Fembio Specials Berühmte Mathematikerinnen Maryam Mirzakhani
Fembio Special: Berühmte Mathematikerinnen
Maryam Mirzakhani
( مریم میرزاخانی)
geboren am 3. Mai 1977 in Teheran
gestorben am 14. Juli 2017 in Stanford / Kalifornien
iranische Mathematikerin
5. Todestag am 14. Juli 2022
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Maryam Mirzakhani war die erste (und bisher einzige) Frau, die die höchste Auszeichnung für MathematikerInnen, die renommierte und prestigeträchtige Fields-Medaille, erhielt. Bereits ihre DoktorInnenarbeit hatte Aufsehen erregt, weil sie mit ihr gleich zwei Lösungen für ein schwieriges mathematisches Problem präsentierte. Sie studierte an der Harvard Universität, lehrte mit 27 Jahren in Princeton und wurde mit 31 Jahren Professorin an der Stanford Universität. Sie hätte wohl noch etliche knifflige Herausforderungen gemeistert – doch die begnadete Mathematikerin starb im Alter von nur 40 Jahren an Brustkrebs.
Dabei hat sie zunächst gar nichts mit Mathematik am Hut. Als Kind liest sie alle Romane, die sie in die Finger bekommt, und will eigentlich Schriftstellerin werden. Sie wächst mit zwei Geschwistern in einer liberalen, weltoffenen Familie in Teheran auf. Ihr Vater Ahmad ist Elektroingenieur; über den Beruf ihrer Mutter Zahra ist nichts bekannt. Nach der Grundschule erhält Maryam einen Platz an der Farzanegan Mädchenschule für besonders begabte Schülerinnen. Mathematik gehört nicht zu ihren Glanzfächern: sie ist entmutigt von der Aussage ihrer Lehrerin, sie sei für Mathematik völlig untalentiert.
Erst ihr älterer Bruder weckt mit einer Geschichte vom deutschen Mathematiker Carl Friedrich Gauß ihr Interesse an dem Fach. Darin geht es um den Lösungsansatz, den Gauß – damals selbst noch Schüler – fand, um alle Zahlen von 1 bis 100 zu addieren: Weil 1+100 das Gleiche ergibt wie 2+99 oder 3+98 und weiter bis 50+51, nämlich 101, rechnete er einfach 50 Paare mal 101 = 5.050. Maryam ist fasziniert von dieser schlichten und dennoch eleganten Lösung der Aufgabe.
Das Feuer ist entfacht, und Maryam gehört bald zu den Besten. Mit der Unterstützung ihrer Schuldirektorin („wenn du etwas wirklich willst, kannst du es schaffen, auch wenn du die Erste bist“) nimmt sie an Mathematikwettbewerben teil, die bis dahin Jungen vorbehalten waren. Schließlich gehört sie zum sechsköpfigen iranischen Team für die Internationale Mathematik-Olympiade, bei der sie 1994 in Hongkong Furore macht: Sie gewinnt mit 41 von 42 möglichen Punkten die Goldmedaille, ein Jahr später in Toronto sogar mit der vollen Punktzahl. Nach ihrem Schulabschluss erhält sie ein Stipendium für das Studium der Mathematik an der renommierten Sharif-Universität in Teheran, das sie 1999 mit dem Bachelor abschließt. Dass sie ihren Weg so gerade gehen konnte, obwohl die iranische Revolution 1979 und der infernalische Iran-Irak-Krieg (1980-88) gerade erst vorbei sind, hat sie später selbst als großes Glück bezeichnet: „Ich glaube, ich gehöre zur ‘glücklichen Generation‘: ich war ein Teenager, als sich die Verhältnisse stabilisierten.“
Großes Glück hat sie auch in anderer Hinsicht: Als sie mit ihren KommilitonInnen von einem Mathematik-Wettbewerb in Ahwaz zurückkehrt, wird ihr Bus in einen Unfall verwickelt. Bei dem Unglück kommen mehrere Studierende ums Leben.
Wie viele andere talentierte IranerInnen wechselt Maryam Mirzakhani nach ihrem ersten Studienabschluss für den Master und zur Promotion in die USA. Ihr Doktorvater in Harvard ist Curtis McMullen, der Gewinner der Fields-Medaille 1998. Zunächst versteht sie nicht viel, was nicht nur an der fremden Sprache liegt. Sie löchert McMullen mit Fragen so oft sie kann – und macht sich dazu ihre Notizen in Farsi.
