Fembio Specials Exilantinnen (1933-1945) Grete Weil
Fembio Special: Exilantinnen (1933-1945)
Grete Weil
(Geburtsname: Margarete Elisabeth Disperker, auch Grete Dispeker; Ehenamen: Margarete Elisabeth Weil, Margarete Elisabeth Jockisch; Grete Jockisch, Grete Weil-Jockisch, Margarete Elisabeth Weil-Jockisch, Pseudonym: B. van Osten)
geboren am 18. Juli 1906 in Egern, Oberbayern
gestorben 14. Mai 1999 in Grünwald bei München
deutsche Schriftstellerin, Übersetzerin, Rezensentin und Fotografin
25. Todestag am 14. Mai 2024
Biografie • Zitate • Literatur & Quellen
Biografie
Es gab nur noch die eine Aufgabe, gegen das Vergessen anzuschreiben. Mit aller Liebe, allem Vermögen, in zäher Vergessenheit. Vergessen tötet die Toten noch einmal. Vergessen durfte nicht sein. Und so schrieb ich weiter. Und immer häufiger wurde ich gelesen, und das war ein schwacher Abglanz von Glück. (in: Leb ich denn, wenn andere leben)
Deutschland
Geboren in Egern am Tegernsee sollte die Autorin Bayern ihr Leben lang lieben. Ihr Vater war der Rechtsanwalt Siegfried Dispeker. Ihre Mutter Isabella Dispeker, von allen nur Tante Bella genannt, galt als „zierlich-schöne, mondän-oberflächliche Frau“ (Exner). Ihre beste Freundin war Amélie zu Fürstenberg, die Mutter von Signe von Scanzoni, der sie nach dem Tod ihrer Mutter zur wichtigsten Bezugsperson wurde. Die beiden Töchter waren seit Kindertagen miteinander befreundet.
Zu Familie gehörte auch der der fast zwölf Jahre ältere Bruder Fritz und die Großmutter Jette Goldschmidt, die Mutter von Isabella Dispeker, die ihre Enkelin nicht nicht leiden konnte (in ihrem Werk benennt sie diese als O). Eine ältere Schwester, Dorle, war im Alter von sieben Jahren gestorben nach einer, wie die Autorin später schreibt „offensichtlich sinnlosen und verpatzten Blinddarmoperation“ (Leb ich denn), darin beschreibt sie sich selber als „Ersatzkind für Dorle“.
Es war eine jüdische Familie, aber die religiöse Tradition spielte im Familienleben keine Rolle, auch wenn der Vater im Vorstand der jüdischen Gemeinde war. Hauptwohnsitz war München, aber die Familie hatte auch einen Landsitz am Tegernsee.
In ihrer Kindheit war sie vor allem ihrem Vater verbunden, der verschiedene Interessen bei ihr weckte, wie die Leidenschaft für Berge und Bergsteigen sowie die Begeisterung für deutsche Klassiker und für Opern. Es war eine innige Beziehung, die ihr für das spätere Leben Sicherheit gab. Im Jugendalter war es dann ihr Bruder Fritz, der ihr besonders nahe stand. Mit ihm und FreundInnen unternahm sie Reisen und Radtouren.
Der Mutter stand sie nicht besonders nah, auch wenn diese sie „liebevoll unterstützt“ (Exner) hatte. Eine engere Verbundenheit entwickelte sich erst in späteren Jahren durch die gemeinsam erlebte Zeit der Verfolgung.
Mit 10 Jahren kam Grete Dispeker in die Annaschule, eine „Schule für Höhere Töchter“. Bereits zwei Jahre später musste sie sich entscheiden, ob sie noch drei Jahre auf der alten Schule bleiben oder für sechs Jahre aufs Gymnasium wechseln wollte. Sie entschied sich für die drei Jahre, was sie jedoch später bereute, als sie sich entschloss, Jura zu studieren. Dazu brauchte sie das Abitur, sie fiel jedoch beim ersten Versuch als Externe 1929 durch. Erst im zweiten Anlauf im selben Jahr in Frankfurt bestand sie.
Lesen wurde zu einer Leidenschaft für sie, als Mädchen war sie dabei noch ziemlich wahllos. Schon früh hatte die spätere Autorin den Wunsch zu schreiben und war auch überzeugt davon, das auch wirklich zu können.
