Fembio Specials Europäische Jüdinnen Hanna Levy-Deinhard
Fembio Special: Europäische Jüdinnen
Hanna Levy-Deinhard
(Prof. Dr. Hanna Levy, Hanna Deinhard; Pseudonym: Lenard; Geburtsname: Johanna Levy)
geboren am 29. September 1912 in Osnabrück
gestorben am 14. Juli 1984 in Basel
deutsche Kunsthistorikerin/Kunstsoziologin und Hochschullehrerin
40. Todestag am 14. Juli 2024
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
„München wäre ideal, liegt aber leider in Deutschland. Zu Besuch herrlich, aber ich kann in diesem Land nicht leben“ (zit. n. Below/Dogramaci 2016, S. 239), notierte die deutsch-jüdische Kunsthistorikerin Hanna Levy-Deinhard. Damals, mit 65 Jahren, hielt sie Ausschau nach einer neuen Wahlheimat, ihrer fünften, seit sie 1933 vor der NS-Diktatur nach Frankreich flüchtete. Bei Kriegsende war sie kaum 33 Jahre alt. Doch schloss sie – deckungsgleich mit mehr als 95 Prozent aller deutsch-jüdischen Exilierten – eine Remigration ins Land der Shoah weitgehend aus: Die vielbeschworene, vermeintliche „Stunde Null“ existierte bestenfalls in den euphemistischen Reden verdrängungswilliger PolitikerInnen. Ein Großteil der bunderepublikanischen Bevölkerung verharrte in ungebrochen antijüdischen Ressentiments. Und während die Mehrheit der beruflich in das NS-Regime Verwickelten nach 1945 unbeschadet ihre Karriere fortführen durfte, wurden viele RemigrantInnen am beruflichen Wiedereinstieg gehindert; der Berufsstand der KunsthistorikerInnen bildete dabei keine Ausnahme (vgl. Doll et al. 2006).
Dass es Hanna Levy-Deinhard trotzdem glückte, zumal als linkspolitisch denkende Frau in einem methodisch wie politisch androzentrisch-konservativen Genre, sich in Deutschland als „heimliche Pionierin der Kunstsoziologe“ (Kastner in: Below/Dogramaci 2016, S. 91) zu etablieren und dabei nebenher zentrale Ideen der postkolonialen Kunstgeschichtsschreibung vorwegzunehmen, scheint doppelt bemerkenswert. Spurlos ging der zermürbende, teils von erdrückender Armut beherrschte Lebensweg keinesfalls an ihr vorbei: Er habe „nie zuvor eine so zerbrechliche und verzweifelte Person gesehen“, erinnerte sich der Kunsthistoriker Nicos Hadjinicolaou an seine Kollegin (Hadjinicolaou in: Below/Dogramaci 2016, S. 69). Im Alter hätte sie ausgesehen „wie ein verwundeter Spatz. Abgemagert. Knochig. Die Form ihrer Lippen drückte eine unendliche Enttäuschung aus, aber die großen Augen, die dich direkt anschauten, zeigten, dass die Hoffnungslosigkeit und die Verbitterung bewältigt waren.“
„... statt nach Deutschland zurückzufahren“: Paris (1933-37)
Am 30. Januar 1933, an dem Tag, als Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, trat Hanna Levy-Deinhard eine Studienreise nach Paris an. Seit dem Sommersemester des vorigen Jahres war sie an der Münchner Universität immatrikuliert, studierte dort Kunstgeschichte, Germanistik und Philosophie. Das Billet für die Paris-Reise, so Levy-Deinhard, habe sie noch „ganz legal“ (HLD, 1983, zit. n. Below 2016, S. 323) erworben – nur „blieb ich dort, statt nach Deutschland zurückzufahren“. Ihr Freund und späterer Ehemann Fritz Deinhard (1881-1956), ein Spross der gleichnamigen Koblenzer Sektfabrikantenfamilie, war in Osnabrück als Cellist und Konzertmeister beschäftigt, folgte ihr aber rasch an die Seine.
