Fembio Specials Pionierinnen der Frauenbewegung Gertrud Bäumer
Fembio Special: Pionierinnen der Frauenbewegung
Gertrud Bäumer
geboren am 12. September 1873 in Hohenlimburg (heute zu Hagen)
gestorben am 25. März 1954 in Bethel bei Bielefeld
deutsche Frauenrechtlerin, Politikerin und Schriftstellerin
70. Todestag am 25. März 2024
Biografie • Literatur & Quellen
Biografie
Gertrud Bäumer stand ab 1900 drei Jahrzehnte lang mit Helene Lange an der Spitze des „gemäßigten Flügels“ der bürgerlichen Frauenbewegung in Deutschland. Gemeinsam gaben sie die Monatszeitschrift “Die Frau“ und das „Handbuch der Frauenbewegung“ heraus. Viele Gymnasien tragen den Namen Langes oder Bäumers, denn sie kämpften vor allem für Gleichberechtigung in den Bereichen Schule, Ausbildung und Beruf. Als Politikerin arbeitete Bäumer im Reichstag, im Innenministerium und im Völkerbund. Als ihr dies nach 1933 versagt wurde, betätigte sie sich mit gleichem Erfolg als Schriftstellerin.
Gertrud Bäumer wurde 1873 in Hohenlimburg (heute ein Stadtteil von Hagen) geboren. Die Vorfahren väterlicherseits sind „Generationen von Pastoren“, und auch Emil Bäumer, ihr Vater, war Pastor, arbeitete aber „wegen der kühnen Aufrichtigkeit seiner Überzeugungen“, die sich mit der Amtskirche nicht vertrugen, für den Schuldienst. „Die Mutter war – die Mutter“ (Bäumer, Lebensweg 10). Emil und Caroline Bäumer, geb. Schede, hatten drei Kinder, Gertrud war die Älteste - nach ihr folgten im Jahresabstand noch Carl und Elisabeth, genannt Else, „richtige Beamtenkinder, ‚versetzt’ und wieder ‚versetzt’“. (Lebensweg 10/11)
1876 wurde der Vater nach Cammin in Pommern versetzt. Gertrud verlebte dort eine sehr glückliche, freie Kindheit in einem Haus hoch über dem Bodden mit weitem Blick über das Wasser.
Als sie etwa 8 Jahre alt war, ging es wieder zurück in den Westen, nach Mülheim/Ruhr.
Der Vater erkrankt, er stirbt 1883 mit 36 Jahren an einem Nierenleiden; Gertrud ist neun Jahre alt. Die Mutter, deren Witwenpension zum Leben nicht ausreicht, zieht mit ihren drei Kindern zurück zu ihrer Mutter, die als Justizratswitwe in Halle an der Saale lebt. Auch ihre verwitwete ältere Schwester hat dort mit ihren beiden Kindern Zuflucht gefunden. Bäumer wird für ihr ganzes Leben „von diesen Jugendjahren im großmütterlichen Haus“ stark beeinflusst, „weniger von Personen, als von der eigentümlich eindringlichen Atmosphäre, Haltung und inneren Ordnung einer alten Beamtenfamilie“. (Lebensweg 39)
Sie besucht die Höhere Töchterschule in Halle und möchte Lehrerin werden, um ihren eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Die wirtschaftliche Abhängigkeit ihrer Mutter lehnt sie für sich genau so ab wie „die Spirale um die eigene Achse“ - das Warten auf einen passenden Ehemann, verbracht mit dem Schmücken des Ballkleides, wie es die Cousine ihr vorlebt.
Mit diesem Bestreben lag Bäumer also schon früh ganz auf der Linie der damaligen bürgerlichen Frauenbewegung, die weniger eine Stimmrechts- als eine Frauenbildungsbewegung war.
Nach dem Lehrerinnenexamen tritt Bäumer mit 19 Jahren eine Lehrerinnenstelle in Kamen/Westfalen an. Eine ältere Kollegin erzählt ihr von Helene Lange und gibt ihr die Zeitschrift „Die Lehrerin“. Nach einem kurzen, schwierigen Intermezzo an einer Mädchenvolksschule in Magdeburg, wo sie die einzige weibliche Lehrkraft ist, wechselt Bäumer 1895 an eine dortige private höhere Mädchenschule mit jungem und rein weiblichem Kollegium. Zwei Jahre Berufserfahrung an einer höheren Mädchenschule sind nämlich für Frauen Voraussetzung zum Besuch von Universitätsveranstaltungen. Mit ihren Kolleginnen gründet sie einen Lehrerinnenverein und wird in den Vorstand gewählt.