Ihre erste Flucht erlebte sie bereits im Alter von 17 Jahren: Als ihr Vater beim „Hitlerputsch“ am 8. November 1923 verhaftet werden sollte, flüchtete er gemeinsam mit seiner Tochter aufs Land. Als am nächsten Tag deutlich wurde, dass der Putsch gescheitert war, kehrten sie nach München zurück. Für einige Zeit engagierte sie sich danach in einer zionistischen Jugendgruppe, aber sie sah sich – wie auch ihre Eltern – als Deutsche.
Auch wenn die Familie den zunehmenden Antisemitismus wahrnahm - so wurde Grete Dispeker und ihrem Bruder ohne Angabe von Gründen die Aufnahme in den Alpenverein verweigert - dachten sie zu dieser Zeit noch nicht an Emigration.
Anfang der 1920er Jahre freundete sie sich mit den beiden Männern an, die sie später heiraten solle. Ihren Vetter Edgar Weil kannte sie familiär bedingt „schon immer“. Er war zwei Jahre älter als sie, lebte bei seiner Familie in Frankfurt, und die beiden entdeckten als Jugendliche gemeinsame Interessen. Er sollte die Liebe ihres Lebens werden. Über ihn und seinen Bruder Hans lernte sie Walter Jokisch kennen.
Mit 19 Jahren wurde Grete Dispeker nach London geschickt, um Englisch zu lernen. Auf der Rückfahrt holte sie ihr Bruder ab. Sie verbrachten ein paar Tage in Belgien, ihren 20. Geburtstag verbrachten sie in Brüssel. Anschließend fuhren sie noch kurz in die Niederlande, in jedes Land hätte sie zurückkehren wollen, um alles andere auch noch anzuschauen, aber nicht in dieses Land, es war eine Ausnahme für sie: „Zu flach für mich, zu fremd, die Menschen zu unattraktiv, zu farblos in ihren ewigen Regenmänteln.“ Aber es sollte anders kommen.
An der Frankfurter Universität schrieb sie sich erst für Germanistik ein. Zudem belegte sie Vorlesungen bei dem Theologen Paul Tillich und bei dem Philosophen Theodor W. Adorno. Sie zog nach Berlin, dann nach Paris, wo sie 1931 ein Gastsemester an der Sorbonne belegte. Zurück in Frankfurt, begann sie ihre Dissertation über das Journal des Luxus und der Moden, das von 1786 bis 1827 herausgegeben wurde.
1932 heiraten Grete Dispeker und Edgar Weil. Zu dieser Zeit arbeitete er als zweiter Dramaturg an den Münchener Kammerspielen, sie an ihrer Dissertation. Wie Lisbeth Exner betont, hat Edgar Weil die schriftstellerische Arbeit seiner Frau nicht nur hingenommen, „sondern nach der Lektüre ihres ersten Prosatexts festgestellt, daß ihr Schreiben für sie beide wichtiger sei als seine eigene Tätigkeit fürs Theater.“
Ihre erste Erzählung „Erlebnis einer Reise“ wurde vor dem Januar 1933 fertiggestellt und ist wie alle Romane und Erzählungen der Autorin stark autobiografisch geprägt. Sie wurde erst 1999 im gleichnamigen Sammelband veröffentlicht und handelt von den Erfahrungen junger Menschen in den letzten Jahren der Weimarer Republik.
Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler war das „Ereignis, das die Welt für mich veränderte. Mich vogelfrei, zur Un-Person machte, mir die Identität nahm. Der Anfang des Untergangs.“ (in: Generationen)
Edgar Weil wurde im März 1933 zusammen mit allen anderen Mitgliedern des Theaters verhaftet, aber nur er wurde als Jude zwei Wochen im Polizeipräsidium festgehalten. Ohne Angabe von Gründen für seine Verhaftung wurde er auch ohne entlassen, aber erst musste er unterschreiben, dass er sich freiwillig in „Schutzhaft“ begeben habe, weil er sich bedroht gefühlt habe.
„Da gab es einen Augenblick, es war wie wenn ein Blitz in mich eingeschlagen hätte, es war wirklich der Bruchteil einer Sekunde, als ich begriff, was Faschismus ist.“ (in: Weil ich das Leben liebe)
Da ihr Doktorvater Martin Sommerfeld als Jude nicht mehr von einer Reise in die USA nach Deutschland zurückgekommen war, musste Grete Weil ihre Dissertation abbrechen. Dem Ehepaar Weil war klar, dass sie mit ihren ersten Berufserfahrungen – sei es bei ihr als noch nicht veröffentlichte Schriftstellerin oder bei ihm als Dramaturg – im Exil keine Chance hätten und sie praktische Berufe brauchen würden. Edgar Weil zog bereits im Januar 1935 nach Amsterdam, wo er in einem pharmazeutischen Betrieb arbeitete.