Levy-Deinhard entstammte finanziell solide ausstaffierten Kreisen: Die Familie war Mitinhaberin der großen Osnabrücker Kleider- und Wäschefabrik R. Overmeyer. Schon Mutter Zilla (geb. Stern), ihrerseits hochgebildete Kunstliebhaberin, förderte das augenfällige Interesse ihrer Tochter an Malerei und Plastik von Anbeginn intensiv. Und so setzte Levy-Deinhard auch im Exil, an der Sorbonne, alles daran, ihr Studium trotz neuer Sprache möglichst zügig abzuschließen. 1936, nach nur sechs Semestern, nahm sie ihre Promotionsurkunde entgegen. Die humorvolle, selbstbewusste damals 24-Jährige legte mit der Wahl ihres Dissertationsthemas „Henri Wölfflin. Sa théorie. Ses prédécesseurs“ eine bemerkenswerte Courage an den Tag: Immerhin warf sie Heinrich Wölfflin (1864-1945), einem der damals bekanntesten deutschsprachigen Theoretiker neuzeitlicher Kunsthistoriographie, vor, in seinem Hauptwerk „Kunsthistorische Grundbegriffe“ (1915) einer idealistischen Geschichtskonzeption verfallen zu sein. Wölfflin reagierte wenig gelassen per antisemitisch unterfüttertem Gegenangriff: „Schrecklich, wenn man als alter Mann einer Hanna Lévy in die Hände fällt, die mit dem Scharfsinn eines jüdischen Rechtsanwalts und dem Draufgängertum ihrer Jugend mein Buch zu Tode kritisiert, aber für das Wesentliche kein Sensorium hat“ (zit. n. Dogramaci/Wimmer in: Below/Dogramaci 2016, S. 38).
„...da sich mein hiesiges Dasein immer schwieriger gestaltete“: Brasilien (1937-1948)
Bald nach Abschluss ihrer Dissertation geriet Levy-Deinhard zunehmend in Finanznöte. Max Horkheimer vertraute sie an, ihr „hiesiges Dasein“ gestalte sich „immer schwieriger“ (zit. n. Kern in: Below/Dogramaci 2016, S. 166). Neben ihren Forschungsaktivitäten sei sie gezwungen, einer Bürotätigkeit nachzugehen. Als ihr ersehnter Neubeginn in den USA scheiterte – ihr Visums-Antrag wurde brüsk abgelehnt – gelang ihr mit Hilfe Max Horkheimers und Friedrich Pollocks die Flucht nach Rio de Janeiro. Hier, in der semifaschistischen Diktatur des Antikommunisten und Nationalisten Getúlio Vargas, startete sie, kaum 25 Jahre alt, gemeinsam mit Fritz Deinhard in ihr drittes neues Leben mit einer dritten neuen Sprache. Zahlreiche Geflüchtete empfanden den größten südamerikanischen Staat als „Zwangsheimat“ (Carneiro/Strauss 1996, zit. n. Kern in: Below/Dogramaci 2016, S. 168): Vielerorts war es verboten, Deutsch zu sprechen und verdüsterten Antisemitismen und strikte Reglements den Lebensalltag. Levy-Deinhard zog trotzdem 1938, nach einem Jahr, eine betont positive Bilanz (vgl. Kern in: Below/Dogramaci 2016, S. 168). Beharrlich hatte sie Portugiesisch gelernt und den ersten Lebensunterhalt als Tango-Lehrerin verdient, bis sie Ende 1937 für drei Jahre eine Kunstgeschichts-Professur an der Dienststelle „Serviço do Patrimônio Histórico e Artístico Nacional“ (SPHAN, heute: IPHAN) ergatterte. Die SPHAN war kurz zuvor vom brasilianischen Erziehungsministerium als neue Abteilung installiert worden und widmete sich den nationalen historischen und künstlerischen Kulturgütern des Landes. Levy-Deinhards Aufgabe bestand darin, die dortigen BeamtInnen in Allgemeiner Kunstgeschichte zu unterrichten.
1938 packte Levy-Deinhard erneut die Koffer. Gemeinsam mit Fritz Deinhard und ihren mittlerweile nachgefolgten Eltern zog sie ins klimatisch erträglichere Petropolis. Beruflich aber blieb sie Rio de Janeiro treu: Parallel zu ihren Aktivitäten für die SPHAN bekleidete sie 1938-41 eine Kunstgeschichts-Professur an der Escola Livre do Estudes Superiores. Es folgten Tätigkeiten als Forschungsbeauftragte für die SPHAN mit den Schwerpunkten brasilianischer Kolonialmalerei und Methodenfragen der Kunstgeschichte (1941-47). 1946 übernahm sie eine begleitende Professur für Moderne Kunst und Kunstkritik an der Fundação Getúlio Vargas (FGV, 1946-47). Daneben publizierte sie portugiesischsprachige Texte zur Kunst der Gegenwart in Brasilien.