Mirzakhanis Spezialität ist die algebraische und hyperbolische Geometrie, d.h. die Geometrie von gewölbten Oberflächen. Hier gilt nicht mehr: Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist die Gerade. Denn unter Umständen kann eine gekrümmte Linie (= Geodäte) zwischen den Punkten kürzer sein als die direkte, gerade Linie. Maryam Mirzakhani misst Linien, zählt Kurven – und das auf Gebilden, die aussehen wie Sättel, Kartoffelchips oder Formen, die nur abstrakt vorstellbar sind. Unter anderem untersucht sie geschlossene Kurven auf solchen hyperbolischen Flächen, deren Länge sich auch dann nicht verändert, wenn man sie verformt.
Ihre Dissertation, die sie 2004 einreicht, bezeichnet McMullen als Meisterwerk. Sie arbeitet über Geodäten in hyperbolischen Riemannschen Flächen – also von geometrischen Flächen oder Figuren, die in der realen Welt nicht existieren, sondern nur mithilfe von Zahlen beschrieben werden können. „Nebenbei“ findet sie Lösungen zu zwei bestehenden Forschungsfragen, die seit Jahrzehnten ungelöst sind, u.a. eine Formel für die Berechnung des Volumens von Modulräumen, also bestimmten Strukturen innerhalb der Riemannschen Flächen. Ihre Dissertation wird als so herausragend bewertet, dass sie Aufsätze dazu in den drei wichtigsten mathematischen Fachzeitschriften publiziert.
Nach ihrer Promotion forscht Maryam Mirzakhani von 2004 bis 2008 als Stipendiatin am Clay Mathematics Institute in Cambridge/Massachusetts. Gleichzeitig lehrt sie als Juniorprofessorin an der Princeton University in New Jersey. Weiterhin forscht sie an den Zusammenhängen zwischen der Länge der Geodäten, der Anzahl der Löcher und den Modulräumen.
Während ihres Aufenthaltes in Harvard lernt Maryam Mirzakhani ihren späteren Ehemann kennen, den aus Tschechien stammenden Jan Vondrák, damals Student am Massachusetts Institute of Technology. Die Beiden heiraten 2005, als Maryam Mirzakhani bereits in Princeton arbeitet. Ihre gemeinsame Tochter Anahita wird 2011 geboren.
Das Paar zieht 2008 nach Kalifornien, als Maryam Mirzakhani mit nur 31 Jahren eine ordentliche Professur für Mathematik an der Stanford University erhält. Jan Vondrák arbeitet währenddessen als Informatiker beim IBM Almaden Research Center in San José. In Stanford vertieft Mirzakhani ihre Forschungsschwerpunkte, zu denen die hyperbolische und symplektische Geometrie, die Ergodentheorie, Teichmüller-Theorie und andere abstrakte Gebiete gehören, die Uneingeweihten wie exotische Fremdsprachen erscheinen. Das Besondere an Mirzakhanis Arbeitsweise ist, dass sie bei der Suche nach einer Lösung verschiedene mathematische Disziplinen miteinander verknüpft. „Ich habe kein bestimmtes Rezept [neue Beweise zu entwickeln]. Es ist, wie wenn ich mich im Dschungel verlaufen hätte. Ich versuche, alles Wissen, das ich zusammenkratzen kann, mit neuen Tricks zu verbinden, und mit etwas Glück finde ich einen Weg heraus.“ So hochtheoretisch ihr Arbeitsgebiet auch scheinen mag, hat es doch praktische Bedeutung für etliche Bereiche, z.B. die Physik, die Ingenieur- und Materialwissenschaften oder die Kryptographie, die Wissenschaft von der Verschlüsselung von Daten.
Bereits 2006 beginnt die fruchtbare Zusammenarbeit mit Alex Eskin, einem Mathematiker der University of Chicago. Mit ihm zusammen versucht sie herauszufinden, was Physiker(innen) schon seit einem Jahrhundert beschäftigt: die Bewegungsbahn einer Billardkugel auf einem polygonalen Spieltisch. Üblicherweise wird Billard auf einem rechteckigen Tisch gespielt, und gute SpielerInnen können den Weg der Kugel einschließlich des Rückstoßes von der Bande bis zum Ziel vorausberechnen. Welche Bahnen aber zieht eine Billardkugel, wenn der Tisch beliebig geformt ist? Wie oft überschneiden sich dann ihre Wege, inwieweit wird der ganze Tisch abgedeckt? Mirzakhani und Eskin wenden ihre Erkenntnisse über die Struktur der Riemannschen Flächen zur Beschreibung der real möglichen Billardbahnen auf dem Spieltisch an und kommen hier zu wichtigen Erkenntnissen, die sie in einem monumentalen 200-Seiten-Werk festhalten.