Grete Weil entschied sich für das Fotografieren. Eine Schulausbildung konnte sie zu dieser Zeit als Jüdin nicht mehr absolvieren, aber es gelang ihr, den Porträtfotografen Eduard Wasow zu überreden, sie in seinem Atelier auszubilden. Nach Abschluss dieser Ausbildung, die ihr Spaß machte, zog sie im Dezember 1935 zu ihrem Mann nach Amsterdam in die später von ihr literarisch verarbeitete Beethovenstraat.
Als ihr Vater 1937 starb, hörte ihr Leben in Deutschland auf – sie sollte erst nach dem Krieg wieder zurückkehren –, „ihm verdanke ich es, wenn ich alle Härten einigermaßen gut überstand“. (in: Generationen) Ihr Bruder emigrierte nach Großbritannien, wo er den Rest seines Lebens verbrachte. Grete Weil gelang es ein Jahr später ihre Mutter, deren Pass bereits eingezogen worden war, nach Amsterdam zu holen. Es war Signe von Scanzoni, die die Freundin ihrer verstorbenen Mutter zu ihrer Tochter ins Exil in die Niederlande brachte.
„Es ist mir nie im Traum eingefallen, Fotografin zu werden, doch scheint es einer der wenigen Berufe zu sein, mit dem man ohne große Kenntnisse mit einem bisschen Geschick und offenen Augen sich ernähren kann.“ (in: Leb ich denn)
Exil in Amsterdam
In Amsterdam hatte das Ehepaar Weil außer einigen Treffen mit wenigen Bekannten wie dem Maler Max Beckmann, dem Schriftsteller Albert Ehrenstein und dem Dirigenten Bruno Walter keine Kontakte zu intellektuellen EmigrantInnen.
Ab April 1938 konnte Grete Weil das Atelier einer Fotografin übernehmen, die dieses sowie die dazugehörige Wohnung verkaufen wollte, um in die USA auszuwandern. So wurde sie für die nächsten vier Jahre Eigentümerin des Ateliers Edith Schlesinger, in dem sie anfangs sogar mehrere Angestellte hatte. Nun fotografierte sie Menschen, zu denen sie bislang kaum Kontakt gehabt hatte und die ihr eher unbekannt waren: jüdische KleinbürgerInnen, ProletarierInnen, EmigrantInnen wie NiederländerInnen, Kinder und Hochzeiten.
Bei der Verleihung der Carl-Zuckmayer-Medaille 1995 sollte Grete Weil zusammenfassen, was Exil bedeutet:
„Emigration ist ein Sturz ins Bodenlose, ist nicht nur der Verlust der Heimat, der Landschaft, der Menschen, die den Alltag gestaltet haben, ist am allerschlimmsten der Verlust der Sprache.“
Als das Ehepaar Weil 1940 vom Überfall der Deutschen auf die Niederlande hörten, versuchten sie noch – wie so viele – über den in der Nähe von Amsterdam gelegenen Seehafen IJmuiden nach Großbritannien zu fliehen, was ihnen aber nicht gelang, da die Hafenausfahrt durch ein versenktes Schiff blockiert war.
Am 14. Mai kapitulierten die Niederlande und in Folge wurden Maßnahmen wie die in Deutschland für Jüdinnen und Juden eingeführt. So traten auch dort im Oktober des gleichen Jahres die Nürnberger Rassengesetze in Kraft. Die Meldepflicht wurde Anfang 1941 für Juden und Jüdinnen eingeführt, im gleichen Jahr wurde ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. Im Juni wurden ihre Ausweise mit einem J versehen, ab Mai des folgenden Jahres mussten sie einen Judenstern tragen. Die systematischen Deportationen begannen erst im Juli 1942, aber bereits vorher gab es Vergeltungsaktionen, bei denen junge jüdische Männer ins KZ Buchenwald gebracht wurden. Bei einer dieser Aktionen am 11. Juni 1941 konnten nicht wie geplant genügend Männer unter 30 Jahren festgenommen werden und so wurden auch andere festgenommen, unter ihnen Edgar Weil. Er wurde ins österreichische KZ Mauthausen gebracht, wo er laut offiziellen Angaben am 17. September 1941 starb.
