der beiden anlässlich des II. Weltkongresses für Psychiatrie in Zürich. Jung eröffnete die begleitende Ausstellung „Schizophrenie in Bildern“ mit Werken aus dem Museu de Imagens Inconsciente. Nise da Silveira und ihre Arbeit sind seither international bekannt und anerkannt.
1969 richtete Nise da Silveira eine C.G. Jung-Studiengruppe ein, die bis heute besteht und nicht nur die Ideen Jungs diskutiert, sondern sich besonders den Verbindungen zwischen Psychiatrie und Kunst widmet – ein Diskurs, der in dieser Intensität einzigartig ist.
Heilende Prozesse
Während ihrer Zeit im Nationalen Psychiatrischen Zentrum traf sie immer wieder auf PatientInnen, deren Werke hohem künstlerischen Anspruch genügten, gleichzeitig den Prozess der Heilung dokumentierten und eine Bestätigung für ihre und C.G. Jungs Theorie der menschlichen und individuellen psychischen Entwicklung darstellten. Besonders hervorzuheben ist hier die Patientin Adelina Gomes (1916 – 1984).
Adelina Gomes wurde mit 21 Jahren von ihrer Familie in die Klinik gebracht, nachdem sie ihre geliebte Katze erwürgt hatte. Die Diagnose lautete Schizophrenie. Adelina war wenig kommunikativ, sie wurde Nise da Silveira als aggressiv und autistisch vorgestellt. Bereits ab 1946 besuchte Adelina die Kunstwerkstatt, hörte nie mehr auf zu produzieren und schuf mehr als 17.500 Bilder und Skulpturen. Ihre Hauptthemen waren universale Symbole des Weiblichen: Blumen, Katzen, Mutterfigurinen. Da Silveira vermutete, dass die Wurzel von Adelinas Pathologie die Unterdrückung des weiblichen Antriebs war und dass es dieser Antrieb war, der sich sehr stark als archetypische Repräsentation durchsetzte. Adelina stammte aus einer ebenso armen wie repressiven Familie, die strenge Mutter schlug sie, zu alledem wurde ihr die Beziehung zu dem Mann untersagt, in den sie sich verliebt hatte. Da Silveira schreibt, dass sie zu Beginn ihrer Tätigkeit in Adelina eine gebrochene Frau antraf. Adelinas Arbeitsprozess illustriert die universelle, unbewusste psychische Reise des Menschen zu Individualität und Reife, und dies in konstanter Verbindung zu den uralten Menschheitserfahrungen, die sich im allgemein menschlichen, dem „kollektiven“ Unbewussten und den entsprechenden Symbolen, den „Archetypen“, niedergeschlagen haben – so die Theorie C.G. Jungs und in der Folge Nise da Silveiras. Diese innere Reise führt vom undifferenzierten Bild der Großen Mutter und des Großen Vaters über die Heldenreise mit ihren Verwirrungen, Prüfungen und Abenteuern hin zur differenzierten Individualität und Selbstverwirklichung. Die Unmöglichkeit Adelinas, ihre volle Weiblichkeit und ihre eigene Liebesgeschichte zu entfalten, führte dazu, dass sie ihr Selbst auf Bilder von Pflanzen, Bäume und Blumen projizierte – gleich der Mythologie der griechischen Nymphe Daphne, die sich in einen Lorbeerbaum verwandelte, als sie sich Apollos Nachstellungen entziehen wollte. Die Strangulation der Katze deutete Nise da Silveira als Adelinas Projektion auf ihre Mutter, die ihre weiblichen Antriebskräfte unterdrückt hatte.
Anfänglich glichen die weiblichen Figurinen, die Adelina formte, den korpulenten, majestätischen Göttinnenstatuetten des Neolithikums in ihrem furchterregenden Aspekt. Im Laufe ihrer kreativen Entwicklung und Therapie jedoch verwandelte Adelina die Katzen in freie, fröhliche Kreaturen; die Frauen trugen Kronen, weiße Gewänder und Schleier mit Katzenohren. Zuletzt erschien nicht mehr der furchterregende Aspekt der Großen Mutter, sondern die gütige Seite der christlichen Schutzmantelmadonna.