„Überhaupt funktioniert hier alles ... – nur die Politik funktioniert gar nicht“: New York (1948-1977)
1948 verlagerten Hanna Levy-Deinhard und Fritz Deinhard ein weiteres Mal ihren Lebensmittelpunkt, diesmal nach New York. Um die Chancen auf eine Festanstellung zu steigern, heirateten sie. Denn unmittelbar zuvor wurde Levy-Deinhard – mutmaßlich wegen ihres „Wilde-Ehe-Status“ – ein in Aussicht gestellter Kunstgeschichts-Lehrstuhl an der Universität Chicago kurzfristig abgesagt. Abzüglich eines späteren Intermezzos in Israel (1956/57), wo Levy-Deinhard eine Gastprofessur am Technion Haifa inne hatte, aber wegen des unerwarteten Todes ihres Ehemanns in eine existenzielle Krise stürzte, verbrachte sie nahezu drei Lebensdekaden auf US-amerikanischem Boden. Seit 1954 besaß sie außerdem einen US-amerikanischen Pass. Wohl fühlte sie sich westlich des Atlantiks jedoch zu keiner Zeit. Schon kurz nach der Ankunft, ein Jahr nach Verkündung der sog. „Truman-Doktrin“, der sich „Kalter Krieg“ und „McCarthyismus“ anschlossen, erklärte sie ihrer Freundin und ehemaligen Schülerin, der deutsch-brasilianischen Künstlerin Fayga Ostrower (1920-2001): „Es ist zum Heulen, so viele schöne Dinge gibt es (hier)“ (zit. n. Below/Dogramaci 2016, S. 225). „Überhaupt funktioniert hier alles, was zum täglichen Leben gehört ... – nur die Politik funktioniert gar nicht“.
„... bloss hat das wieder nichts mit money zu tun“: Berufliche und wirtschaftliche (Miss-)Erfolge
Im Herbst 1948 trat Hanna Levy-Deinhard eine Professur an der liberalen New School for Social Research an, einer Enklave deutschsprachiger Emigrierter, unter ihnen die Psychoanalytikerin Karen Horney und die Philosophin Hannah Arendt. Schon in Brasilien hatte sich Levy-Deinhard bei ihren SchülerInnen hoher Beliebtheit erfreut. Und auch in New York sei sie nun, „was man einen ‚success’ nennt“ (zit. n. Below/Dogramaci 2016, S. 228), berichtete sie. Gefragt waren vor allem ihre Museums-Kurse vor Originalen, die nach eigenen Worten rasch von KollegInnen kopiert wurden; überdies wurden ihre für eine Kunstwissenschaftlerin ihrer Generation auffallend frühzeitigen Lehrangebote zur Gegenwartskunst stark frequentiert. Gebremst wurde ihre Euphorie allein durch die dürftige Bezahlung: Der Job habe „wieder nichts mit money zu tun“ (zit. n. Below/Dogramaci 2016, S. 228), gestand sie. Mehr oder minder blieb sie der New School for Social Research dennoch bis 1969 treu – bis sie am New Yorker Queens College, wo sie bereits seit 1965 sporadisch arbeitete, eine Festanstellung bekam. Daneben war sie 1961-65 am Bard College in Annandale-on-Hudson/New York aktiv.
