Fembio Specials Europäische Jüdinnen Maria Lazar
Fembio Special: Europäische Jüdinnen
Maria Lazar
geboren am 22. November 1895 in Wien
gestorben am 30. März 1948 in Stockholm
österreichische Schriftstellerin
Biografie • Literatur & Quellen
Biografie
In den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts war die avantgardistische Stilrichtung des Expressionismus weit über den deutschsprachigen Raum angesagt wie kaum eine andere. Und zwar nicht nur in der Malerei und Bildhauerei, sondern auch in der Musik und nicht zuletzt im neuen Medium Film, das sogar bis zum Ende der 1920er Jahre herausragende Werke des Expressionismus in die Kinos brachte. Auch Lyrik und Prosa brillierten mit etlichen bedeutenden Gedichtbänden, Erzählungen und Romanen dieser Stilrichtung.
Da mag es überraschen, dass Österreich gerade einmal einen einzigen expressionistischen Roman hervorbrachte: Die Vergiftung. Verfasst hat ihn die Wienerin Maria Lazar. Im Zentrum des Romans stehen der „Lebens-, Daseins- und Alltagsüberdruss“ (Löchel 2021, 100) seiner zwanzigjährigen Protagonistin Ruth. Allerdings behandelt Lazars Romandebut auch andere typisch expressionistische Themen wie etwa den Generationenkonflikt. Die zeitgenössischen Reaktionen auf den 1920 erschienen Roman hätten kaum unterschiedlicher ausfallen können. So ekelte sich Thomas Mann vor dem „penetrante[n] Weibsgeruch“ (zitiert nach Wall 2004b, 249), der seiner Meinung nach dem Werk entstieg, während Robert Musil die Autorin für ihren „rücksichtslosen unbefangenen Blick“ (zitiert nach Eibl, 206) rühmte. Nachdem der Roman und seine Autorin nicht zuletzt aufgrund des Literatur und Menschen vernichtenden Naziterrors lange vergessen waren, ist er heute als „kämpferisches Erstlingswerk einer hochbegabten Unzufriedenen“ (Eibl, 205) anerkannt. So wurde er ins Spanische und Dänische übersetzt. Bevor er 1920 erstmals erscheinen konnte, musste er allerdings zunächst einmal fünf Jahre in der Schublade ausharren. Denn Lazar hatte ihn schon 1915 geschrieben. Mit ihren zwanzig Jahren war sie zur Zeit der Niederschrift ebenso alt wie seine Protagonistin.
Lazar war am 22.11.1895 als jüngste Tochter der jüdischen Eheleute Adolf Josef und Theresia Cesarine Lazar (geb. Seligmann) in Wien zur Welt gekommen. Nicht nur sie, auch ihre Schwester Auguste gelangte später als Autorin zu einiger Bekanntheit. Anders als Maria schrieb diese jedoch neben einer Autobiographie vor allem Kinder- und Jugendliteratur.
Die „assimilierte[n], gut integrierte[n] und durchaus wohlhabende[n]“ Eltern, für die ihre „jüdische Herkunft keine Rolle mehr zu spielen schien“, ließen ihre Tochter auf den Namen Maria Franziska taufen „und ihre Ehe nach katholischem Ritus erneuern“ (Sonnleitner 2020, 162). Maria Lazar selbst kehrte dem katholischen Glauben 1923 allerdings den Rücken und trat aus der Kirche aus.
Unterrichtet wurde sie in der nach ihrer Gründerin und Leiterin Eugenie (Genia) Schwarzwald benannten Wiener Schwarzwald-Schule. Es war dies ein doppelter Glücksfall im Leben Lazars. Zum einen erkannte ihre Mentorin Eugenie Schwarzwald die literarische Begabung ihrer Schülerin, die schon als Gymnastin erste Gedichte schrieb. Zum anderen lernte sie dort ihre Mitschülerin und lebenslange Freundin Helene Weigel sowie die dänische Lehrerin und Autorin Karin Michaelis kennen, die später bekannte, dass ihre Schülerin mit ihren vierzehn Jahren „erwachsener war als ich mit vierzig“ (zitiert nach Sonnleitner 2020, 164). Auch sie wurden trotz des Altersunterschiedes von 23 Jahren Freundinnen.
