Fembio Specials Berühmte Fotografinnen Grete Stern
Fembio Special: Berühmte Fotografinnen
Grete Stern
(ringl [Künstlername])
geboren am 9. Mai 1904 in Elberfeld (heute: Wuppertal)
gestorben am 24. Dezember 1999 in Buenos Aires/Argentinien
deutsch-englisch-argentinische Fotografin und Graphikerin
25. Todestag am 24. Dezember 2024
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen • Bildquellen
Biografie
Sie ist der »ringl« von »ringl+pit«: Weil »Stern+Rosenberg« so sehr nach »jüdischer Kleidermanufaktur« (zit. n. Mandelbaum) klinge, taufen Grete Stern und Freundin Ellen Auerbach (geb. Rosenberg) ihr 1930 eröffnetes Berliner Fotostudio für Werbe- und Portraitfotografie kurzerhand nach ihren Kosenamen aus juvenilen Tagen.
Reich werden sie mit dem Studio nicht. Berühmt schon gar nicht: Ihre bisweilen surrealistisch montierten Werbeentwürfe sind zu ironisch. Zu experimentell für das meist verzopfte Unternehmertum der Weimarer Republik. Und als sich 1933 endlich erste, schleppende Erfolge abzeichnen, müssen beide Deutschland verlassen. Wegen ihrer jüdischen Wurzeln. Heute gelten ringl+pit als avantgardistische Vorzeige-Fotografinnen der Weimarer Republik. Und Grete Stern obendrein als Mitbegründerin der fotografischen Moderne Argentiniens.
»Ich war selbständig«: Elberfeld und London
Wie Else Lasker-Schüler, Milly Steger und Helene Stöcker stammt Grete Stern aus Elberfeld bei Wuppertal. Schon ihre Kindheit verbringt sie topographisch zweigeteilt: Ihre wohlbetuchten Eltern Frida Hochberger und Louis Stern sind in der Textilindustrie aktiv, häufig in London unterwegs, wo Stern zeitweise Unterricht erhält. Der frühe Tod des Vaters – die kleine Grete ist kaum sechs Jahre alt – bildet den ersten größeren Schicksalsschlag. Dank stattlicher finanzieller Ressourcen verbringt Stern dennoch eine von pekuniären Nöten unberührte Kindheit. Sie weiß Gitarre und Klavier zu bedienen, macht Abitur.
Rückblickend unterstreicht sie ihr frühes Autonomiestreben: »Ich war selbständig – bin eines Tages zum Frisör gegangen und habe die Haare kurz schneiden lassen – Bubikopf, und bestand darauf, meine Kleider selbst auszusuchen« (zit. n. ringl+pit, S. 12). 1923, mit 19 Jahren, beschließt sie, in den Süden der Republik zu ziehen: Sie beginnt ein Graphik-Studium in Stuttgart, an der Kunstgewerbeschule am Weißenhof. »Die Idee, Propaganda zu machen, hat mich zu Anfang begeistert« (zit. n. ringl+pit, S. 14), erklärt sie und macht sich 1926 als Werbegraphikerin selbständig – in Wuppertal. Von einer Ausstellung mit den Fotografien Edward Westons und Paul Outerbridges fasziniert, beginnt sie im Folgejahr eine Fotografinnen-Ausbildung in Berlin. Bei Walter Peterhans. Stern ist die erste Schülerin des berühmten, späteren Bauhaus-Meisters. Und lange Zeit die einzige.
»The best friend I ever had«: ringl+pit
»Wollen Sie ein Studio mit mir teilen?« (zit. n. Valdevieso, S. 214) überrumpelt Grete Stern Ellen Auerbach. Damals, 1930, kennen sich die beiden kaum: Nur kurz zuvor hatte Peterhans Ellen Auerbach als zweite Privat-Schülerin angenommen und Stern gebeten, Auerbach gelegentlich zu unterrichten. In seiner Abwesenheit. Nun aber war Peterhans einem Ruf ans Dessauer Bauhaus gefolgt. Und Stern plante, das Atelier für Werbe- und Portraitfotografie in der Schönhauser Straße 18A zu übernehmen. Samt Ausstattung und Wohnung.
Kurze Zeit später war »ringl+pit« geboren, die ungewöhnliche Arbeits-, Wohn- und Liebesgemeinschaft, die selbst im – partiell – liberalen Berlin als Rarität gilt. Anfangs stellt Auerbach, abgebrochene Bildhauerei-Studentin, die zwei Jahre ältere Stern auf einen mächtigen Sockel. Als elegantes, stets weltfrauisch in Pelz und Handtasche gehülltes Wesen, als »vielleicht … erste der vielen ‚Mutter-Figuren‘, denen ich lebenslang nachstellte« (zit. n. Graeve Ingelmann, S. 27).
