Fembio Specials Künstlerinnen - Eine Ausstellung von Almut Nitzsche Mary Ann Willson
Fembio Special: Künstlerinnen - Eine Ausstellung von Almut Nitzsche
Mary Ann Willson
geboren zwischen 1770 und 1780
gestorben Mitte des 19. Jahrhunderts
lebte zeitweise in Greenville, Green County, New York, USA
US-amerikanische Malerin (bekannte aktive Zeit 1810–1825)
Biografie • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Nicht viel ist von der Malerin Mary Ann Willson überliefert, aber mit völlig leeren Händen stehen wir nicht da. Sie und ihre Werke waren gänzlich unbekannt, bis ein Student 1943, als das Interesse an naiver Kunst in Amerika wiederauflebte, in der Harry-Stone-Gallery in New York ein verstaubtes Portfolio mit 22 Bildern von Mary Ann Willson entdeckte – ihr gesamtes überlebendes Werk. Der Student hatte damit die Malerin aus einem 100jährigen Dornröschenschlaf geweckt! Inzwischen ist Mary Ann Willson als eine der frühesten amerikanischen Aquarellmalerinnen und Volkskünstlerinnen bekannt und hat ihren Platz in der Kunstgeschichte der USA gefunden.
22 Bilder, zwei Briefe, eine Buchnotiz -
der spärliche Nachklang des Lebens und Wirkens von Mary Ann Willson
Die beiden Briefe stammen von einem anonymen Bewunderer der Kunst Mary Ann Willsons; einer der Briefe war dem Portfolio beigefügt. Er erzählt uns, dass Willsons Aquarelle sowohl in Konzeption, Zeichnung und Farbgebung als auch in der Wahl der Mittel große Originalität zeigen. Die meisten Bilder sind auf Einwickelpapier von Kerzen, Teedosen und dergleichen gemalt. Auch die Farben selbst zeugen nicht nur von Originalität, sondern auch von Armut und Einfallsreichtum: aus gestampften oder gekochten Beeren und Kräutern stellte Mary Ann Willson die Farben, die sie brauchte, selbst her, manchmal mischte sie Ziegelstaub oder Ofenasche hinein, um ihre „eleganten Designs“ zu kreieren, so der anonyme Schreiber. Der Begleitbrief stammt von 1850, und wir erfahren daraus etwas vom Lebensweg Mary Ann Willsons. Demnach hat sie in Begleitung ihrer Freundin „Miss Brundage“ (ihr Vorname ist nicht überliefert, evtl. hieß sie Florence) in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts ihre Heimat im Osten der USA verlassen, sich in Greenville im Green County N.Y., eine damals ländliche Gemeinde hart arbeitender SiedlerInnen, Land gekauft und mit ihrer Freundin in der Red Mill Road (die bis heute existiert) ein Blockhaus bewohnt. Miss Brundage kultivierte mit Hilfe der NachbarInnen das Land und revanchierte sich mit Pflügen der nachbarlichen Äcker. Sie nahm die Rolle der Landwirtin an, baute an, pflanzte, sammelte und erntete, während Mary Ann Willson Bilder malte, die sie an BäuerInnen, HändlerInnen und Reisende verkaufte – das teuerste Stück für 25 Cent.
Der anonyme Schreiber nannte das Paar „meine Freundinnen“, die er oft besucht habe und über die er nun, viele Jahre später, schreibe. Im Brief merkt er an, die Freundinnen hätten damit geprahlt, dass die Bilder einzigartige Kunstwerke seien, die ihren Weg von Kanada bis Mobile am Golf von Mexiko gefunden hätten. Das spricht nicht nur eine klare Sprache vom Selbstbewusstsein der Frauen, sondern auch vom voluminösen Umfang von Willsons Werk. Den Brief beendet der wohlwollende Bewunderer mit der Bitte an die LeserInnen, alle Unvollkommenheiten der beiden zu begraben und sowohl die Gräber als auch die beiden Frauen selbst vor weiterer freundlicher Kritik zu beschützen (...to let all imperfections be buried in their graves and shield these and them from other kindly criticism). Mit Unvollkommenheiten meint er vermutlich den Stolz der beiden auf die leuchtenden, laienhaft gemalten Bilder – wobei anzumerken ist, dass der Stolz nicht zu überheblich gewesen sein kann, sonst hätten die Frauen andere Preise für ihre Kunst verlangt. Erstaunlicherweise gibt es keinerlei kritische oder abfällige Bemerkung über die Liebe zwischen den Frauen – oder war die Möglichkeit einer sexuellen Beziehung der beiden im damals puritanischen New England gar nicht vorstellbar? Der Brief berichtet weiter, dass die Frauen bis zum Tod von Miss Brundage in Greenville lebten und Mary Ann Willson kurz danach, untröstlich über den Verlust ihrer Freundin, die Gegend mit unbekanntem Ziel verlassen habe. Das letzte ihrer bekannten Werke datiert auf das Jahr 1825; seitdem gibt es keine Spur von ihr.