In einem weiteren „gigantischen Werk“ – so die einhellige Meinung der FachgutachterInnen – können sie 2012/13 zusammen mit ihrem Kollegen Amir Mohammadi von der University of Texas in Austin verallgemeinernde Aussagen zu Donut-artigen Flächen mit mehr als zwei Löchern treffen, wiederum auf 172 Seiten. Dies ist ganz enorm, verglichen damit, dass mathematische Fachtexte im Allgemeinen deutlich weniger umfangreich sind als natur- oder gar geisteswissenschaftliche.
Zu diesem Zeitpunkt ist Maryam Mirzakhani in Fachkreisen längst eine Berühmtheit und mehrfach prämiert. So wird sie u.a. 2009 von der American Mathematical Society für ihre Dissertation ausgezeichnet, 2013 erhält sie den renommierten Satter Prize und 2014 eine Auszeichnung der Clay Foundation, die ihr bereits das Forschungsstipendium gewährt hatte. Der Höhepunkt ist jedoch 2014 die Verleihung der Fields-Medaille durch die Internationale Mathematische Union, die einem Nobelpreis in Mathematik gleichkommt. Mit der Fields-Medaille werden seit 1936 alle vier Jahre bis zu vier MathematikerInnen unter 40 Jahre für herausragende Forschungsergebnisse ausgezeichnet, wobei es sich in der Praxis bei den Ausgezeichneten bisher um 55 Herren und eben Maryam Mirzakhani handelt.
Bei der Preisverleihung während des Congress of International Mathematicians in Seoul durch die koreanische Staatspräsidentin Park Geun-hye erhält Maryam Mirzakhani unter den vier Prämierten den größten Applaus. Unter den Glückwünschen aus aller Welt erreichen sie auch die aus ihrer alten Heimat, dem Iran. Dort wird sie als Heldin gefeiert, obwohl sie ihr Heimatland 1999 verlassen hat. Selbst Staatspräsident Hassan Rohani gratuliert – und löst eine Kopftuchdebatte aus, denn mit seinem Glückwunsch-Tweet veröffentlicht er zwei Bilder der Gewinnerin: eines mit Kopftuch und eines mit Kurzhaarfrisur. Sie selbst trägt schon lange kein Kopftuch mehr. Dies nehmen einige VerfechterInnen strenger Kleidungsvorschriften zum Anlass, ihr mit Verhaftung zu drohen, sobald sie iranischen Boden betreten sollte.
Maryam Mirzakhani steht ungern im Rampenlicht und äußert sich kaum zu Fragen, die nichts mit Mathematik zu tun haben. So kommentiert sie weder die iranische Politik oder die US-amerikanische Einwanderungspolitik noch die Tatsache, dass Frauen in der obersten Etage der Mathematik unterrepräsentiert sind. Immerhin betrachtet sie die Verleihung der Fields-Medaille als Ansporn für Frauen und Mädchen, aber „das braucht Zeit. Ich bin mir sicher, dass immer mehr Frauen bis an die Spitze kommen.“
Sie hat sich selbst stets als „langsam“ bezeichnet und ihre Arbeit „wie eine lange Wanderung ohne Pfad und ohne Ziel“ und man könne schon verzagen, wenn so eine Tour mehrere Jahre dauere – aber gründlich und zäh wären wohl die passenderen Attribute. Mit Beharrlichkeit und Konzentration widmet sie sich ihren mathematischen Herausforderungen. Während Andere wild drauflos rechnen, versucht sie, ein Problem in seiner ganzen Tiefe zu verstehen und von verschiedenen Seiten zu betrachten. Dabei helfen ihr riesige Bögen Papier, die sie zu Hause auf dem Fußboden ausbreitet und mit Linien, Kurven, Formeln und Fragen bedeckt. Mit diesen „Kunstwerken in Kuli“ versucht sie zu visualisieren, was so unanschaulich und schwer begreiflich ist. Das scheint auch Anahita zu beeindrucken, denn danach gefragt, was ihre Mama so mache, antwortet sie: „Malen“.
