Fembio Specials Nobelpreisträgerinnen Grazia Deledda
Fembio Special: Nobelpreisträgerinnen
Grazia Deledda
(Grazia Maria Cosima Damiana Deledda; Gràssia/Gràtzia Deledda (sardisch))
geboren am 27. September 1871 in Nuoro, Sardinien
gestorben am 15. August 1936 in Rom
italienische Schriftstellerin; Nobelpreisträgerin (1926)
150. Geburtstag am 27. September 2021
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
„Und der Himmel verhieß heuer eine gute Ernte, ließ die Mandelbäume und Pfirsichsträucher im Talgrund in üppiger Blüte prangen; und dieser, eingesäumt von zwei weißen Hügelketten, mit den blaudunstigen Bergen fern im Westen und dem schimmernden Meer im Osten, war wie eingebettet in grüne und blaue Schleier, darunter der Fluss seine einschläfernde Weise murmelte.“
(aus: „Canne al vento“, Übersetzung 1930)
Solche eindrucksvollen Naturbeschreibungen sind typisch für die sardische Schriftstellerin Grazia Maria Cosima Damiana Deledda. Das Zitat stammt aus dem Roman „Schilf im Wind“ (italienisch „Canne al vento“, 1913), dem Lieblingsroman der Autorin.
Berühmt wurde sie mit Erzählungen menschlicher Schicksale aus dem Inneren Sardiniens, genauer aus Nuoro, einem kleinen Städtchen am Fuße des Monte Ortobene und seiner wilden Umgebung, der Barbagia. Eine unwirtliche Berggegend, bekannt für ihr raues Klima, schwer zugängliche Dörfer, stolze und eigensinnige BewohnerInnen.
Grazia Deledda wurde am 27. September 1871 als fünftes von sieben Kindern in Nuoro geboren. Ihr Vater war dort Bürgermeister; ein strenger und angesehener Händler, der mit Kork, Kohle und Käse handelte, Anwalt und auch Dichter. Die Mutter – Analphabetin, wie zu dieser Zeit fast alle Frauen auf Sardinien – kümmerte sich um den großen Haushalt. Sie war zurückgezogen und wirkte still und fast rätselhaft, wie es im autobiografischen Roman „Cosima“ heißt.
Grazia war ein aufgeschlossenes und begabtes Mädchen mit guter und schneller Auffassungsgabe, zudem neugierig und zielstrebig. Bereits vor der Einschulung konnte sie lesen und schreiben, allerdings besuchte sie die Schule nur bis zur 4. Klasse; zuhause wurde ausschließlich der sardische Dialekt gesprochen. Grazia lernte privat Italienisch, Französisch und Latein. Sie beschäftigte sich früh mit Literatur und las von der Bibel über italienische Romane bis hin zu den großen ausländischen Autoren ihrer Zeit alles, was ihr in die Hände kam.
Ihre erste Novelle „Sangue Sardo“ („Sardisches Blut“) veröffentlichte sie mit 17 Jahren in einer römischen Zeitung. In Nuoro wurde das übel vermerkt, weil man dort nicht gewöhnt war, ein weibliches Wesen mit etwas Anderem als mit häuslichen Dingen beschäftigt zu sehen. Auch ihre Angehörigen waren gegen das Schreiben, weil sie befürchteten, dass kein Mann eine schreibende Frau heiraten wolle und sie ihre Familie und das gesamte Dorf in Verruf bringe.
Diese Anfeindungen bewirkten, dass Grazia lange Zeit heimlich schrieb. Neben dem finanziellen Wohlstand erlebte sie auch mehrere dramatische und tragische Ereignisse in ihrer Familie: ein Bruder gab wegen Alkoholsucht sein Medizinstudium auf, ein anderer Bruder wurde kriminell, der Vater starb 1892 an einem Herzinfarkt, vier Jahre darauf starb auch ihre Schwester Vincenza.
Obwohl es in Nuoro um die Jahrhundertwende ein reges kulturelles Leben gab, und im Café Tettamanzi illustre Männer ein- und ausgingen, spielte sich das Leben – gerade für Frauen – fern der Welt ab. Auflockerung erfuhr der eintönige Alltag lediglich bei den Volksfesten und im Karneval, wo getanzt und gesungen wurde.