Die dritte und letzte Quelle bildet ein Absatz in Lionel De Lissers Buch The Pictoresque Catskills, das er als Historiker des Green County 1864 herausgab (vorliegend in der letzten Ausgabe von 1971, s. Anhang). Es enthält einige, wenn auch sehr spärliche Informationen über die beiden Frauen. De Lissers Erzählung deckt sich größtenteils mit dem Inhalt der o.g. Briefe – sowohl er als auch Mabel Parker Smith, eine Historikerin des Green County, halten Theodore L. Prevost für den Bewunderer. Die wohlhabende Familie Prevost war Ende des 18. Jahrhunderts nach Greenville gekommen und hatte sich bald durch großzügige Fördermittel für den Aufbau der Stadt einen Namen gemacht. Theodore Prevost habe die beiden Frauen in den 1830er Jahren „entdeckt“ und schreibt, dass die beiden zu diesem Zeitpunkt in ihren „Fünfzigern“ waren. Auch De Lisser berichtet, dass Willson und Brundage etwa 1810 Connecticut verlassen hätten, um sich in Greenville niederzulassen. Sie betrieben Landwirtschaft, pflegten ihren üppig blühenden Garten und stellten Farben für Mary Ann Willsons Bilder her – bis zum Tod von Brundage. De Lisser erwähnt ebenfalls, wie untröstlich Mary Ann Willson damals gewesen sei und dass sie bald ihre Farm verlassen habe. Auch ihm sei unbekannt, was aus ihr geworden sei.
Gänzlich anders als unser Bewunderer aber deutet De Lisser die Beziehung zwischen Willson und Brundage: Beide Frauen hätten in ihren jüngeren Tagen Romanzen erlebt (dabei setzte er Männer voraus), die ihre Herzen gebrochen hätten. Der Kummer darüber habe die zwei in weiblicher Freundschaft eng zusammen geführt, um im Green County Frieden und Vergessen zu finden. Obwohl vermutet worden wäre, dass sie Schwestern seien, hätten auf keinen Fall die Bande des Blutes die beiden verbunden. Allerdings gesteht er ein, dass weder Mary Ann Willson noch ihre Freundin jemals Auskunft über sich und ihre Vergangenheit gegeben hätten.
1944, ein Jahr nach dem Fund des Portfolios, gab es in der Harry-Stone-Gallery eine Ausstellung von „American Primitive“-Gemälden, dabei 20 Aquarelle von Mary Ann Willson. „Reine Farbe und Design“ lobte die Kuratorin Jean Lipman die Bilder und ergänzt, Willson sei mit einer großartigen Phantasie, einem kühnen Geschmack für Primärfarben, geometrischem Design sowie einem ungehemmten künstlerischen Mut ausgestattet gewesen, der zu einem Stil führte, der dem der modernen abstrakten Kunst nahe käme. Die Vielfalt der Motive – Landschaften, Stillleben, Porträts, Erzählszenen, biblische und mythologische Themen – seien Hinweise für die Bandbreite ihrer Kunst.
Sowohl der Historiker J. N. Katz als auch der Kommentator einer Ausstellung in Cooperstown widmen dem Bild der Meerjungfrau besondere Aufmerksamkeit. Katz konzentriert sich besonders auf Willsons Frauenbilder und deren frischen und spontanen Stil. Wenn Kreise weibliche sexuelle Symbole sind, meint er, dann sei der untere Teil des Torsos der Meerjungfrau definitiv weiblich und sexuell konnotiert. Er fragt sich, ob Willsons Meerjungfrau, üblicherweise die Verführung der Männer repräsentierend, von ihrer Freundin inspiriert sein könnte – denn kein Mann sei in Sicht. Auch ein Ausstellungslabel widmet sich besonders dem Bild der Meerjungfrau und macht auf die Ähnlichkeit des Motivs mit dem Logo einer Londoner Handelsfirma aus dem 18. Jahrhundert aufmerksam. Aber anders als hier schwingt die Meerjungfrau nicht Spiegel und Kamm, sondern Pfeil und Bogen. So scheine Willson ihre Meerjungfrau mit den Attributen der Amazonen zu kombinieren.