Im Jahr 1923 heirate Lazar den schwedischen Journalisten Friedrich Strindberg, bei dem es sich um einen Sohn Frank Wedekinds und Frieda Uhls handelt, die zur Zeit der Geburt Friedrichs noch mit August Strindberg verheiratet war. Ein Jahr nach ihrer Hochzeit gebar Lazar die gemeinsame Tochter Judith. Die Ehe wurde zwar schon 1927 wieder geschieden, doch konnte Lazar die mit ihr gewonnene schwedische Staatsbürgerschaft beibehalten.
Nach ihrer Zeit als Schülerin war Lazar selbst vorübergehend als Lehrerin an einer von Eugenie Schwarzwald geführten Schule in Wien und „am Harthof, einem der Schwarzwaldschule zugehörenden Landerziehungsheim am Semmering“ (Blumesberg 1930) tätig, wo sie Deutsch und Mathematik unterrichtete. Es war dies auch die Zeit, in der sie ihr Erstlingswerk verfasste.
Außerdem arbeitete sie bald auch als Journalistin. So schrieb sie von 1922 bis zur Machtergreifung der Nazis 1933 für die damals namhafte linksliberale Tageszeitung Der Tag. Gelegentlich veröffentlichte sie zudem in der Arbeiter-Zeitung sowie in der einen oder anderen Zeitung ähnlicher politischer Ausrichtung. Zwar errang sie so einige Anerkennung als „exzellente[] und scharfsichtige[] Journalistin“ (Sonnleitner 2020, 167), ihre laufenden Kosten konnte sie jedoch von den mageren Honoraren kaum bestreiten. Deshalb war sie auf einen zusätzlichen Verdienst als Übersetzerin (aus dem Dänischen) angewiesen. Die zeitliche Auslastung durch diese Tätigkeiten dürften wohl ein Grund dafür gewesen sein, dass sie ihr an der Universität Wien begonnenes Studium der Philosophie und Geschichte bald wieder aufgab. Vor allem aber wollte sie wohl mehr Zeit für ihre literarischen Ambitionen haben.
Allerdings war ihren Romanen fürs erste wenig Erfolg beschieden. Zwar wurde ihr expressionistischer Einakter Der Henker 1921 an der Neuen Wiener Bühne aufgeführt, die Manuskripte ihrer Romane Viermal ICH, Protokolle, Mystifikationen und Leben verboten! bot sie jedoch vergeblich verschiedenen Verlagen in Österreich und der Schweiz an. Daher griff die als Übersetzerin geschätzte Autorin zu einer gewitzten List und bot ihren nächsten Roman Veritas verhext die Stadt einem Verlag als Werk der von ihr erfundenen dänischen Autorin Esther Grenen an. Sich selbst gab sie als Übersetzerin des Romans aus. Prompt wurde der Text angenommen. Zwar wurde er nicht als Buch veröffentlicht, aber doch als Fortsetzungsgeschichte in verschiedenen Zeitschriften abgedruckt. Das einmal angenommene Pseudonym sollte Lazar zeitlebens für ihre späteren Werke beibehalten, auch nachdem es längst gelüftet worden war.
Waren ihre Anfang der 1920er Jahre entstandenen Werke eindeutig expressionistisch geprägt, so ging Lazar insofern mit der Zeit, als ihre späteren Romane Der Fall Rist. Protokolle, Dokumente, Zeitungsausschnitte, herausgegeben von Esther Grenen Züge der Neuen Sachlichkeit aufweisen. Doch werden ihre Werke stets zugleich von einem eigenen Ton getragen, den sie in ihrem Roman Viermal ICH zur vollen Blüte entwickelt. Nicht nur deshalb wirkt er noch heute außerordentlich modern. Auch trat Lazar nicht nur als Romanautorin hervor, sondern ebenso als Dramatikerin. So schrieb sie neben dem bereits erwähnten Einakter Der Henker etwa auch das „eminent politische Schauspiel“ (Wall 2004b, 250) Der Nebel von Dybern. Es wurde zwar am 10.2.1933 in Stettin erstmals aufgeführt, jedoch von den Nazis sogleich wieder abgesetzt.