Im folgenden Monat kam Grete Weils alter Freund Walter Jokisch zu Besuch und die beiden beschlossen, nach dem Krieg eine Partnerschaft einzugehen – was zu dieser Zeit eher unwahrscheinlich schien. Aber diese Perspektive und die Sorge um ihre Mutter sorgten dafür, dass Grete Weil nicht wie erst angedacht, Suizid beging. Zudem stärkte die zunehmende Bedrohung ihre Widerstandskraft. So war es ihr möglich, in ihrem Fotoatelier für Widerstandsorganisationen Fotos für gefälschte Ausweise anzufertigen, bis 1942 ihr Fotoatelier aufgelöst und ihre gesamte Gerätschaft von den Deutschen abtransportiert wurde.
Im Sommer 1942 erhielt Grete Weil einen Aufruf zum „Arbeitsdienst“, womit die Deportationen gemeint waren, was aber verschleiert werden sollte. Für sie gab es zu dieser Zeit nur die Möglichkeit, entweder unterzutauchen oder zum Jüdischen Rat zu gehen. Sie konnte als Mitarbeiterin des Jüdischen Rats angestellt werden, da sie einen nahen Angehörigen in Mauthausen „verloren“ hatte. Sowohl sie wie auch ihre Mutter erhielten eine „Ausnahme-Bescheinigung“, die festlegte, dass sie bei Polizeiaktionen für den Arbeitseinsatz nicht festgenommen werden sollten. Grete Weil arbeitete erst als Fotografin für den Jüdischen Rat, später als Sekretärin im Sammellager in der „Joodsche Schouwburg“ (Jüdisches Theater), wie das ehemalige Theater „Hollandsche Schouwburg“ 1941 in Amsterdam von den Besetzern umbenannt wurde. Konnte das Theater erst noch als jüdische Veranstaltungsstätte genutzt werden, so wurden ab Oktober 1942 die in Amsterdam verhafteten Juden und Jüdinnen dort hingebracht, bis sie ins Durchgangslager Westerbork gebracht kamen. Während dieser Zeit – bis September 1943 – tippte sie dort Briefe von Gefangenen an Bekannte, aber sie konnte auch Nachrichten und Gegenständen an der SS vorbeischmuggeln und einigen Menschen zur Flucht verhelfen.
Als sie davon erfuhr, dass sie am 29. September 1943 nach ihrer Arbeit deportiert werden sollte, beschoss sie, unterzutauchen.
Ihrer Mutter gelang es erst bei einer Verwandten von Max Beckmann unterzukommen und nach einigen anderen Untertauchadressen lebte sie bis Kriegsende bei einer Familie in Zaandam als Kinderfrau.
Grete Weil konnte in der Wohnung eines Schulfreundes ihres Mannes, Herbert Meyer-Ricard, im Zentrum von Amsterdam untertauchen, in der auch dessen jüdische Frau, die deutsche Grafikerin Vera Olga Haymann, lebte. Dort blieb sie anderthalb Jahre in einem Versteck hinter einer Bücherwand. Anfangs malte sie Tontiere an, die Herbert Meyer-Ricard an Warenhäuser verkaufte. Zudem las sie viel und fälschte für eine Widerstandsgruppe Lebensmittelkarten. Diese waren dringend nötig, damit Untergetauchte überhaupt überleben konnten.
Während dieser Zeit begann sie nach zehnjähriger Pause wieder zu schreiben. Zum einen verfasste sie das Theaterstück „Weihnachtslegende 1943“, das sie ihren beiden MitbewohnerInnen zu Weihnachten vorlas und mit selbstangefertigten Puppen illustrierte. In dem Stück fließen ihre Erfahrungen im Sammellager und mit Deportationen ein, auch wenn es vordergründig an die christliche Weihnachtsgeschichte angelehnt ist. Es geht darin um eine Frau, der die Flucht aus einem Sammellager gelungen ist, die untergetaucht ist und ein Kind zur Welt bringt.