Zu jenem Zeitpunkt, als Maryam Mirzakhani die Fields-Medaille gewinnt, leidet sie bereits an Brustkrebs, und es ist unsicher, ob sie zur Preisverleihung ihre Therapie unterbrechen und nach Seoul reisen kann. Doch Ingrid Daubechies, Präsidentin der Internationalen Mathematischen Union, organisiert fünf weitere Frauen, die eine Art Schutzschild um Mirzakhani bilden, um sie vor allzu hartnäckigen PressevertreterInnen abzuschirmen. So wird es ihr ermöglicht, ihren Triumph doch ein wenig auszukosten. Noch bevor die Feierlichkeiten beendet sind, ist sie schon wieder abgereist.
Die Therapie bleibt ergebnislos; der Krebs streut in Leber und Knochenmark. Maryam Mirzakhani stirbt 2017 im Alter von nur 40 Jahren im Stanford Hospital.
Verfasserin: Christine Schmidt
Zitate
Je mehr Zeit ich auf Mathematik verwende, desto begeisterter werde ich.
Ich lasse mich nicht so schnell entmutigen.
Man muss etliche Kraft und Mühe darauf verwenden, um die Schönheit der Mathematik zu sehen.
Ich mag es, die von irgendwem erdachten Grenzen zwischen einzelnen Fachdisziplinen zu überschreiten – es ist so erfrischend. Es gibt so viele Werkzeuge, und du weißt nicht, welches funktionieren könnte. Da heißt es, optimistisch zu sein und zu versuchen, Dinge miteinander zu verbinden.
Maryam ist viel zu früh gegangen. Aber ihr Einfluss wird für Tausende Frauen bestehen bleiben, die sie inspiriert hat, sich der Mathematik und den Naturwissenschaften zu widmen. (Marc Tessier-Lavigne, Präsident Stanford University)
Sie war nicht nur eine brillante und furchtlose Forscherin, sie war ebenso eine großartige Lehrerin und hervorragende DoktorInnenmutter. Maryam verkörperte, was eine Mathematikerin oder Naturwissenschaftlerin ausmacht: das Bestreben ein Problem zu lösen, das noch ungelöst ist, oder zu verstehen, was noch unverstanden ist. Dies wird angetrieben durch eine tiefe intellektuelle Neugier, und jeder kleine Erfolg ist von großer Freude und tiefer Befriedigung begleitet. Maryam gehörte zu den großen Intellektuellen unserer Zeit und war ein wunderbarer Mensch. (Ralph L. Cohen, Professor für Mathematik, Stanford University)
Links
http://www.munzinger.de/document/00000030185
https://www.quantamagazine.org/maryam-mirzakhani-is-first-woman-fields-medalist-20140812/
http://www.math.harvard.edu/~ctm/papers/home/text/papers/icm14/icm14.pdf
https://search.proquest.com/docview/305191605
http://annals.math.princeton.edu/wp-content/uploads/annals-v168-n1-p03.pdf
https://www.math.stonybrook.edu/~mlyubich/Archive/Geometry/Teichmuller%20Space/Mirz3.pdf
http://www.mathunion.org/fileadmin/IMU/Prizes/2014/news_release_mirzakhani.pdf
http://www.zeit.de/wissen/2017-07/maryam-mirzakhani-mathematikerin-fields-medaille-tod
https://www.nature.com/nature/journal/v549/n7670/full/549032a.html
http://www.newyorker.com/tech/elements/maryam-mirzakhanis-pioneering-mathematical-legacy
https://www.theguardian.com/science/2017/jul/19/maryam-mirzakhani-obituary
https://www.youtube.com/watch?v=swLWqlKMl5M
https://www.youtube.com/watch?v=mYB6PBl5nW0
https://www.youtube.com/watch?v=IHJkeJMKCGw
https://www.youtube.com/watch?v=Q-H0jEsJUWk
Literatur & Quellen
Behrens, Christoph: Früh gegangen – Iranische Mathematikerin ist tot. In: Süddeutsche Zeitung v. 17.07.2017, S. 16
Ignotofsky, Rachel: Maryam Mirzakhani (1977 – ). In: Women in Science. 50 Fearless Pioneers Who Changed the World. Berkeley 2016, S. 113 (Ten Speed Press)
Weiß, Marlene: Maryam Mirzakhani – Erste Frau, die den wichtigsten Mathematik-Preis der Welt erhält. In: Süddeutsche Zeitung v. 14.08.2014, S. 4
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