1898 geht Gertrud Bäumer nach Berlin, um sich auf die Oberlehrerinnenprüfung vorzubereiten, damals für Frauen die zweite Voraussetzung zum Universitätsstudium. Sie besteht die Prüfung im Frühjahr 1900 und beginnt sofort mit dem Studium der Theologie, deutschen Literatur, Germanistik und Philosophie bei Adolf von Harnack, Erich Schmidt und Wilhelm Dilthey. Diese Herren sind dem Frauenstudium gegenüber relativ aufgeschlossen und gestatten Bäumer, an ihren Veranstaltungen teilzunehmen. Regulären Zugang zum Studium bekamen die Frauen in Preußen erst im Jahre 1908. Da hatte Bäumer nicht nur schon längst promoviert (1904, über Goethe), sondern auch, zusammen mit Helene Lange, das fünfbändige Mammut- und Standardwerk „Handbuch der Frauenbewegung“ (1901-1906) herausgegeben.
Helene Lange (1848-1930) ist, als Bäumer 24jährig nach Berlin kommt, unangefochten die Führungsgestalt der deutschen Frauenbewegung Aber sie erkrankt an den Augen, was heftige Migräne auslöst, die sie tagelang arbeitsunfähig macht. Bäumer wird von den Mitkämpferinnen als Helferin vorgeschlagen und setzt sich voll ein; bald wird sie Lange unentbehrlich. 1899 ziehen Bäumer und Lange in Berlin zusammen; die Lebensgefährtin Langes, Dora Sommer, die ihr bis dahin den Haushalt geführt hat, muss weichen. Lange und Bäumer pflegen eine einfache, aber gediegene Häuslichkeit inklusive Dienstmädchen und Hausmusik. Beide sind musikliebend, können singen und Klavier spielen. Im übrigen arbeiten sie wie besessen, stützen und fördern sich gegenseitig und wachsen zu einem extrem effektiven Dream-Team der deutschen Frauenbewegung zusammen. Wie weit oder tief diese Beziehung ging, darüber ist fast nichts bekannt. Privates bleibt eisern unter Verschluss, besonders seit die männliche Sexualwissenschaft die bis dahin angesehenen weiblichen Lebensgemeinschaften als „widernatürlich“ verdächtigt.
Aber vielleicht lassen sich aus Bäumers zweiter Lebensgemeinschaft mit der Schriftstellerin Gertrud von Sanden (1883-1940) Rückschlüsse ziehen. Sie lernten sich 1921 kennen und zogen nach Helene Langes Tod 1930 zusammen. Von Sanden schrieb unter dem Pseudonym M.B. Kennicott über ihre Beziehung mit Bäumer einen Schlüsselroman in Briefform, „Das Herz ist wach“ (1934), „ein gefühlsbetontes, nahezu schwärmerisches Buch“ (Reicke). Das ist stark untertrieben. Tatsächlich ist der Briefroman Großes Gefühlskino. Die beiden Korrespondierenden, eine Diplomatin und ein wesentlich älterer wohlhabender Gutsbesitzer und Schöngeist, sind wahnsinnig verliebt ineinander und erklären sich gegenseitig ununterbrochen auf über 300 Seiten ihre brennende Sehnsucht und ewige Liebe. Alles rein platonisch – über einen zarten Kuss im Mondenschein kommen sie nicht hinaus - dabei siedend heiß. So empfinden eher Lesben, dachte ich beim Lesen, vor allem, wenn sie ihre Gefühle nicht ausleben dürfen. Noch in den 1950er Jahren war das Buch äußerst beliebt – es versorgte die Leserinnen wohl mit Stoff, den sie in ihrem Leben schmerzlich vermissten.
Von Helene Lange als ihre Nachfolgerin erwählt und aufgebaut, durchläuft die hochmotivierte, vielseitig begabte und charismatische Gertrud Bäumer innerhalb der Frauenbewegung eine Blitzkarriere. Manche der älteren Mitstreiterinnen fühlen sich zurückgesetzt. Lange sorgt schon 1899 dafür, dass Bäumer in den Vorstand des ADLV (Allgemeiner deutscher Lehrerinnenverein) gewählt wird. Die von Lange 1893 gegründete Monatszeitschrift „Die Frau“ geben sie nun gemeinsam heraus. 1910 wird Bäumer Vorsitzende des Bundes deutscher Frauenvereine und bleibt es bis 1919; von 1919 bis zu seiner Selbstauflösung 1933 ist sie stellvertretende Vorsitzende.