1899 zog Grazia Deledda in die sardische Hauptstadt Cagliari; sie erhoffte sich dort ein besseres literarisches Umfeld. Unter dem damaligen Bürgermeister entwickelte sich Cagliari in der Belle Époque zu einem mondänen Städtchen; es wurde viel gebaut, und es herrschte ein offenes und lebendiges Klima. Grazia war Gast bei Maria Manca, der Herausgeberin der Zeitschrift „La donna sarda“ und lernte dort ihren zukünftigen Mann Palmiro Madesani kennen, einen italienischen Finanzbeamten, den sie 1900 heiratete.
Mit ihm zog sie nach Rom, wo sie bis zu ihrem Tod blieb. Sie teilte ihr Leben zwischen familiären Pflichten – sie gebar zwei Söhne, Franz und Sardus, – und dem schriftstellerischen Werk. Ihr Ehemann unterstützte und förderte sie in ihrer Arbeit und wurde zu ihrem wichtigsten Mitarbeiter. An den politischen, sozialen und literarischen Auseinandersetzungen ihrer Zeit nahm sie nicht oder nur wenig teil. Ihre Entdeckung war Sardinien. Sie wollte ihr geliebtes Sardinien auf der ganzen Welt bekannt machen. Und zwar nicht indem sie von historischen Ereignissen erzählte, sondern indem sie den zeitlosen Kosmos der jahreszeitlichen Wandlungen, die Dinge, die die Menschen in ihren Herzen bewegen und die Objekte des täglichen Gebrauchs minutiös beschrieb.
1908 nahm sie am ersten italienischen Frauenkongress teil, der von der Pädagogin Maria Montessori organisiert wurde. In „Cosima“ (1937 posthum) beschreibt sie sich selbst:
Von kleiner Gestalt, mit breitem Kopf, den winzigen Händen und Füßen, hatte sie alle charakteristischen äußeren Merkmale der Frauen ihrer – vielleicht libyschen – Rasse. Das Profil war etwas stumpf, das Gebiss kräftig, die Oberlippe stark verlängert. Aber sie hatte eine weiße, samtige Haut, sehr schöne schwarze, leicht gewellte Haare und große, mandelförmige Augen von jenem goldenen Schwarz, das manchmal grün schimmert und die große Pupille der hamitischen Frauen, die ein lateinischer Dichter „die doppelte Pupille“ nannte und deren Aufblitzen unwiderstehlich ist.
„La Deledda“, wie sie wohlwollend von den InselbewohnerInnen, die sich im Glanz ihres Erfolges sonnen, genannt wird, schrieb 350 Novellen, 30 Erzählungen, 8 Fabeln, 15 Skizzen, 35 Romane und unzählige Briefe.
Ihr bedeutendstes Buch ist „Canne al vento“ („Schilf im Wind“) von 1913, immer wieder von verschiedenen Verlagen aufgelegt und in viele Sprachen übersetzt. Darin beschreibt sie den tristen und arbeitsreichen Alltag einer verarmten Familie im kargen Inland Sardiniens; die Geschichte der drei Schwestern Ruth, Noemi und Esther Pintor und des Knechts Efix gibt einen guten Einblick in die archaische und sinnliche Naturwelt der Insel, beseelt von Zauberwesen und magischen Kräften.
Sie ist bis heute die einzige italienische Schriftstellerin und einzige Sardin, die den Literaturnobelpreis erhielt und die zweite Frau nach Selma Lagerlöf (1909). Sie erhielt den Preis 1926 für “ihre von Idealismus inspirierten Werke, die mit Anschaulichkeit und Klarheit das Leben auf der Insel ihrer Geburt schildern, und die mit Tiefe und Wärme die Probleme des menschlichen Lebens im Allgemeinen behandeln“.
Grazia Deledda starb im Alter von 64 Jahren am 15. August 1936 in Rom an Krebs. Sie ist am Monte Ortobene, in einem Sarkophag in der „Chiesa della Solitudine“ („Kirche der Einsamkeit“) begraben. Ihr Geburtshaus im historischen Zentrum von Nuoro befindet sich in der heutigen Via Grazia Deledda und ist das dreistöckige „Museu deleddiano“. Der literarische Park „Grazia Deledda von Galtellì“ lädt regelmäßig zu Spaziergängen zu den Schauplätzen von „canne al vento“ ein.