Mit diesem Stück begann auch die Tätigkeit der Widerstandsgruppe „Hollandgruppe Freies Deutschland“, zu der neben Grete Weil unter anderem auch Herbert Meyer-Ricard und Vera Olga Haymann gehörten. Neben der Aufführung von Theaterstücken auf der Marionettenbühne, die sie „Gefesseltes Theater“ nannten, im Atelier von Herbert Meyer-Ricard für kleine Gruppen Eingeweihter verfassten und verbreiteten sie verschiedene Publikationen. Nach dem Krieg wurden die Stücke unter dem Titel Das gefesselte Theater (Het Toneel in Boeien) in einer Broschüre veröffentlicht. Darin auch Grete Weils „Weihnachtslegende“, die als ihre erste literarische Veröffentlichung gilt. Die Gruppe beteiligte sich 1945 auch an der Neuordnungsdebatte zur gesellschaftlichen Struktur in Deutschland.
Das zweite Werk, das sie während dieser Zeit verfasste, ist der Roman Der Weg zur Grenze, eine Liebesgeschichte, der auf ihrem eigenen Leben beruht. Wie Lisbeth Exner 1998, deren Buch Land meiner Mörder, Land meiner Sprache auf Interviews mit Grete Weil beruht, festhält: „Der Roman wurde auf Wunsch der Autorin nie veröffentlicht: nur mit der Rahmenhandlung ist sie heute noch zufrieden. (…) Grete Weil hält aus heutiger Sicht diese Liebesgeschichte schriftstellerisch nicht für gelungen.“ Nach ihrem Tod wurde der Wunsch der Autorin ignoriert und der Roman wurde 2022 dennoch veröffentlicht.
Wie Lisbeth Exner berichtet, war für Grete Weil „der Wunsch, sich schreibend der eigenen Identität und Widerstandskraft zu versichern“, das wichtigste Motiv im Versteck zu schreiben,
In den letzten Kriegsmonaten kam es aufgrund des engen Zusammenlebens zu Spannungen, so dass Grete Weil ab April 1945 zu einer Freundin in der Prinsengracht zog, nur drei Häuser entfernt von dem Haus, in dem Anne Frank mit ihrer Familie bis zur Verhaftung im August 1944 im Hinterhaus untergetaucht war.
Nach Kriegsende fuhr Grete Weil mit dem Fahrrad nach Zaandam, um ihre Mutter abzuholen. Sie konnte auf der Prinsengracht wohnen bleiben und versuchte, die pharmazeutische Fabrik der Familie Weil zu retten, wo sie tatkräftig mit anpackte.
Nachkriegszeit
Am 5. Mai 1945 trat der Kapitulationsvertrag in Kraft – bis heute wird dieser Tag in den Niederlanden als „bevrijdingsdag“ (Befreiungstag) gefeiert.
Nach Kriegsende war für Grete Weil klar, dass sie wieder zurück nach Deutschland wollte, was erst einmal nicht möglich war, da sie als Staatenlose mit Nansen-Pass nicht dorthin einreisen durfte – nur in andere Länder. Erst einmal kümmerte sie sich um die Edgars Fabrik. Selbstständig handeln durfte sie jedoch nicht, da sie als „feindliche Ausländerin“ galt, auch über die Konten durfte sie nicht verfügen. Mit dem ihr vorgesetzten Verwalter kam sie aber gut zurecht.
Über einen befreundeten Journalisten kam es zu dieser Zeit zu einer kurzen Begegnung mit Otto Frank, dem Vater von Anne Frank. Wie sie sich erinnert: „Da ist sie wieder, die furchtbare Ruhe, das Entsetzliche tränenlos hinzunehmen, die ich aus der Schouwburg kenne.“ (in: Leb ich denn, wenn andere leben) Sie konnte nicht ahnen, dass der Name Anne Frank später traurige weltweite Berühmtheit erlangen sollte.
Als Staatenlose durfte sie nicht nach Deutschland reisen, ging aber im Herbst 1946 über die grüne Grenze und traf sich in Frankfurt mit ihrem alten Freund Walter Jockisch, der inzwischen wieder an Opern in Darmstadt und Frankfurt arbeitete. Die beiden entschlossen sich, wie bei ihrem letzten Treffen so unwahrscheinlich geplant, zusammenzubleiben. Im Gespräch mit Lisbeth Exner hielt sie fest: „Es war herrlich. Ich war völlig besoffen davon, daß ich an einem Ort war, wo alle Menschen deutsch sprachen.“
Auf dem gleichen Weg wie auf der Hinreise kehrte Grete Weil wieder zurück nach Amsterdam. Dort konnte sie als anerkannte Widerstandskämpferin einen niederländischen Pass bekommen, mit dem sie dann auch legal nach Deutschland einreisen und ihre Rückkehr dorthin planen konnte.