Nach dem von den Nazis nur zwei Wochen später inszenierten Reichstagsbrand bat Lazar in einer Vorahnung kommenden Unheils ihre dänische Freundin Michaelis darum, ein Haus auf der dänischen Insel Thurø anzumieten, in das sie mit ihrer Tochter sowie mit dem befreundetem Ehepaar Helene Weigel und Bert Brecht und deren Kindern Unterschlupf vor den Nazis finden wollten. Renate Wall zufolge stellte Michaelis ihnen „zwei ihrer eigenen Häuser zur vorläufig unentgeltlichen Nutzung zur Verfügung“ (Wall 2004b, 250). Lazar, Weigel und Brecht verließen Deutschland gemeinsam mit den Kindern noch im gleichen Jahr. Allerdings besuchte Lazar ihre Schwester Auguste gelegentlich noch bis 1938 in Dresden.
1939 erwies sich Lazar wiederum als vorausschauend und floh aus Dänemark weiter nach Schweden. Gerade noch rechtzeitig, bevor die Nazis im Frühjahr 1940 Dänemark besetzten. Auch in ihrer neuen Heimat veröffentlichte sie regelmäßig journalistische Texte. Es ist gut möglich, dass ihr die Flucht ins Exil das Leben gerettet hat, denn zwei ihrer Schwestern wurden von den Nazis im KZ ermordet.
In das 1945 von den Nazis befreite Österreich oder gar in ihre Heimatstadt Wien zurückzukehren, kam für Lazar nicht infrage. Die Gründe hierfür macht ihr Gedicht Die schöne Stadt deutlich. Der „süße[] Blütenduft“ ihrer einst „wunderschönen großen Vaterstadt“, heißt es dort, habe sich in „Verwesungsluft“ verwandelt, denn sie habe „ihre Toten selbst ermordet“ (zitiert nach Sonnleitner 2020, 180f.).
Ein weiterer Grund, nicht in die alte Heimat zurückzukehren, könnte die unheilbare, qualvolle Krankheit Morbus Cushing sein, an der Lazar seit einiger Zeit so sehr litt, dass sie pflegebedürftig geworden war. Ein Leben, das sie schließlich so nicht länger führen wollte. Daher tötete sie sich durch einen Stromschlag, indem sie am 30. März 1948 „mit dem Föhn in d[ie] Badewanne“ stieg (Eibl, 215). „Dir muß ich nicht erklären, daß ich keine Lust habe, auf Dauer kümmerlich mein Leben zu fristen“, schrieb sie in ihrem Abschiedsbrief an ihre Schwester Auguste, „ich mach jetzt Schluss, weil mir das das einzig Vernünftige scheint“ (zitiert nach Sonnleitner 2020, 181).
Dass ihr Werk heute, ein dreiviertel Jahrhundert nach ihrem Tod, endlich eine „fortschreitende Kanonisierung“ (Eibl, 201) erlebt, ist dem Verlag das vergessene buch zu verdanken, der seit nunmehr fast einem Jahrzehnt sukzessive ihre teils noch immer unveröffentlichten Romane, Kurzgeschichten, Gedichte, Essays und Theaterstücke herausgibt.
(Text von 2023)
(Die Angaben zur Biographie Maria Lazars folgen im Wesentlichen der überaus gut informierten Darstellung von Johann Sonnleitner, der sich durch seine Recherchen zum Leben Lazars mehr als verdient gemacht hat.)
Verfasserin: Rolf Löchel
Literatur & Quellen
Primärliteratur:
Lazar, Maria (1921) Der Henker. Ein Akt. Uraufgeführt in Wien.
Lazar, Maria (1930) Der Fall Rist. Roman. In Fortsetzungen im Vorwärts.
Lazar, Maria (1931) Veritas verhext die Stadt. In Fortsetzungen im Berliner Tagblatt.
Lazar, Maria (1933) Der Nebel von Dybern. Uraufgeführt in Stettin.