Die selbstunsichere Auerbach sucht nach Vorbildern. Und in Stern wähnt sie den Inbegriff der autarken, emanzipierten Frau. In ihrem eigens zu Sterns 27. Geburtstag gefertigtem Album »Ringlpitis« (ein Band mit Gedichten und Illustrationen zum gemeinsamen, jenseits bürgerlicher moralischer Norm gesettelten Alltag) präsentiert sie Stern als besonnenen, bisweilen dominanten »Kraftmenschen«. Sich selbst als »Das fliegende Etwas«. »Ringl war viel ernster als ich, viel seriöser. Ich war frivolöser«, betont Auerbach noch als Seniorin (zit. n. Sykora, S. 93). Nach den ersten zügellosen Idealisierungen kommt es zu einer »gleichwertigen, begeisterten Zusammenarbeit«. Und zu einer lebenslangen Freundschaft. »The best friend I ever had«, bestätigt auch Stern (zit. n. Valdevieso, S. 212) – obwohl beide seit den ausgehenden 1930er Jahren tausende Meilen voneinander getrennt leben: Stern in Buenos Aires. Auerbach in New York.
»…nicht schmeicheln, sondern charakterisieren«: Künstlerische Ideale
Stern gilt als die handwerklich versiertere, analytischere. Auerbach als die parodistischere, spontanere. Das Gros ihrer Aufnahmen, vornehmlich Sach- und Portraitfotos, aber verrät keine Federführung. Sie teilen ihre künstlerischen Ziele, verteufeln die damals begehrten, überzogenen Hell-Dunkel-Kontraste. Sie wollen nicht »mit dem Hammer fotografieren« (Auerbach, zit. n. Emigriert, o.S.), arbeiten sich durch unzählige Graustufen. Walter Peterhans‘ gestrenger neusachlicher Blick – Stern nimmt weiterhin Unterrichtsstunden bei ihm am Bauhaus – bildet die allesbestimmende Basis. »Er hat uns Sehen gelehrt« (zit. n. ringl + pit, S. 11), »…nicht schmeicheln, sondern charakterisieren« (zit. n. Kranz) möchten sie. Strikt neusachlichkeits-getreu, verpönen sie Retusche und Blitz, inszenieren akribisch jedes Detail: Hier ein Stück Gewebe, dort ein halblinks gedrehter Handschuh. Auffallend häufig portraitieren sie ihre Mitmenschen liegend: Wegen der bohrend langen Belichtungszeiten.
ringl+pit laborieren minutiös am neuen Blick auf altgewohnte Materie: Alltägliches, scheinbar Nebensächliches, stellen sie auf den Kopf – zuweilen buchstäblich, wie beim sog. »Fragment« (1929), einem umgedrehten, verstümmelten Puppentorso. Die damals ihren Siegeszug antretende Reportagefotografie, das Bedienen des Auslösers im Sekundentakt, ist nicht ihr Ding. »Was ich nicht fotografiert habe, sind Sachen, zu denen man sich sehr schnell entschließen musste« (zit. n. Lerch), sagt Stern. Außenaufnahmen erstellen die beiden selten. Und wenn, stets menschenleer.
»Wir hatten keine Aufträge«: Erste Erfolge
Seit 1930 arbeiten Stern und Auerbach unermüdlich. Mal gemeinsam, mal getrennt. Ihre hochmodernen, collagenartig-experimentellen Entwürfe wirken dadaistisch/surrealistisch inspiriert und beeindrucken manchen Kunstzeitschriftenredakteur – der »Cahiers d’Art«, der »Gebrauchsgraphik«. »Ihre Arbeiten wurden als Werbung publiziert und als Kunst gelobt«, resümiert Maud Lavin fünf Dekaden später. ringl+pits Einnahmen sind dennoch dürftig. Fixiert seien sie nicht auf den kommerziellen Erfolg, betonen sie, sondern auf das künstlerische Experiment. »Wir nahmen vieles auf, nur um zu lernen« (Auerbach, zit. n. Lerch).
Beide ernähren sich – überwiegend – von einer kleinen Erbschaft Sterns. »Wir hatten keine Aufträge und ich hatte ein schlechtes Gewissen, dass Grete unsere Arbeit finanzierte« (zit. n. ringl+pit, S. 13), bekennt Auerbach. Um 1931/32 kontaktiert sie daher die Agentur Mauritius, die ihnen tatsächlich ein paar Aufträge vermitteln kann. Mutmaßlich darunter: Die inzwischen vielfach reproduzierten Werbeaufnahmen für das Rachitis-Medikament »Heliocitin«, das Haartonikum »Pétrole Hahn« und den Haartöner »Komol«. Allesamt gelten diese Arbeiten heute als »herausragende Beispiele der fotografischen Umsetzung werblicher Ideen« (Baumann, S. 65). Speziell die »Komol«-Werbung fand sogar schon zeitgenössisch Anerkennung: 1933 ergattern ringl+pit mit dem Entwurf in Brüssel den Ersten Preis der 12. Internationalen Ausstellung für Fotografie und Film.
