Fembio Specials Frauen aus Wolfsburg Irmgard Richter-Heinrich
Fembio Special: Frauen aus Wolfsburg
Irmgard Richter-Heinrich
Irmgard Richter-Heinrich
geboren am 20. Dezember 1916 in Breslau
eine der ersten drei Hebammen in Wolfsburg
100. Geburtstag am 20. Dezember 2016
Biografie • Literatur & Quellen
Biografie
Es war das Jahr 1942. In diesem Jahr verzeichnete die Statistik in der KdF-Stadt1 bereits 398 Geburten, und es sollten schnell sehr viel mehr werden. Eine Geburtshelferin musste her, denn Dr. Wolf, der ansässige praktische Arzt, konnte mit den zwei Helferinnen die Arbeit nicht mehr bewältigen.
Einstellungen des medizinischen Personals geschahen über einen Medizinalrat in Gifhorn. Irmgard Richter-Heinrich bewarb sich. Schließlich war sie eine gut ausgebildete Fachkraft mit Erfahrung. 1936 hatte sie ihr Examen in Krankenpflege und 1938 in Geburtshilfe abgelegt.
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Irmgard Richter wuchs mit zwei jüngeren Geschwistern auf. 1932 besuchte sie ein Jahr die Frauenfachschule, danach folgte auf Wunsch des Vaters die höhere Handelsschule. Durch eine Freundin beeinflusst, fand sie Interesse an Krankenpflege und wollte Krankenschwester werden. Ihr Vater war strikt dagegen, während ihr die Mutter freie Wahl ließ. Irmgard Richter blieb bei ihrem Plan, durchlief alle Stationen im Krankenhaus und arbeitete ein Jahr lang im Operationssaal, führte auch bei vielen Kaiserschnittgeburten Narkosen durch. In dieser Zeit entstand der Wunsch, Hebamme zu werden.
Ihre erste Anstellung fand sie in der Landesfrauenklinik in Hannover. Kurz darauf übertrug man ihr die Leitung einer privaten Entbindungsklinik in dieser Stadt, in der sie bis 1942 beschäftigt war. Der Bombenalarm in Hannover und die Bereitschaftsdienste zehrten derart an ihren Kräften, dass sie die Arbeit aufgeben und sich nach einer Beschäftigung in einer “ruhigeren” Gegend umsehen musste. Sie hörte, dass die Stadt des KdF-Wagens eine Geburtshelferin suchte. Obwohl noch ziemlich jung, bekam sie vor mehreren anderen Bewerberinnen die Stelle und ließ sich in der KdF-Stadt im Scheffelhof als Geburtshelferin nieder.
Ihr Anfang war, wie bei vielen Neuzugezogenen, abenteuerlich. Frau Richter-Heinrich ging davon aus, als noch Unbekannte in der fremden Stadt ihre Wohnung in Ruhe einrichten zu können. Das war ihr nicht vergönnt. Bereits in der zweiten oder dritten Nacht klingelte es Sturm. Sie öffnete das Fenster. Auf der Strasse stand eine Frau und rief sie zu einer Geburt bei einer Nachbarin. Mit ihrem Geburtsköfferchen kam sie bei der bezeichneten Adresse an. Geschrei eines Kindes im Bettchen. Eine Frau – die Mutter – saß in einem ziemlich kahlen Zimmer auf einem Stuhl, das Neugeborene schon auf den Knien, die Nabelschnur noch nicht durchtrennt. Frau Richter-Heinrich suchte nach sauberer Wäsche, nach Windeln. Es waren keine da. Ein Topf mit schmutzigen Windeln stand auf dem Herd. Von ihrem bisherigen Grundsatz absoluter Sterilität ausgehend, säuberte sie das Zimmer. Sie suchte nach reinen Windeln und fand nur einen leidlich sauberen Unterrock, wickelte den Säugling hinein und legte ihn der Mutter in den Arm. Dann räumte sie auf, wusch und trocknete die Wäsche. Sie war Stunden beschäftigt. In dieser Zeit hätte sie normalerweise mehrere Entbindungen durchführen können. So war das also in dieser Stadt – “ruhig”!