Hanna Levy-Deinhards Karriere wurde in den USA lange Zeit ausgebremst. Alle Anträge auf Forschungsstipendien wurden abgelehnt. Ihre verzweifelten Versuche, Publikationen unterzubringen, schlugen immerzu fehl. Sichtlichen Groll hegte sie gegen US-amerikanische KollegInnen, die sich scheinbar mühelos mit seichten Texten bei den Redaktionen durchsetzten: „von jedem, der etwas auf sich hält, (wird) erwartet, dass er Artikel von sich lässt. Was, spielt keine Rolle, wie, auch nicht. (...) Was auf diese Weise (...) zu lesen angeboten wird, ist aber auch, von wenigen Ausnahmen abgesehen, danach. Schmus, Konfusion und keinerlei Bedeutung“ (1949, zit n. Below/Dogramaci 2016, S. 231). Für eine Professur an exponierter Stelle kam Levy-Deinhard ebenfalls nicht in Betracht: Die an den großen US-amerikanischen Universitäten, insbesondere an den sog. „Ivy League“-Institutionen (den sog. Elite-Universitäten des US-amerikanischen Nordostens) vorherrschende Trias von Misogynie, Antisemitismus und Xenophobie, verschloss deutsch-stämmigen, v.a. jüdischen, Kunsthistorikerinnen unerbittlich die Pforten, während es einigen – obschon nur sehr wenigen – deutsch-stämmigen Kollegen glückte, ebendort Fuß zu fassen (vgl. Michels 1999, S. 64). In der Bundesrepublik hatte Levy-Deinhard mit kaum erfreulicheren Rahmenbedingungen zu rechnen: Die winzige Handvoll remigrierter, vom NS-Regime verfolgter KunsthistorikerInnen sah fassungslos mit an, wie ehemalige NS-KollegInnen mühelos zentrale Positionen erklommen, während ihnen, den einstmals vom Tode Bedrohten, die universitäre Reintegration meist versagt blieb: Ernst Strauss beispielsweise musste sich anhören, für eine Rückkehr an die Münchner Universität nicht in Betracht zu kommen, da er in den letzten Jahren zu wenig deutschsprachige Texte produziert habe (vgl. Doll et al. 2005). Die Ursache seines vermeintlichen wissenschaftlichen „Versagens“, die verfolgungsgebundene Flucht ins nicht-deutschsprachige Ausland, blendeten die EntscheidungsträgerInnen radikal aus.
„Ich bekam inzwischen auch einige sehr enthusiastische Briefe“: Später Lorbeer
Als Levy-Deinhard 1948 die Professur an der New Yorker New School for Social Research antrat, war sie frohen Mutes, die Stelle als Sprungbrett für die ersehnte Wissenschaftskarriere in den USA nutzen zu können. Ihre Hoffnung sollte sich erfüllen, wenngleich mit 20-jähriger Verspätung und ausgerechnet auf dem Umweg über Deutschland: Angesichts der stringenten Ablehnung ihrer Texte seitens der US-Redaktionen konzentrierte sich Levy-Deinhard seit den 1950er Jahren zunehmend auf deutsche Medien. Seit 1959 schrieb sie u.a. regelmäßig für die Sonntagsbeilage der „Deutschen Zeitung“, wo sie bald als fortschrittliche Vertreterin der in Deutschland bewunderten New School for Social Research hofiert wurde. 1967 schließlich erschien im Luchterhand Verlag ihre wichtigste Publikation „Bedeutung und Ausdruck. Zur Soziologie der Malerei“ (1967). Der 143 Seiten umfassende Band begeisterte vor allem progressive bundesrepublikanische Studierende, denen sie, als eine der wenigen KunsthistorikerInnen ihrer Generation, inspirierend und diskussionsfreudig zur Seite stand.