Im Gegensatz zu vielen anderen ExilantInnen wollte sie so schnell wie möglich wieder zurück:
„Deutschland war ebenso kaputt wie ich selbst und das war genau das Richtige für mich. Zunächst hat man ja auch das Gefühl gehabt, daß man wirklich beim Wiederaufbau helfen kann.“ (in: Lieben Sie Deutschland?)
Rückkehr nach Deutschland
Ende 1947 zog Grete Weil nach Darmstadt, während ihre Mutter noch einige Zeit in Amsterdam blieb und später nach Lugano übersiedelte, wo sie 1961 starb.
In ihrer Erzählung „Guernica“ (in: Spätfolgen, 1992) reagiert die Ich-Erzählerin auf die Missbilligung eines Bekannten darüber, dass sie ihr Fluchtland verlassen und nach Deutschland zurückgegangen war, mit: „Es geht dich nichts an, mische dich nicht in meine Angelegenheiten ein.“
Aber sie gab sich dabei keinen Illusionen hin, wie es dort sein würde: „Ich will nach Hause, auch wenn ich weiß, dass alles, was ich früher geliebt habe, nicht mehr existiert. Ich will dorthin, wo ich hergekommen bin. Das Heimweh ist nicht kleiner, sondern größer geworden in all den Jahren.“ (in: Leb ich denn, wenn andere leben)
Sie bezeichnete Walter Jockisch als leidenschaftlichen Gegner des Regimes, auch wenn er fast die ganzen Jahre in Deutschland geblieben war. Dadurch hatte er einen großen Freundeskreis, der bald auch Grete Weils wurde und in dem sie sich integriert fühlte. Dadurch fand sie, dass sie es leichter hatte als die meisten, die aus dem Exil zurückkamen; sie fühlte sich nicht „fremd im eigenen Land“. Durch die Tätigkeit von Walter Jockisch zogen die beiden immer wieder um, je nachdem wo er gerade eine Anstellung an einem Opernhaus hatte. Sie wollte ihren Partner, den sie erst 1960 heiratete, zwar unterstützen, aber auch ihre eigenen literarischen Projekte weiter verfolgen – wenn auch erst in zweiter Linie.
Aber sie hatte sich nach dem Krieg vorgenommen, Zeugnis abzulegen. Sie sah es als ihre Aufgabe an, gegen das Vergessen anzuschreiben. Noch in Amsterdam schrieb sie die Erzählung Ans Ende der Welt, in dem sie auf ihre Erfahrungen im Sammellager in der Schouwburg zurückgreift. Eine Veröffentlichung war 1949 nur in der DDR möglich, wo es von Rezensenten gelobt wurde. Im Westen fand sie keinen Verlag, der daran interessiert war. In den Niederlanden fand das Buch großen Anklang, wie sich auch ihre späteren Werke dort gut verkauften.
Erst einmal wandte sie sich der Musik zu. Durch ihren Mann lernte sie den Komponisten Hans Werner Henze kennen mit dem zusammen sie die Manon-Lescaut-Oper „Boulevard Solitude“ plante. Sie schrieb den Text, der auf einem szenischen Grundriss von Walter Jockisch basierte, während Hans Werner Henze die Musik komponierte. Die Uraufführung fand 17. Februar 1952 im Landestheater statt und wurde sehr positiv aufgenommen.
Als nächstes verfasste Grete Weil den Text zu Wolfgang Fortners Pantomime „Die Witwe von Ephesus“, die am 17. September 1952 in der Tribüne in Berlin uraufgeführt wurde. Das Werk war im Auftrag der Berliner Festwochen entstanden und wurde ebenfalls positiv aufgenommen.
Ihr anschließend geschriebener Antigone-Roman wurde nicht veröffentlicht, die Autorin setzte sich jedoch weiterhin mit dem Thema auseinander, und so erschien 1980 ihr Roman Meine Schwester Antigone, der anders als ihre vorherigen Bücher eine Mischung aus ihrer aktuellen Situation und ihren Erfahrungen während des Nationalsozialismus beschreibt. So thematisiert sie darin auch unterschiedliche Ansichten zum Widerstand.
In den 1950er Jahren erhielt sie ihr Elternhaus in Egern zurück, das sie jedoch verkaufte. Sie schrieb während dieser Jahre verschiedene Zeitschriftenbeiträge für „das neue forum“, arbeitete als Lektorin für das Darmstädter Landestheater und verfasste Rezensionen für den Hessischen Rundfunk. Im Schweizer Tessin ließ sich das Ehepaar ein Haus bauen, wo sie gemeinsam ihre Sommer verbrachten.