Diese erste ernüchternde Erfahrung holte sie aus den Wolken – sie war aus einer modernen Entbindungsklinik in Hannover gekommen – und stellte sie auf den Boden der Wirklichkeit. Von nun an nahm sie sicherheitshalber eigene Wäsche mit, wenn sie zu einer Geburt gerufen wurde. Der eigene Wäschevorrat und der ihrer Mutter dezimierte sich auf diese Weise auf ein absolutes Minimum. Aber was sollte sie tun? Die Dinge des täglichen Bedarfs gab es nur auf Bezugsschein. Jede/r versuchte ihrer habhaft zu werden. Frauen täuschten Schwangerschaften vor, um in den Besitz von Bezugsscheinen und Zusatzrationen zu kommen. Wenn sie sie auch nicht selbst brauchten, tauschten sie diese gegen andere Mangelwaren ein.
Irmgard Richter leistete Geburtshilfe bei Arm und Reich, am Tage und bei Nacht, bei Bombenangriffen und auf Trecks. Sie ging mit Freude an die Arbeit und staunte über die Vielfalt und die Überraschungen, die das Leben bereithielt. Noch heute spricht sie mit Begeisterung von ihrem Beruf, der “auf jeden Fall für sie der richtige war”. Die Menschen hatten Vertrauen zu ihr; die größte Gastfreundschaft und Herzlichkeit zeigten ihr oft die Ärmsten. Irmgard Richters Hilfsbereitschaft, ihr schnelles und sicheres Arbeiten taten ihre Wirkung; man erinnerte sich ihrer in schlechten Zeiten. So brachten gerade polnische Familien in den kargen Monaten nach 1945 bei ihr das eine oder andere vorbei und sorgten dafür, dass sie und ihre Mutter keinen Hunger litten.
Den Namen “die rasende Hebamme” verdankt sie ihrem Fortbewegungsmittel. Nachdem ihr etliche Fahrräder gestohlen worden waren, kaufte sie sich ein Motorrad, mit dem sie am Tage und nachts knatternd zu den Entbindungen fuhr. 1951 erstand sie ihr erstes Auto, das sich als sehr reparaturbedürftig erweisen sollte. Was hatte sie sich gefreut, als sie die Führerscheinprüfung bestand, bei der drei Männer durchfielen! Das Benzin musste damals übrigens mitgebracht und der Fahrlehrer beköstigt werden…
Irmgard Richter war zweimal verheiratet. Ihr erster Mann blieb im Krieg vermisst. 1960 heiratete sie ein zweites Mal. In Wolfsburg hat sie ein Haus gebaut und hier das gesellige Beisammensein mit Freunden gepflegt. Wenn es in ihrem privaten Leben auch viel Kummer und Trauer gegeben hat, hat sie trotzdem immer wieder Lebensmut bewiesen und an andere Menschen weitergeben können. In den Kriegs- und Nachkriegsjahren in Wolfsburg hat sie ihre gesamte Freizeit geopfert, denn die Geburten erfolgten rund um die Uhr, rissen sie nachts aus dem Schlaf und gelegentlich auch aus einer Geburtstagsrunde.
Ende der sechziger Jahre gab Irmgard Richter “ihr Geschäft” in Wolfsburg auf, weil durch den Pillenknick weniger Hausgeburten anfielen und es sich einfach nicht mehr lohnte.
Heute lebt sie auf ihrem Altersruhesitz in Spanien. Sie reist viel, freut sich aber auch an ihrem Garten, an seltenen Pflanzen und Blumen und immer wieder an dem Zusammensein mit Freunden.
Die Devise ihres Lebens “Stillstand ist Rückgang” gilt für sie bis heute.
Verfasserin: Hannelore Künne
Literatur & Quellen
aus: Frauen in Wolfsburg – Ein Blick in ihre Geschichte, 1998. Hrsg. Stadt Wolfsburg, Frauenbüro. ISBN 3-87327-031-5. Für FemBio bearbeitet von Luise F. Pusch
Das Volkswagenwerk und die zugehörige Stadt mit dem vorläufigen Namen “Stadt des KdF-Wagens” oder kurz “KdF-Stadt” (KdF = “Kraft durch Freude” war der Name einer NS-Freizeit-Organisation unter Robert Ley) wurden 1938 von den Nationalsozialisten gegründet. Sowohl das Werk als auch die Stadt waren geplant als Musterbeispiele für nationalsozialistischen Städtebau und modernste Industrieproduktion. 1945 wurde der holprige Name “KdF-Stadt” in “Wolfsburg” abgeändert, nach dem nahegelegenen Schloss Wolfsburg, das 2002 seinen 700. Geburtstag feiert.
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