Nise da Silveira konstatiert: „Es ist sozusagen die Expression des Unbewussten. Die Mythen sind eine Art Spur. Wenn du vom Mythos ausgehst, kannst du deinen Wünschen überall hin folgen… Es ist wichtig zu wissen, dass die Person durch die Sprache der Mythen anfängt zu kommunizieren, wenn das Bewusstsein durch das Unbewusste erstickt wird“.
1989 erschien der Dokumentarfilm „Imagens do Inconsciente“ des brasilianischen Regisseurs Leon Hirszman (Mitarbeit: Nise da Silveira). Der dreiteilige Film erzählt die Geschichte der PatientInnen und KünstlerInnen Adelina Gomes, Fernando Diniz und Carlos Pertuis. Bis heute werden deren ausdrucksstarke Werke weltweit gezeigt, beispielsweise 2020 bei der 11. Berlin Biennale sowie 2022 im Museum für Moderne Kunst „Marres“ in Maastricht, Niederlande.
Die Gründungsgeschichte des Museums erzählt der brasilianische Regisseur Robert Berliner in seinem Spielfilm „Nise: O Coracao da Loucura (im Herzen des Wahnsinns), basierend auf 13 Jahren intensiver Recherche.
Zum Schluss
Nise da Silveira hat eine klinische Methode entwickelt, die auf Zuneigung und Respekt vor der Würde jedes Menschen gründet. Ihre Revolution ist eine Revolution durch Zufriedenheit und inneren Frieden. Da Silveiras geistige Väter sind Baruch Spinoza, Sigmund Freud, Carl Gustav Jung u.a. Alle haben mit einem aufs Subjekt konzentrierten Ansatz gearbeitet, in dem Emotionen, Identität, Symbolik, Erzählungen und Erinnerungen von Bedeutung sind. Die Vorstellung, der Mensch sei wie eine Maschine zu behandeln, haben sie zutiefst abgelehnt. Nise da Silveira wurde weltweit bekannt für die avantgardistische Idee, Zuneigung als wissenschaftliche Methode in der Behandlung psychischer Leiden zu nutzen. Empathie, Engagement und Nächstenliebe überwanden Krankenhausmauern, Vorurteile und Missbrauch von PatientInnen. Ihre revolutionäre Geste auf der Grundlage von Zuwendung ist bis heute mächtig. Nise da Silveira vertrat das brasilianische Avantgarde-Denken in der Wissenschaft und folglich, durch die Spezifität ihrer Arbeit, auch in der Kunst.
Im hohen Alter von 94 Jahren starb Nise da Silveira an den Folgen einer Lungenentzündung.
Gleich einem Kunstwerk widersteht ihr Werk der Vergänglichkeit der Zeit.
(Text von 2023. Herzlichen Dank an Edgar Neves für die Übersetzung einiger portugiesischer Texte!)
Verfasserin: Christa Matenaar
Zitate
Nur Verrückte und Künstler können mich verstehen.
Man muss staunen, empört sein und sich anstecken lassen, nur so kann man die Realität verändern.
Ich verachte Menschen, die denken, dass sie den Tieren überlegen sind. Tiere haben die Weisheit der Natur. Ich wäre gern wie eine Katze: Wenn dir dein Personal egal ist, hebst du deinen Schwanz und gehst. Es wird nicht geredet.
Jeder muss etwas erfinden, Kreativität vereint mehrere psychologische Funktionen, die für die Umstrukturierung der Psyche wichtig sind. Was grundsätzlich heilt, ist der Stimulus zur Kreativität. Sie ist unverwüstlich. Kreativität ist überall.
Heil nicht zu viel. Zu geheilte Menschen sind langweilige Menschen. Jeder hat ein bisschen Wahnsinn. Ich möchte Sie bitten: Lebe deine Vorstellungskraft, denn sie ist unsere tiefste Realität. Zum Glück habe ich nie mit vernünftigen Menschen zusammengelebt.
Was die Pflege verbessert, ist der affektive Kontakt zwischen einer Person und einer anderen. Was heilt, ist Freude, was heilt, ist das Fehlen von Vorurteilen.
Psychiatrie ist für mich eine profunde Studie des Seins.
Links
MII – Museu de Imagens do Inconsciente (Museum of Images from the Unconscious) (2023).