»Wir haben es einfach so gemacht«: Frauen und Schaufensterpuppen
Die Majorität von ringl+pits Arbeiten wird zeitgenössisch missverstanden. Die gesellschaftskritischen, offen ironisch-parodistischen Facetten werden eingangs gern übersehen und erst seit den 1970er Jahren – primär von gendersensiblen WissenschaftlerInnen – thematisiert. ringl+pit hätten dem »System der zeitgenössischen Werbung feine Risse« zugefügt, begeisterte sich u.a. die US-amerikanische Kunsthistorikerin Maud Lavin 1988. Die wunderbar augenzwinkernde Pétrole Hahn-Werbung , hätte »Frau und Puppe (oder Frau und Ware)« in völlig überzogener Weise verschmolzen und damit die gängige Werbepraxis – die Diskreditierung der Frau zur Schaufensterpuppe – ad absurdum geführt.
Stern, die nicht nur den Nationalsozialismus, sondern auch die argentinische Militärdiktatur zu überstehen hatte, gab sich in der Öffentlichkeit meist politisch unverfänglich. »Ich habe nie viel politisch gedacht… ich habe mich leicht angepasst« (Stern, zit. n. Lerch). Entsprechend bestätigte sie Lavins Sicht nicht. Zumindest nicht offiziell. Aber Auerbach: »Als ich Mauds Artikel über ringl+pit gelesen habe, war ich erstaunt und habe gedacht, ach, so sind wir gewesen?« (zit. n. Emigriert, o. S.). »Im Resultat« hätte Lavins Beobachtung durchaus den Kern getroffen, wenn die Motivation auch »viel unbewusster« gewesen sei: Beide hätten keinesfalls gedacht, »das Advertising muss jetzt revolutioniert werden«. »Wir haben es einfach so gemacht, wie es uns interessant schien«.
»Wir waren traurig für die ganze Situation«: Exil
»Es war ein Schnitt. Ich habe die Wohnung verloren. Ich habe die Möbel verloren« (zit. n. Lerch) beschreibt Grete Stern ihre Flucht aus NS-Deutschland: Im Herbst 1933, mit 29 Jahren, kehrt sie an den Ort ihrer Kindheit, nach London, zurück: »Wir wollten nicht warten bis eines Tages einer zu uns in die Wohnung kommt« (zit. n. ringl+pit, S. 15) begründet sie den frühzeitigen Weggang. »Wir waren traurig für die ganze Situation« (zit.n. Lerch), so Stern. Denn sie muss sich von Auerbach, die keine Einreisegenehmigung erhält und mit ihrem Gatten in spe, Walter Auerbach, nach Palästina geht, trennen.
Dank ihres Erbes kommt Stern einigermaßen über die Runden. Sie besitzt einen britischen Pass, spricht fließend Englisch. Ihrer Tätigkeit als freiberufliche Werbe- und Portraitfotografin – u.a. lichtet sie nun Helene Weigel und Bert Brecht ab – steht damit weniger im Wege als den meisten NS-Flüchtlingen.
1935 ehelicht Stern den argentinischen Fotografen Horacio Coppola (1906-2012). 1936 übersiedeln sie gemeinsam nach Buenos Aires. Aus der knapp sechs Jahre währenden Ehe gehen zwei Kinder hervor: Silvia (*1936) und Andrés (*1940). Andrés wählt früh – mit 25 Jahren – den Freitod. Stern, deren Mutter sich ebenfalls das Leben nahm, kann den Verlust nur schwer überwinden.
»Ich wollte dokumentieren, was ich sah«: Argentinien
In der neuen Heimat versucht Stern rasch Fuß zu fassen: 1937 eröffnet sie mit Coppola ein Werbe- und Fotostudio. In Ramos Mejía, einem Vorort von Buenos Aires, lässt sich das Paar vom Avantgarde-Architekten Wladimiro Acosta ein Haus bauen. Das schmucke Gebäude avanciert zum Treffpunkt der Kunstszene – u.a. der VertreterInnen der Gruppe MADI.