Lazar, Maria (1943) Det tyska ansiktet Zitatensammlung. Trots Allt!, Stockholm.
Lazar, Maria (1946) Det kom af sig selv. Roman. P. Branner, Kopenhagen.
Lazar, Maria (2010) Die Schwester der Beate. In: Hartmut Vollmer (Hrsg.): Die rote Perücke. Prosa expressionistischer Dichterinnen. Igel Verlag, Hamburg. S. 97-107.
Lazar, Maria (2020a) Die Eingeborenen von Maria Blut. Mit einem Nachwort herausgegeben von Johann Sonnleitner 2. durchgesehene und aktualisiert Auflage. DVB Verlag, Wien.
Lazar, Maria (2020b) Die Vergiftung. 2. durchgesehene und aktualisiert Auflage. Mit einem Nachwort herausgegeben von Johann Sonnleitner, DVB Verlag, Wien.
Lazar, Maria (2021) Leben Verboten!. 3. durchgesehene und aktualisiert Auflage. Mit einem Nachwort herausgegeben von Johann Sonnleitner, DVB Verlag, Wien. [unter dem Titel No Right to Live, Wishart, London 1934]
Lazar, Maria (2023) Viermal ICH. Ein Roman. Erstmals aus dem Nachlass herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Albert C. Eibl, DVB Verlag, Wien.
Lazar Maria (geplantes Erscheinen 2023) Die unveröffentlichten Theaterstücke. Der blinde Passagier, Die Hölle auf Erden, Die Liebe höret immer auf, Die Weiber von Lynö, DVB Verlag, Wien.
Lazar Maria (geplantes Erscheinen 2023) Zwei Soldaten. Ein Drama. DVB Verlag, Wien.
Lazar Maria (geplantes Erscheinen 2023) Die unveröffentlichten Erzählungen und Gedichte. DVB Verlag, Wien.
Sekundärliteratur:
Blumesberg, Susanne (2016): Lazar Marie. In: Ilse Korotin (Hrsg.) (2016) biographiA. Lexikon österreichischer Frauen. Band 2, I – O. Böhlau Verlag Wien, Köln, Weimar. S. 1930-1931.
Eibl, Albert C. (2023) An meinen unbekannten Leser. Eine Hommage an Maria Lazar (1895-1948). In: Maria Lazar: Viermal Ich. Erstmals aus dem Nachlass herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Alber C. Eibl, DVB Verlag, Wien 2023. S. -216.
Lazar, Auguste (1962) Arabesken. Aufzeichnungen aus bewegter Zeit. Dietz Verlag, Berlin.
Löchel, Rolf (2021) Der einzige expressionistische Roman Österreichs. In: Carl Einstein und die Avantgarde [= Expressionismus Heft 14, hrsg. von Jasmin Grande, Eva Wiegmann und Kristin Eichhorn]. S. 100-102.
Löchel, Rolf (2023) MARIA LAZAR: Viermal ICH. 2023. REZENSION.
Sonnleitner, Johann (2020) Mehr als „eine starke Talentprobe“. Zu Maria Lazars Roman Die Vergiftung. In: Maria Lazar: Die Vergiftung. Mit einem Nachwort herausgegeben von Johann Sonnleitner 2. durchgesehene und aktualisiert Auflage. DVB Verlag, Wien, S. 157-196.
Spreitzer, Brigitte (1999): Die österreichische Moderne der Frauen. Passagen Verlag, Wien. [zu Lazars Roman Die Vergiftung insb. S. 179-185 und zu Lazars Romans Leben verboten! insb. S. 262-277]
Wall, Renate (2004a) Auguste Lazar, in dies.: Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen im Exil 1933-1945 Haland & Wirth /Psychosozial Verlag, Gießen. S. 246-248.
Wall, Renate (2004b) Maria Lazar, in dies.: Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen im Exil 1933-1945 Haland & Wirth /Psychosozial Verlag, Gießen. S. 248-251.
Sollten Sie RechteinhaberIn eines Bildes und mit der Verwendung auf dieser Seite nicht einverstanden sein, setzen Sie sich bitte mit Fembio in Verbindung.