Zahlreiche Reisen führten sie in die USA, nach Mexiko, Ladakh und Nepal, was seinen Niederschlag in ihren Werken findet.
Im Sommer 1958 kam sie mit dem Wiesbadener Limes Verlag in Kontakt, für den sie verschiedene Übersetzungen anfertigte, bis sie ihrer Lektorin Marguerite Schlüter gegenüber erwähnte, dass sie auch schreibe. Der Verlag brachte dann 1962 die westdeutsche Auflage der Novelle Ans Ende der Welt heraus und ein Jahr später den Roman Tramhalte Beethovenstraat, in dem es um die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit geht. Während die dänischen und niederländischen Übersetzungen gut ankamen, blieb der Erfolg in Deutschland weiter aus und Grete Weil musste feststellen, dass die Menschen dort nichts von der jüngsten Vergangenheit wissen wollten. Erst 1968 folgte der Erzählungsband Happy sagte der Onkel, zu dem sie durch eine Reise in die USA inspiriert wurde und der unter anderem der Frage nachgeht, inwieweit Solidarität mit Minderheiten möglich ist, sich aber auch mit Verdrängungsmechanismen und der Frage der Überlebensschuld beschäftigt.
Nach Walter Jockischs Tod 1970 blieb Grete Weil erst noch in Frankfurt, wo sie zusammengelebt hatten, bis sie vier Jahre später mit ihrem besten Freund zurück nach München zog, wo sie mit einer jungen Frau zusammenlebten. Literarisch verarbeitete sie dieses Zusammenleben im Roman Generationen, in dem sie allerdings von der Wohngemeinschaft dreier Frauen schreibt. Es geht um die Isolation im Alter, aber auch um den Versuch, jüngere Menschen zu verstehen sowie um die Utopie einer Familie, um das Aufgehobensein in einer Gemeinschaft und um die – scheiternde – Liebe zwischen Frauen.
Erst die beiden Romane Meine Schwester Antigone (1980) und Generationen (1983) brachten Grete Weil endlich einen späten Erfolg. Erst eine jüngere Generation begann, sich für ihre Werke zu interessieren. So wurde Meine Schwester Antigone 1980 mit dem Wilhelmine-Lübke-Preis des Kuratoriums Deutsche Altershilfe und Generationen 1983 mit dem Tukan-Preis der Stadt München, Der Brautpreis 1988 mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. 1992 erhielt sie die Medaille „München leuchtet“ in Gold, 1995 die Carl-Zuckmayer-Medaille und 1996 den Bayerischen Verdienstorden.
Ihr letztes Werk waren ihre Memoiren, die ein Jahr vor ihrem Tod 1998 unter dem Titel Leb ich denn, wenn andere leben erschienen.
2019 wurde im Münchener Stadtbezirk Aubing-Lochhausen-Langwied eine Straße nach ihr benannt.
Verfasserin: Doris Hermanns
Zitate
Hätte ich ohne Verfolgung geschrieben? Ganz sicher: Ja. Ich habe seit meinem fünfzehnten Jahr geschrieben und nie etwas anderes gewollt. Hätte ich anders geschrieben? Bestimmt. Ich wäre ja auch ein anderer Mensch geworden, wenn Edgar bei mir geblieben wäre. (in: Und Ich? Zeugin des Schmerzes, in: Spätfolgen)
Ein Schreibender braucht die Erinnerung. Sie gehört zu seinem Handwerkszeug, ebenso wie Phantasie und Wunsch zu gestalten. Ohne Erinnerung kein Schreiben. (in: Generationen)
Die Juden. (…) Ich gehöre zu ihnen, gehöre nicht zu ihnen. (in: Generationen)
Unter den Deutschen kann ich leben. Sie sprechen meine Sprache, haben die gleichen Dichter, die gleiche notwendige oder unnotwendige Bildung. Lassen mir die Möglichkeit, auch jüdisch zu sein. Die Israelis würden nicht tolerieren, daß ich auch deutsch bin. (in: Generationen)
Dabei erkenne ich deutlich, daß es nichts in unserem heutigen Leben gibt, das keine Spätfolge wäre. (in: Und Ich? Zeugin des Schmerzes, in: Spätfolgen)
