Fembio Specials Exilantinnen (1933-1945) Martel Schwichtenberg
Fembio Special: Exilantinnen (1933-1945)
Martel Schwichtenberg
(Justine Adele Martha Schwichtenberg [eigentlicher Name])
geboren am 5. Juni 1896 in Hannover
gestorben am 31. Juli 1945 in Sulzburg (Baden)
deutsche Designerin und Malerin
130. Geburtstag am 5. Juni 2021
Biografie • Weblinks • Literatur & Quellen • Bildquellen
Biografie
Jede/r von uns hat schon einmal einen von Martel Schwichtenberg (mit)gestalteten Gegenstand in der Hand gehalten – eine Leibnizkeks-Packung oder sonst ein Produkt aus dem Hause Bahlsen. Fast 30 Jahre lang arbeitete Schwichtenberg zunächst als festangestellte künstlerische Leiterin, später als freiberufliche Grafikerin für den Hannoveraner Gebäckhersteller. Und noch über 50 Jahre nach ihrem Tod werden einzelne der von ihr geschaffenen grafischen Elemente verwendet – allen voran das aus dem Namenszug des Firmengründers entwickelte Bahlsen-Logo.
Der kunstsinnige und gegenüber der Moderne sehr aufgeschlossene Hermann Bahlsen hatte die junge Malerin 1917 das erste Mal mit grafischen Arbeiten betraut, und Schwichtenberg gelang es in den folgenden Jahrzehnten, den Produkten und Werbeauftritten der Firma ein immer wieder neu gestaltetes, von den jeweiligen künstlerischen Strömungen inspiriertes Erscheinungsbild zu schaffen – eines der ersten Beispiele von Corporate Design in dieser Frühzeit der Reklamekunst.
Dieser Tätigkeit, d.h. den Spuren, die Schwichtenberg in der Werksgeschichte und den Archiven der Firma hinterließ, ist es zu verdanken, dass sie nicht gänzlich in Vergessenheit geriet (zu ihrem 100. Geburtstag zeigte das inzwischen aufgelöste Bahlsen-Museum in Hannover einen Überblick über ihr werbegraphisches Œuvre), denn als Malerin, zeitweilig sogar sehr erfolgreiche, ist sie wie viele begabte Künstlerinnen ihrer Generation bis heute – ganz zu Unrecht – nicht wiederentdeckt worden.
Justine Adele Martha Schwichtenberg hatte dank der Unterstützung ihrer Mutter, die sie als Apothekerin allein aufzog, in Hannover das Gymnasium besuchen können, war dann aber noch vor dem Abitur nach Düsseldorf gezogen, wo sie zunächst eine private Kunstschule, dann die Kunstgewerbeschule besuchte. Mit 20 ging sie nach Hagen – damals eine Provinzmetropole für moderne Kunst – , stellte im dortigen Folkwang-Museum aus, begegnete u.a. Christian Rohlfs, einem der führenden deutschen Expressionisten, und der Bildhauerin Milly Steger, deren überlebensgroße Frauenakte für die Fassade des Hagener Stadttheaters ein ebensolcher Skandal waren wie ihr öffentliches Auftreten mit Kurzhaarschnitt und Herrenanzügen – letzteres bald begeistert imitiert von der jungen Malerin.
Im nächsten Jahr war Schwichtenberg wieder in Hannover, arbeitete an den ersten Plakat- und Verpackungsentwürfen für die Bahlsen-Werke, schuf große Glasfenster und expressionistisch-dynamische, stark farbige Wandgemälde für den Musterladen und das Treppenhaus im neuen, vom Jugendstil geprägten Fabrikgebäude. Daneben arbeitete sie mit dem Worpsweder Bildhauer Bernhard Hoetger an Hermann Bahlsens großem, visionären (und niemals realisierten) Projekt: der TET-Stadt – einem künstlerisch durchkomponierten kompletten Stadtteil mit Fabrikkomplex, Verwaltungsgebäude, Beschäftigtenwohnungen, Kultureinrichtungen.
Dann begann Schwichtenbergs große Zeit in Berlin. Finanziell einigermaßen abgesichert durch einen Festvertrag mit Bahlsen, richtete sie sich 1920 in Berlin-Charlottenburg ein eigenes Atelier ein, trat dem Werkbund und der revolutionären Novembergruppe bei, durchtanzte die Nächte auf Künstlerfesten, gab sich selbst den Vornamen Martel nach einer bekannten französischen Cognacmarke, heiratete den Malerkollegen Robert W. Huth, von dem sie sich aber nach drei Jahren wieder scheiden ließ. Mehrere Sommer verbrachte sie in Pommern, wo sie das harte Leben der Bäuerinnen und Fischer in kraftvollen Radierungen und Holzschnitten festhielt, Arbeiten, die in ihrer einfachen Wucht an Paula Becker-Modersohn erinnerten und 1923 als grafische Mappe von der Hannoveraner Kestner-Gesellschaft herausgebracht wurden.
Andere Reiseeindrücke, z.B. von einer Fahrt nach Italien in Begleitung von Wilhelm und Caecilie Valentiner, verarbeitete sie in lichter und flächiger werdenden Gemälden, bis sie dann Ende der 1920er Jahre mit einer Serie von leuchtenden Blumen- und Früchtestilleben und zahlreichen, im Stil der Neuen Sachlichkeit gemalten Porträts ihrer FreundInnen aus der Berliner Kunstszene (darunter Tilla Durieux, Herwarth Walden, Valentiner, Barlach, Alfred Flechtheim) ihre größten Erfolge beim Publikum hatte. 1929 nahm sie an der vom Berliner Verein der Künstlerinnen organisierten Ausstellung Die Frau von heute teil, im selben Jahr zeigte sie ihre Arbeiten in New York und in den Folgejahren in den großen Berliner Galerien, u.a. bei Flechtheim am Lützowufer.