1943 lädt Stern zu ihrer ersten Einzelausstellung. Bekannt wird sie vor allem auch wegen ihrer Arbeit »Los Sueños« (Die Träume): Rund 140, inzwischen größtenteils zerstörte Fotomontagen, die sie zwischen 1948 und 1951 für die beliebte argentinische Frauenzeitschrift »Idilio« kreiert – als Illustrationen für die Rubrik »Psychoanalyse wird Ihnen helfen«. Trotz der eher traditionsbewussten LeserInnenschaft wagt Stern dabei mitunter erstaunlich geschlechtsrollenkritische Motive.
»Ich wollte dokumentieren, was ich sah« (zit. n. Lerch) erläutert Stern indes die Arbeit, die ihr retrospektiv am wichtigsten scheint: Ihre Fotos von der indigenen Bevölkerung des Gran Chaco im Norden Argentiniens (1958-64). Rund 1500 Aufnahmen umfasst die Serie, die mittlerweile als »erstes großes Projekt fotografischer Sozialdokumentation in der argentinischen Fotogeschichte« (Weber/Otterbeck, S. 230) anerkannt wird. Nach eigener Aussage wurde dabei keine einzige Szene gestellt. Und tatsächlich verliert sich Stern weit weniger als andere FotografInnen ihrer Generation – beispielsweise als Germaine Krull – im vielbeschworenen, distanzlos-diffamierenden »kolonialen Blick«.
1985, mit 81 Jahren, legt Stern den Fotoapparat für immer beiseite. »Es hat mich nicht mehr interessiert« (zit. n. Lerch), sagt sie lapidar.
»Eine argentinische Fotografin«: Wiederentdeckung
Als Mitte der 1970er Jahre deutsche ForscherInnen auf Grete Stern aufmerksam werden, reduzieren sie die ihrerzeit seit vier Jahrzehnten in Argentinien lebende Künstlerin primär auf ihr Œuvre der Weimarer Republik. Und auf ihre Kontakte zur meistzitierten deutschen Kunstschule, zum Bauhaus. Stern dagegen definiert sich längst als »eine argentinische Fotografin« (zit. n. Weber/Otterbeck, S. 245): Seit 1958 besitzt sie einen argentinischen Pass. In Deutschland verbrachte sie nicht einmal ein Drittel ihres Lebens. Dass sie und Auerbach nun plötzlich als redliche Bahnbrecherinnen moderner Fotografie der Zwischenkriegszeit gehandelt werden, dürfte sie nichtsdestotrotz positiv berührt haben. »Ich habe (immer) gern meine Arbeiten gezeigt« (zit. n. Lerch), gibt sie preis.
»Während Du läufst, merkst Du nicht, dass Du vorläufst« (zit. n. Mandelbaum) kommentiert unterdessen Auerbach die unverhoffte Adelung zur Wegbereiterin. An Stern schreibt sie: »Ich werde mich nie ganz aufhören können zu wundern, dass wir noch mal ‚ins Geschäft‘ gekommen sind« (zit. n. Valdevieso, S. 227). Zugleich spielt Auerbach das frisch entflammte wissenschaftliche Interesse an ringl+pit humorvoll herunter: Sie und Stern, scherzt sie, seien einfach zu vielfach »verwendbar« (zit. n. Graeve Ingelmann, S.11). Wohl wahr: Als unkonventionelle Arbeitsgemeinschaft. Als lebenslange Freundinnen. Als Pionierinnen des Neuen Sehens. Als experimentierhungrige Avantgardistinnen. Als ungeliebte Jüdinnen. Als Überlebenskünstlerinnen im Exil. Als kämpferische, von spätem Erfolg gekrönte Seniorinnen. – Und als Liebespaar. Das aber verschweigt die Forschung nur allzu gern.
Verfasserin: Annette Bußmann
Zitate
Wenn jemand mich fragt: was wollen Sie mit Ihren Bildern? Ich will, dass jemand genau das gleiche sieht, was ich sehe: was mich interessiert an der Landschaft, was mich interessiert an den Sachen. Das möchte ich fotografieren, damit jemand anders es sehen kann – mitteilen, was ich sehe.
(zit. n. Emigriert…, 1988)
Man wird in meinen Bildern sehen, was ich will, dass man sieht.
(zit. n.: Küppers, 2010)
Links
Ringl and Pit. Seite zum Film, mit Biografien und vielen Fotos.
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artnet: Auktionsresultate für Grete Stern Kunst.
Online verfügbar unter http://www.artnet.de/K%C3%BCnstler/grete-stern/auktionsresultate, zuletzt geprüft am 29.04.2019.
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Online verfügbar unter http://cvaa.com.ar/03biografias/stern.php, zuletzt geprüft am 29.04.2019.
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Bildquellen
Il mondo di orsosognante
Vendabal
Fabián Sánchez
indexfoto
Socialphy – Arnold Jackson
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