Levy-Deinhard definierte sich zeitlebens weniger als Kunsthistorikerin denn als Kunstsoziologin (vgl. Dilly in: Below/Dogramaci 2016, S. 45). Allzeit kritisch reflektierte sie Methoden und Inhalte des eigenen Faches und fokussierte sich früh auf die Wechselwirkung von Kunst und Gesellschaft. In ihrem Hauptwerk „Bedeutung und Ausdruck“ stellte sie u.a. die aktuelle Tendenz zur Degradierung des Kunstwerks zum reinen Prestigeobjekt zur Debatte. Kunst sei längst zu einem „gesellschaftliche(n) ‚Muss’“ avanciert, zu „etwas, das ‚man’ mitmachen muss, wenn ‚man’ mitreden können will“ (Deinhard 1967, S. 124); diese soziale Pflicht werde derzeit ebenso gewissenhaft erfüllt wie die „Wahl des ‚richtigen’ Automodells“ (ebd., S. 125). Levy-Deinhards Hauptwerk zog zahlreiche Einladungen zu Vorträgen nach Deutschland nach sich, in deren Rahmen sie u.a. analysierte, ob „die Bedeutung und der Wert eines Kunstwerks (...) im Bewusstsein der heutigen Menschen überhaupt noch grundsätzlich von dem ‚Gebrauchswert’ anderer Konsumobjekte“ (zit. n. Below 1993, S. 8) zu differenzieren seien. Manch angesehener Kollege zeigte sich angetan: „Ich bekam inzwischen auch einige sehr enthusiastische Briefe von Kunstgeschichtlern, darunter, was mich ganz besonders freute, von Otto von Simson (...)“ (zit. n. Below/Dogramaci 2016, S. 238). Als 1970 „Bedeutung und Ausdruck“ in englischer Übersetzung erschien, ließen internationale Vortragseinladungen nicht lange auf sich warten. Wurde Levy-Deinhard in Europa eingangs als Mitglied renommierter US-amerikanischer Institutionen bekannt, stieg ihr Ansehen jetzt paradoxerweise in den USA als eine im besten Sinne streitbare Wissenschaftlerin aus Europa, die die deutsche Studierendenbewegung mit essentiellen Fachimpulsen belieferte. Zwanzig Jahre zuvor undenkbar, durfte sie fortan in US-amerikanischen Fachzeitschriften Texte über aktuelle kunsthistorische Debatten in Europa platzieren und avancierte auf diesem Wege zur Vermittlerin zwischen den Kontinenten.
„Es war zwar in der Nähe, aber nicht in Deutschland“: Basel (1978-1984)
1977 kündigte Hanna Levy-Deinhard vorzeitig ihre Position am Queens-College. Sie, die stets reformbereite Fach- und Methodenkritische, habe das dortige Unterrichten „bei besagtem Niveau“ (zit. n. Below/Dogramaci 2016, S. 230) längst nicht mehr erfreut, sondern „unaufhörlich“ gegrämt, begründete sie den Schritt. „Ich finde es schwerer und schwerer unter den gegebenen (sozialen, politischen, fachlichen etc.) Umständen zu arbeiten“ (zit. n. Below/Dogramaci 2016, S. 238), offenbarte sie bereits fünf Jahre zuvor. Ihr lange geplantes, umfassendes Grundlagenwerk zur Kunstsoziologie stockte und erschien letztlich gar nicht. Dennoch hielt sie seit ihrer Emeritierung Ausschau nach einer neuen, dauerhaften Bleibe mit Universität, Bibliothek und wohlsortierter Diasammlung. Sie habe an vielen Stellen „probegewohnt“, erinnerte Vera von Falkenstein (zit. n. Below/Dogramaci 2016, S. 333). Schlussendlich fiel Levy-Deinhards Wahl jedoch auf Basel: „Es war zwar in der Nähe, aber nicht in Deutschland“ (ebd.), kommentierte Levy-Deinhard ihre letzte Lebensstation.
Heute eilt Hanna Levy-Deinhard in Südamerika längst der Ruf als Mitbegründerin einer anti-eurozentrischen brasilianischen Kunstgeschichtsschreibung voraus. In Deutschland dagegen geriet sie selbst in methodisch progressiven Kreisen rasch in Vergessenheit, worüber sich Irene Below bereits vor einem Viertel Jahrhundert wunderte: Schließlich habe Levy-Deinhard nicht bloß die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Gesellschaft aufgeworfen, sondern zugleich ein passendes Dechiffrierungs-Instrumentarium geliefert (vgl. Below 1993, S. 7). In jüngster Zeit aber mehren sich erfreulicherweise anerkennende, auf Belows Vorarbeiten fußende Stimmen: Kürzlich identifizierte u.a. Jens Baumgarten Levy-Deinhard als frühe Vorläuferin einer postkolonialen Kunstgeschichtsschreibung (ders. in: Below/Dogramaci 2016). Und Jens Kastner würdigte sie als „heimliche Pionierin der Kunstsoziologie“ (ders. in: Below/Dogramaci 2016, S. 91), der als vergessener „Stichwortgeberin und Vordenkerin“ unbedingt aus dem „konjunkturellen Tief ihrer Rezeption“ herauszuhelfen sei. Ein wenig ist das zum Glück bereits gelungen.