Mit diesen spärlichen Informationen erschöpft sich unser Wissen um Mary Ann Willson: ein paar Bilder, ein paar Kommentare, nicht einmal eine Handvoll Fakten - nur Erzählsplitter, die an uns weitergereicht worden sind, nicht mehr. Nichts, um eine seriöse Biografie zu entwerfen, zu unscharf für ein ehrliches Porträt…
Und dennoch … Glauben wir denn einer „ausführlichen“ Biografie, schnurgerade gefüllt mit Daten, Taten, Zahlen? Kann sie denn mehr sein als der schemenhafte Versuch, einem Menschen in seiner/ihrer Einzigartigkeit nachzuspüren? Verführt das quantitative Mehr nicht schon zu einem Be“greifen“, zu einer Bemächtigung? Das wäre eine fatale Hybris – wo doch die beschriebene Person sich nicht einmal selbst ihres Lebens sicher sein kann/konnte? – und käme der Verwahrlosung des biografischen Genres gleich, einer engen und engstirnigen Auffassung von Biografie. Bleibt nicht die von Max Frisch geforderte, biblisch anmutende Maxime „Du sollst dir kein Bildnis machen“ besonders für Biografien gültig? Sie würde vor arroganten Statements wie „so war dieser Mensch“ schützen und stattdessen ein demütiges „so könnte er/sie/es gewesen sein – vielleicht“ ... fördern. Bescheidene und bodenständige Enthaltsamkeit gegenüber Wahrheitsansprüchen und Einverleibungsversuchungen würde angesagt bleiben, weitwinkliges Schauen käme der sogenannten Wahrheit weiterhin am nächsten.
So entsteht das Paradox: die Unbeschreibbarkeit der Mary Ann Willson aufgrund mangelhafter Datenlage lehrt uns die Unbeschreiblichkeit und Würde jeder aufrichtigen Biografie. Immer nur kann es um aufleuchtende Details eines Lebens gehen, die wir aufgreifen, damit ein Mensch nicht im Vergessen versinkt – mit den Worten Ilse Aichingers gesprochen:
Solange wir wissen, dass wir unerkundbar sind, ist Liebe.
Darüber hinaus zählt in unserem Zusammenhang, d. h. für Geschichte und Selbstvergewisserung der Frau, jeder Erinnerungssplitter an mutige, kluge und kreative Frauen und ist es wert, aufgeschrieben und erinnert zu werden – unabhängig davon, wie umfassend die „harte“ Datenlage ist:
Es geht nicht darum, wie wir aussehen oder wie wir uns fühlen, wenn wir durch die Straßen gehen, es geht vielmehr darum, was Frauen zu sagen haben. Je mehr starke weibliche Stimmen wir haben und je mehr Beispiele von großen Frauen in der Geschichte wir haben, desto mehr werden wir uns als Gemeinschaft („community“) beflügeln, uns gegenseitig unterstützen und ermutigen und inspirieren. Und genau das ist es, was in dieser Zeit wichtiger ist als jemals zuvor.
(Kate Winslet, Schauspielerin, in einem Interview zum Film „Ammonite“ 2021 ).
Verfasserin: Christa Matenaar
Links
Mary Ann Willson at American Art Gallery. Mit Links zu den Quellen der Werke (2022).
Online verfügbar unter http://americanartgallery.org/artist/home/id/579, zuletzt geprüft am 16.08.2022.
Artcyclopedia (2022): Mary Ann Willson Online.
Online verfügbar unter http://www.artcyclopedia.com/artists/willson_mary_ann.html, zuletzt geprüft am 16.08.2022.
Museum of Fine Arts, Boston (2022): Artist/Maker: Mary Ann Willson.
Online verfügbar unter https://collections.mfa.org/advancedsearch/Objects/peopleSearch%3AMary%20Ann%20Willson, zuletzt geprüft am 16.08.2022.
Literatur & Quellen
Quellen
Kartz, Jonathan Ned: Interview mit Alma Routsong, N.Y.C. 1975 (Auszüge).
Lipman, Jean und Winchester, Alice (Hg.) (1950): Primitive painters in America,1750-1950. An anthology. New York. Dodd Mead.
(Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Lisser, R. Lionel de (1971 (Reprint von 1894)): Picturesque Catskill. Greene County. S. 106 ff., S 134, S. 136 (s. Anhang). Cornwallville, N.Y.
(Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Populärliteratur
Mary Ann Willson und ihre Beziehung zu Brundage wurden zur Vorlage für Alma Routsongs (Pseudonym Isabel Miller) Roman „A Place for Us“ von 1969, 1971 neu veröffentlicht unter dem Titel „Patience und Sarah“ veröffentlicht sowie für die gleichnamige Oper von Paula M. Kimper aus dem Jahr 1998.
Miller, Isabel (2004): Patience & Sarah. Der Klassiker mit Fortsetzung ; [Roman]. (=Patience & Sarah). 2. Aufl. Berlin. Orlanda. ISBN 9783936937251.
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