Nach dem Krieg trat ich in die neu gegründete Gemeinde nicht wieder ein, weil ich es für ausreichend fand, dass ich mich vor aller Welt in meinen Büchern als Jüdin bekannte. (in: Leb ich denn, wenn andere leben)
Ich will schreiben, deutsch schreiben, in einer anderen Sprache ist es mir unmöglich, und dazu brauche ich eine Umgebung, in der die Menschen Deutsch sprechen. (in: Leb ich denn, wenn andere leben)
Literatur & Quellen
Literatur über Grete Weil
Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur: 182 Grete Weil. München, edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag, 2009
Braese, Stephan: Die andere Erinnerung. Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur. München, edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag, 2010
Exner, Lisbeth: Land meiner Mörder, Land meiner Sprache. Die Schriftstellerin Grete Weil. München, A1 Verlag,1998. monAkzente 6
Janssen-Jurreit, Marielouise (Hg.): Lieben Sie Deutschland? Gefühle zur Lage der Nation. München, Piper, 1985
Meyer, Uwe: „Neinsagen, die einzige unzerstörbare Freiheit“: Das Werk der Schriftstellerin Grete Weil. Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Band 56. Frankfurt am Main, Peter Lang, 1996
Nussbaum, Laureen und Uwe Meyer: Grete Weil: unbequem, zum Denken zwingend. In: Gesellschaft für Exilforschung (Hg.): Exilforschung: ein internationales Jahrbuch. Band 11: Frauen und Exil. Zwischen Anpassung und Selbstbehauptung. München, edition text + kritik, 1993
Pollmann, Dorlies und Edith Laudowicz (Hg.): Weil ich das Leben liebe … Aus dem Leben engagierter Frauen. Köln, Pahl-Rugenstein, 1981, S. 170-180
Richardsen, Ingvild: Nachwort. In: Grete Weil: Der Weg zur Grenze. München, C.H. Beck, 2022
Scanzoni, Signe von: Als ich noch lebte. Ein Bericht über Erika Mann. Hg. und mit einem Nachwort von Irmela von der Lühe. Göttingen, Wallstein Verlag, 2010
Wall, Renate: Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen im Exil 1933 bis 1945. Band 2. Freiburg, Kore, 1995, S. 195-198
Weil, Grete: Leb ich denn, wenn andere leben. Autobiographie. Zürich, Nagel & Kimche, 1998.
Werke von Grete Weil
Weihnachtslegende 1943. Theaterstück. In: Das gefesselte Theater. Amsterdam 1945 (vollständig abgedruckt in: Leb ich denn, wenn andere leben)
Ans Ende der Welt. Erzählung. Ostberlin, Volk und Welt, 1949. Wiesbaden, Limes Verlag, 1962. Berlin, Das kulturelle Gedächtnis, 2022
Tramhalte Beethovenstraat. Roman. Wiesbaden, Limes, 1963
Happy, sagte der Onkel. Erzählungen. Wiesbaden, Limes, 1968
Meine Schwester Antigone. Roman. Zürich, Benziger, 1980
Generationen. Roman. Zürich, Benziger, 1983
Der Brautpreis. Roman. Zürich, Nagel und Kimche, 1988
Spätfolgen. Erzählungen. Zürich, Nagel und Kimche, 1992
Erlebnis einer Reise – Drei Begegnungen. Zürich, Nagel und Kimche, 1999
Der Weg zur Grenze. Roman. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Ingvild Richardson. München, C. H. Beck, 2022
Libretti
Boulevard Solitude, für die gleichnamige Oper von Hans Werner Henze, 1951
Die Witwe von Ephesos, für die gleichnamige Oper von Wolfgang Fortner, 1951
Übersetzungen
Peter Blackmore: Original und zwei Kopien. Wiesbaden, Limes, 1959
David Walker: Schottisches Intermezzo. Wiesbaden, Limes, 1959
Maude Hutchins: Noels Tagebuch. Wiesbaden, Limes, 1960
Lawrence Durrell: Groddeck. Wiesbaden, Limes, 1961
Thomas Buchanan: Das Einhorn. Wiesbaden, Limes, 1963
John Hawkes: Die Leimrute. Wiesbaden, Limes, 1964
Jeroen Brouwers: Versunkenes Rot. Zürich, Nagel + Kimche, 1984
Sollten Sie RechteinhaberIn eines Bildes und mit der Verwendung auf dieser Seite nicht einverstanden sein, setzen Sie sich bitte mit Fembio in Verbindung.