(Text von 2017)
Verfasserin: Annette Bußmann
Zitate
… schade, dass ich unter den Deutschen nicht leben kann, der äußere Rahmen wäre so schön
(Hanna Levy-Deinhard 1976, zit. n. Below 2005, S. 165)
Der Eindruck, den sie mir bei unserer ersten Begegnung hinterließ, blieb nachhaltig in meinem Gedächtnis. Ich hatte nie zuvor eine so zerbrechliche und verzweifelte Person gesehen. Sie sah aus wie ein verwundeter Spatz. Abgemagert. Knochig. Die Form ihrer Lippen drückte eine unendliche Enttäuschung aus, aber die großen Augen, die dich direkt anschauten, zeigten, dass die Hoffnungslosigkeit und die Verbitterung bewältigt waren.
(Nicos Hadjinicolaou über Hanna Levy-Deinhard, in: Below/Dogramaci 2016, S. 69)
Im Rückblick erweist sich Hanna Deinhards methodisch reflektierendes Vorgehen als eine verblüffend aktuelle Antizipation heutiger rezeptionsästhetischer Problemstellungen.
(Michael Kröger in: Below/Dogramaci 2016, S. 134)
Wenn sie auch keine systematische Kunstsoziologie vorgelegt hat, so berechtigen ihre Arbeiten dennoch den Anspruch, Deinhard als Stichwortgeberin und Vordenkerin gelten zu lassen und ihr als heimliche Pionierin wieder aus dem konjunkturellen Tief ihrer Rezeption herauszuhelfen.
(Jens Kastner in: Belwo/Dogramaci 2016, S. 91)
Links
Literatur & Quellen
Below, Irene (2005): ‘Jene widersinnige Leichtigkeit der Innovation’: Hanna Deinhards Wissenschaftskritik, Kunstsoziologie und Kunstvermittlung. In: Hudson-Wiedenmann, Ursula / Schmeichel-Falkenberg, Beate (Hg.): Grenzen überschreiten. Frauen, Kunst und Exil. Würzburg ISBN: 3-8260-3147-4
Below, Irene (2011): Kontexte der Erinnerung - Zur Wahrnehmung exilierter Kunsthistorikerinnen seit den 1960er Jahren in Deutschland und Österreich. In: Hansen-Schaberg, Inge/Häntzschel, Hiltrud (Hg.) (2011): Alma Maters Töchter im Exil. Zur Vertreibung von Wissenschaftlerinnen in der NS-Zeit. München. S. 248-278. ISBN-13 9783869161426
Below, Irene/Dogramaci, Burcu (2016): Kunst und Gesellschaft zwischen den Kulturen: Die Kunsthistorikerin Hanna Levy-Deinhard im Exil und ihre Aktualität heute. München. ISBN: 9783869164915
Deinhard, Hanna (1967): Bedeutung und Ausdruck. Zur Soziologie der Malerei. München ASIN: B0000BQGJ0 (engl.: Meaning and Expression. Toward a sociology of art. Boston 1970, ISBN-13: 978-0313242526)
Doll, Nikola/Heftrig, Ruth/Peters, Olaf/Rehm, Ulrich (2006) (Hg.): Kunstgeschichte nach 1945. Köln, Weimar, Wien ISBN-13: 978-3412004064
Krauss, Marita (2001): Heimkehr in ein fremdes Land. Geschichte der Remigration nach 1945. München
Levy, Hanna (1936): Henri Wölfflin. Sa théorie. Ses prédécesseurs. Rottweil am Neckar
Michels, Karen (1999): Transplantierte Kunstwissenschaft. Deutschsprachige Kunstgeschichte im amerikanischen Exil. Berlin 1999 ISBN 3-05-003276-6
Papenbrock, Martin/Schneider, Norbert (Hg.) (2010): Kunst und Politik. Bd. 12: Kunstgeschichte nach 1968. Göttingen ISBN 978-3-89971-617-7
Pelles, Geraldine (1971): Rezension zu Hanna Deinhard: Bedeutung und Ausdruck. Zur Soziologie der Malerei. In: The Art Bulletin 53.1971, S. 278-279
Wendland, Ulrike (1999): Biographisches Handbuch deutschsprachiger Kunsthistoriker im Exil. Leben und Werk der unter dem Nationalsozialismus verfolgten und vertriebenen Wissenschaftler. München ISBN: 9783598113390
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