Online verfügbar unter https://www.museuimagensdoinconsciente.org.br/en, zuletzt geprüft am 04.02.2023.
Nise no CCBB. 8 dezembro a 28 março Centro Cultural Banco do Brasil BH. Seite zur Ausstellung, mit virtuellem Rundgang (2023).
Online verfügbar unter https://www.nisenoccbb.com.br/, zuletzt geprüft am 04.02.2023.
Diccionario Biográfico de las Izquierdas Latinoamericanas (2023): SILVEIRA, Nise da. Biografischer Lexikoneintrag (portugisisch).
Online verfügbar unter https://diccionario.cedinci.org/silveira-nise-da/, zuletzt geprüft am 04.02.2023. IMDb: Nise da Silveira. Eintrag in der Filmdatenbank.
Online verfügbar unter https://www.imdb.com/name/nm1317685/, zuletzt geprüft am 04.02.2023.
Team, Michael Krämer und das Aventura do Brasil (2023): Bedeutende brasilianische Ideengeberinnen | Aventura do Brasilien.
Online verfügbar unter https://www.aventuradobrasil.de/blog/einflussreiche-brasilianische-ideengeberinnen-der-vergangenheit/, zuletzt geprüft am 04.02.2023.
UNESCO (2023): Nise da Silveira Personal Archive.
Online verfügbar unter https://en.unesco.org/memoryoftheworld/registry/507, zuletzt geprüft am 04.02.2023.
University of Copenhagen (2023): Nise da Silveira and the Museum of Images of the Unconscious.
Online verfügbar unter https://decolmad.ku.dk/blog/nise-da-silveira-and-the-museum-of-images-of-the-unconscious/, zuletzt geprüft am 04.02.2023.
Wikidata (2023): Nise da Silveira.
Online verfügbar unter https://www.wikidata.org/wiki/Q9050242, zuletzt geprüft am 04.02.2023.
WorldCat Identities (2023): Silveira, Nise da.
Online verfügbar unter https://worldcat.org/identities/lccn-n82047312/, zuletzt geprüft am 04.02.2023.
Literatur & Quellen
Quellen
Images from the Unconscious. (2022) Ausstellungskatalog, 22.3. - 6.6. 2022. Marres. Huis voor Hedendaagse Cultuur.
Mehr dazu unter https://marres.org/wp-content/uploads/2022/06/IFTU-Cahier-DEF-LR-EN-2MB.pdf
Da Silveira, Nise (1956): Briefe an C. G. Jung aus dem Jahr 1956. Arbeitsarchiv ETH-Bibliothek Zürich.
Hirszman, Leon (1986): Interview mit Nise Da Silveira, 15. und 19. April 1986
Jung, C. G. (1982): Der Mensch und seine Symbole. 6. Auflage der Sonderausgabe. Olten, Freiburg im Breisgau. Walter. ISBN 9783530565010.
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Mello, Luiz Carlos (2009): Nise da Silveira. Rio de Janeiro, RJ. Beco do Azougue Editorial. (Coleção Encontros) ISBN 9788588338999.
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Neubauer, Susanne (2022): Verknüpfte Modernitäten. Brasilianisch-deutsche Interferenzen in Bezug auf Kulturpolitik und Menschenbild in der Nachkriegszeit. Bielefeld. transcript. (Histoire, 2702-9409, Band 182) ISBN 9783837653359.
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Teixeira Pinto, Ana: Infotext zur Ausstellung BerlinBiennale 2020.
Weiterführende Literatur
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Silva, José Otávio Motta Pompeu und Silva, José Otávio Motta Pompeu e. (Hg.) (2013): Nise da Silveira. Rio de Janeiro. Fundação Miguel de Cervantes; Conselho Nacional de Desenvolvimento Científico e Tecnológico; Ministério da Cultura, Fundação Biblioteca Nacional, Governo Federal Brasil. (Memória do saber) ISBN 9788564868120.
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Filme
Leon Hirszman, Imagens do Inconsciente
https://www.youtube.com/watch?v=FxYx4obbARE
https://www.youtube.com/watch?v=9-uN1lsWFjM&t=4322s
https://www.youtube.com/watch?v=fgong5EYqUE&t=3585s
Robert Berliner, Nise – O Coracao da Loucura (Nise – in the Heart of Madness)
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