Die wichtigsten ihrer Werke in deutscher Übersetzung
- „Racconti sardi“ (1895, „Sardinische Geschichten“),
- „Elias Portolu“ (1903, „Die Maske des Priesters“),
- „Cenere“ (1904, „Asche“),
- „Nostalgie“ (1905, „Heimweh“),
- „L’edera“ (1906, „Der Efeu“),
- „Il vecchio della montagna“ (1906, „Der Alte vom Berg“),
- „Canne al vento“ (1913, „Schilf im Wind“),
- „Naufraghi in porto“ (1920, „Schiffbrüchige im Hafen“),
- „La madre“ (1920, „Die Mutter“),
- „La fuga in Egitto“ (1925, „Die Flucht nach Ägypten“),
- „Cosima“ (Memoiren, 1937 posthum, „Cosima, die Jugend einer Dichterin“).
(Text von 2020)
Verfasserin: Heidi Hintner und Ingrid Windisch
Deledda-Biografie von Roswitha Springschitz
Zitate
Die Deledda stellt die archaische, untergegangene, sardische Welt vor, in der Pferdehufe und Schritte noch von weither zu hören waren und das Feuer in der Küche nie ausging. Die Marianna ist eine stolze und starke Frau, wie sie in jener Zeit kaum in der Literatur erscheint. Die Deledda erzählt spannend, anrührend und poetisch. Wenn man denkt, was seither - Erscheinungsjahr 1915 - alles zurecht vergessen und unlesbar geworden ist, dann ragt dieser Roman brillant heraus. Fazit: allerbeste Lektüre, sehr empfehlenswert.
(Amazon-Rezension zu “Marianna Sirca” von hjk)
Links
Angelini, Franca (2022): Beautiful Minds - Grazia Deledda - 1926. Biogr. (ital.) mit schönen Familienfotos. Istituto e Museo di Storia della Scienza.
Online verfügbar unter https://brunelleschi.imss.fi.it//nobel/inob.asp?c=703831&xsl=1, zuletzt geprüft am 02.05.2022.
Frauenarchiv der Universität Düsseldorf (2011): Nobelpreisträgerinnen für Literatur - Grazia Deledda.
Online verfügbar unter http://wwwalt.phil-fak.uni-duesseldorf.de/frauenarchiv/npt_neu/deledda.html, zuletzt geprüft am 02.05.2022.
Google-Doodles (2022): 10. Dezember 2017 – Grazia Deledda.
Online verfügbar unter https://www.google.com/doodles/celebrating-grazia-deledda, zuletzt geprüft am 02.05.2022.
I Parchi Letterari (2022): Grazia Deledda - Il Parco Deledda.
Online verfügbar unter https://www.parchiletterari.com/parchi/grazia-deledda/index.php, zuletzt geprüft am 02.05.2022.
Küpper, Joachim (2019): Grazia Deledda (1926). Aus: Olk/Zepp (Hg.) »Nobelpreisträgerinnen. 14 Schriftstellerinnen im Porträt.« De Gruyter, Berlin, 2019, S. 31–46. PDF-Datei.
Online verfügbar unter https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110619034-003/pdf, zuletzt geprüft am 02.05.2022.
NobelPrize.org (2022): The Nobel Prize in Literature 1926.
Online verfügbar unter https://www.nobelprize.org/prizes/literature/1926/summary/, zuletzt geprüft am 02.05.2022.
Orlick, Manfred von (2021): Von der Autodidaktin zur Literaturnobelpreisträgerin - Zum 150. Geburtstag der italienischen (sardischen) Schriftstellerin Grazia Deledda : literaturkritik.de. literaturkritik.de, Nr. 10, Oktober 2021.
Online verfügbar unter https://literaturkritik.de/deledda-schilf-im-wind,28277.html, zuletzt geprüft am 02.05.2022.
Perlentaucher (2022): Grazia Deledda - 2 Bücher. Kurzbiografie und Rezensionen.
Online verfügbar unter https://www.perlentaucher.de/autor/grazia-deledda.html, zuletzt geprüft am 02.05.2022.
Projekt Gutenberg (2022): Deledda, Grazia. Werke online (dt.): Bis an die Grenze (Roman) | Das Geheimnis (Roman) | Die Flucht nach Ägypten (Roman) | Schilfrohr im Winde (Roman).
Online verfügbar unter https://www.projekt-gutenberg.org/autoren/namen/deledda.html, zuletzt geprüft am 02.05.2022.
Raukamp, Nicole (2014): Grazia Deledda: rund um Nuoro auf den Spuren der Literatur-Nobelpreisträgerin. In: Nicole Raukamp, 14.10.2014.