Ob es politische Weitsicht oder einfach Abenteuerlust war, ist ungeklärt: Ende 1932 verkaufte Schwichtenberg ihr Häuschen am Berliner Grunewald, stellte einen Ausreiseantrag und reiste Anfang 1933 nach Südafrika, wo sie sich – offensichtlich ohne große Mühe – eine neue Existenz aufbaute. Trotz der geografischen Entfernung arbeitete sie weiterhin auf Honorarbasis für die Bahlsenwerke, bekam einen großen Auftrag für Wandgemälde im Haus des Rundfunks in Johannesburg und hielt ihre Impressionen in Hunderten von Aquarellen fest.
Sechs Jahre später endete der afrikanische Traum auf tragische Weise: Ein Brand verwüstete Schwichtenbergs Wohnhaus und Atelier mitsamt etwa 400 dort gelagerten Arbeiten, und bei einem privaten Besuch in München wurde sie vom Kriegsausbruch überrascht, so dass eine erneute Ausreise nicht mehr möglich war. Die Malerin verkroch sich in Süddeutschland, lebte zeitweilig in einem Sanatorium in Glotterbad, kämpfte mit ihren Depressionen und ihrer Alkoholsucht, erkrankte schließlich an Krebs und starb, kurz nach Ende des Krieges, ziemlich elend und einsam, gerade 49 Jahre alt. In ihrem letzten Lebensjahr hatte sie noch einmal zu ihrer künstlerischen Ausdruckskraft zurückgefunden: »ganz großer Durchbruch (…). Landschaften und Blumenbilder. Neues Druckverfahren« hielt sie in ihrem Tagebuch fest.
Seit 2006 erinnert die Martel-Schwichtenberg-Straße im Stadtteil Seelhorst an diese beeindruckende Hannoveranerin.
Verfasserin: Andrea Schweers
Links
Google Buchsuche: Martel Schwichtenberg.
Online verfügbar unter http://books.google.de/books?q=martel+schwichtenberg&btnG=Nach+B%C3%BCchern+suchen, zuletzt geprüft am 26.07.2020.
kunstaspekte (2020): Martel Schwichtenberg. Kurzbiografie, Sammlungen, Ausstellungsarchiv.
Online verfügbar unter https://kunstaspekte.art/person/martel-schwichtenberg, zuletzt geprüft am 26.07.2020.
Meyer, Reiner (1999): Die Reklamekunst der Keksfabrik Bahlsen in Hannover von 1889 - 1945. Dissertation. PDF-Datei (11,25 MB). Georg-August-Universität Göttingen. Münster.
Online verfügbar unter https://d-nb.info/961524944/34, zuletzt geprüft am 26.07.2020.
Literatur & Quellen
Quellen (gedruckte Medien)
Bomhoff, Hartmut (1998): Martel Schwichtenberg. In: Jürgs, Britta (Hg.): Wie eine Nilbraut, die man in die Wellen wirft. Portraits expressionistischer Künstlerinnen und Schriftstellerinnen. Grambin, Berlin. Aviva. ISBN 3-932338-04-9. (Suchen bei Amazon | Eurobuch | WorldCat)
Durieux, Tilla (1931): Martel. In: Omnibus. Eine Zeitschrift. Sonderheft: Almanach auf das Jahr 1931. S. 186-189. Berlin. Verlag der Galerie Flechtheim.
Engel, Frauke (1996): Eine Wiederbegegnung. Die Malerin Martel Schwichtenberg (1896-1945) zwischen Kunst und Werbegraphik. In: Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte, Heft 35 (1996). S. 183–208.
Martel Schwichtenberg (1932). Ausstellungskatalog. Galerie Alfred Flechtheim. Berlin. Saladr.
Meyer, Reiner (1999): Die Reklamekunst der Keksfabrik Bahlsen in Hannover von 1889 - 1945. Dissertation. Münster. Georg-August-Universität Göttingen. Fachbereich Historisch-Philologische Wissenschaften. (Suchen bei WorldCat)
Rathke, Christian (1982): Martel Schwichtenberg. In: Weltkunst, Heft 52 (1982). S. 3302–3303.
Quellen (Internet)
Weiterführende Literatur
Bennigsen, Silvia von (1986): Martel Schwichtenberg (1896-1945). Ihr Frühwerk von 1913-1923. Magisterarbeit. Hamburg. Universität. (Suchen bei WorldCat)
Holzschnitt-Bilderbuch und die Dichtung Heidegang (1921). Sonderdruck des Herbstheftes Kündung. Titel und Gedichttafel, in Holz geschnitten von Hugo Meyer. »Gemeinschaft«, Gedicht von Wilhelm Niemeyer. »Heidegang«, Anreime von Wilhelm Niemeyer. Holzschnitte von Charles Crodel, Robert M. Huth, Robert Köpke, Emil Maetzel, Karl Opfermann, Gerhard von Ruckteschell, Martel Schwichtenberg, Wilhelm Tegtmeier, Willi Titze. Hamburg. EinMannWerkstatt (Kündung, 1921, Herbst).
Renée Sintenis, Marie Laurencin, Martel Schwichtenberg, Alexandra Exter (1930). Ausstellungskatalog. Galerie Alfred Flechtheim. Berlin. Die Galerie. (Suchen bei WorldCat)
Schwichtenberg, Martel (1932): Omnibus. Almanach auf das Jahr 1932. Berlin. Verlag der Galerie Flechtheim. (Suchen bei WorldCat)
Bildquellen
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