Online verfügbar unter https://pecora-nera.eu/la-deledda-rund-um-nuoro-auf-den-spuren-der-literatur-nobelpreistraegerin/, zuletzt geprüft am 02.05.2022.
SardegnaTurismo - Sito ufficiale del turismo della Regione Sardegna (2015): Grazia-Deledda-Museum.
Online verfügbar unter https://www.sardegnaturismo.it/de/entdecken/grazia-deledda-museum, zuletzt geprüft am 02.05.2022.
vom Hove, Oliver (2021): Grazia Deledda: Disteln aus Sardinien.
Online verfügbar unter https://www.furche.at/kritik/literatur/grazia-deledda-disteln-aus-sardinien-6185623, zuletzt geprüft am 02.05.2022.
Zambon, Patricia (2022): Grazia Deledda – Opere. Bibliografie (ital.).
Online verfügbar unter http://www.maldura.unipd.it/italianistica/ALI/deledda.html, zuletzt geprüft am 02.05.2022.
Weitere italienischsprachige Links siehe italienische Version!
Literatur & Quellen
Werke (deutschsprachige Ausgaben)
Deledda, Grazia (1987): Schweres Blut. Roman. Übersetzung: Dorothea Radtke. 1. Aufl. Nördlingen. Greno. (Greno 10, 20, 43) ISBN 9783891908433.
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Deledda, Grazia (1988): Der Efeu. Eine sardische Familientragödie. (=L'edera)1. Aufl. Unter Mitarbeit von Irene Kruse. Berlin. Verlag Das Neue Berlin. ISBN 9783360001610.
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Deledda, Grazia (1989): Die offene Tür und andere sardische Novellen. (=Romanzi e novelle) Übersetzung: Lieselotte Losano und Emma Müller-Röder. Mit Illustrationen von Dominik und Daniel Neisser. 1. Aufl. Stuttgart. ComMedia & Arte Verl. Mayer. ISBN 9783924244170.
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Deledda, Grazia (1992): Die Maske des Priesters. Roman. (=Elias Portolu) Übersetzung: Elisabeth Berling. Überarb. von Christine Mrowietz und Susanne Eversmann. Ungekürzte Ausg. München. Dt. Taschenbuch-Verl. (dtv, 11617) ISBN 9783423116176.
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Deledda, Grazia (1997): La madre. Roman. Übersetzung: Hans-Norbert Hubrich. Genehmigte Taschenbuchausg., 1. Aufl. Unter Mitarbeit von Uta Ranke-Heinemann. München. Goldmann. (btb, 72147) ISBN 9783442721474.
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Deledda, Grazia (1998): Cosima. Roman. (=Cosima)Ungekürzte Ausg. Berlin. Ullstein. (Ullstein, 24337) ISBN 9783548243375.
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Deledda, Grazia (1998): Zia Maria. Roman. (=La via del male) Übersetzung: Hans-Norbert Hubrich. Genehmigte Taschenbuchausg., 1. Aufl. München. Goldmann. (btb, 72148) ISBN 9783442721481.
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Deledda, Grazia (2004): Marianna Sirca. Roman. Übersetzung: F. Gasbara. Herausgegeben von Ute Stempel. Düsseldorf, Zürich. Artemis und Winkler. (Winkler Weltliteratur : Blaue Reihe) ISBN 9783538069855.
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Deledda, Grazia (2021): Schilf im Wind. Roman. Überarbeitete Neuausgabe, kommentiert von Jochen Reichel. (=Canne al vento) Übersetzung: Bruno Goetz. Unter Mitarbeit von Federico Hindermann. Zürich. Manesse Verlag. (Manesse Bibliothek, 22) ISBN 9783641275341.
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Weiterführende Literatur
Dedola, Rossana (2017): Grazia Deledda. I luoghi, gli amori, le opere. Prima edizione. Roma. Avagliano; Avagliano editore. (La memoria e l'immagine, 27) ISBN 978-88-8309-284-8.
(Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
King, Martha (2005): Grazia Deledda. A legendary life. Leicester. Troubador. (Troubador Italian studies) ISBN 1904744672.
(Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Marrocu, Luciano (2016): Deledda. Una vita come un romanzo. Roma. Donzelli editore. (Virgola, 125) ISBN 9788868435639.
(Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Redlin, Monika: Die literarische Übersetzung zwischen Theorie und Praxis. Zugl.: Wien, Univ., Diss., 2004. 437 S. Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien. (Wiener Beiträge zu Komparatistik und Romanistik, Bd. 14) ISBN 9783631534489.
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