Damit nicht genug, arbeitete Bäumer ab 1912 auch noch an der Zeitschrift „Die Hilfe“ mit, die ihr enger Freund und Förderer Friedrich Naumann, einer der Väter des deutschen Liberalismus, herausgab. Zur Unterstützung der Nation im ersten Weltkrieg gründet und leitet Bäumer den „Nationalen Frauendienst“, der sich um Kriegswitwen und –waisen kümmert und die Arbeit der Frauen an der „Heimatfront“ organisiert. Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann, die beiden Führerinnen des radikalen Flügels der Frauenbewegung und radikale Pazifistinnen, initiierten und organisierten derweil den internationalen Frauenfriedenskongress 1915 in Den Haag, dessen Forderungen bis heute aktuell sind.
Mitten im Krieg ziehen Bäumer und Lange 1916 nach Hamburg um. Zusammen mit Marie Baum baut Bäumer dort die Soziale Frauenschule und das Sozialpädagogische Institut auf.
1918 konnte mann den Frauen das Wahlrecht nicht mehr vorenthalten, hatten sie doch während der Kriegszeit an der „Heimatfront“ die gesamte „Männerarbeit“ souverän erledigt (und die „Frauenarbeit“ sowieso). Bäumer wird für die von Naumann gegründete DDP (Deutsche demokratische Partei, eine Vorstufe der heutigen FDP) in den Reichstag gewählt. Außerdem wird sie die erste Ministerialrätin Deutschlands, und zwar im Innenministerium, zuständig für das Schulreferat und die Jugendwohlfahrt. Von 1926-1933 ist sie Delegierte beim Völkerbund in Genf.
1933, mit Beginn der NS-Herrschaft, verliert Bäumer alle politischen Ämter. Die „Freisetzung“ nutzt sie für ihre Autobiographie „Lebensweg durch eine Zeitenwende“, die sie in drei Monaten niederschreibt.
Mit ihrer neuen Lebensgefährtin Gertrud von Sanden zieht sie sich auf das Schloss Gießmannsdorf in Schlesien zurück und verdient nun ihren Lebensunterhalt als Schriftstellerin und mit Vortrags- und Lesereisen. Sie schreibt vorwiegend historische Romane, z.B. über „Adelheid: Mutter der Königreiche“ (1936) oder deren Enkel Otto III., den „Jüngling im Sternenmantel“ (1938). Diese – sehr erfolgreichen - Bücher konnten als Kritik am NS-Staat gelesen werden, waren aber auch „im Sinne der NS-Propaganda verwendbar“ - und insofern typisch für die Literatur der inneren Emigration (Schaser 1997:24). Ingeborg Drewitz urteilt 45 Jahre später: „Die psychologische und historische Genauigkeit überzeugt. Mit ihrer Sprache haben wir’s schwerer. Das ist noch die gehobene, am klassischen Vorbild orientierte Literatursprache, die ja bis in die frühen fünfziger Jahre gebraucht wird.“ Tatsächlich nervt Bäumers Pathos bisweilen; sie konnte allerdings auch sachlich und nüchtern schreiben, wenn sie nicht „Literatur“ produzierte. Und ihre Briefe sind spontan, lebhaft und anschaulich.
Immer wieder gerät Bäumer in Konflikt mir der Reichschrifttumskammer. Einerseits ist sie als Frauenrechtlerin natürlich verdächtig, andererseits wollen die Nazis eine so prominente Intellektuelle im Grunde gern für ihre Propaganda gewinnen. „Die Frau“ darf weiter erscheinen, aber nur, wenn die Auflagen der Nazis befolgt werden. Viele der alten Mitstreiterinnen hätten lieber einen klaren Schnitt gesehen und werfen ihr Lavieren, ja Zusammenarbeit mit den Nazis vor.
Hierzu die Historikerin Angelika Schaser: Bäumer kann „weder überzeugend zur Aktivistin der Gruppe des 20. Juli stilisiert werden, noch trifft die Bezeichnung ‚aktive Nationalsozialistin’ auf sie zu. Ihre Form des Widerstandes, den sie zu leisten glaubte, konnte das Regime nicht gefährden. Ihre Haltung lässt sich wohl am besten in dem paradoxen Begriff „konformer Widerstand“ fassen.“ (1997:23)
1948, mit 75 Jahren, erkrankt Gertrud Bäumer an Arteriosklerose/Demenz, muss ihre Vortragsreisen einstellen und wird von ihrer Schwester Else in Bad Godesberg betreut. „Der fürchterliche Ausgang eines herrscherlichen Lebens“ (Theodor Heuss) nimmt seinen Lauf. Ende 1953 kommt sie nach Bethel in ein Pflegeheim, wo sie am 25. März 1954 im Alter von 80 Jahren stirbt.
(Text von 2022)
Verfasserin: Luise F. Pusch
Literatur & Quellen
Bach, Marie Luise. 1989. Gertrud Bäumer: Biographische Daten und Texte zu einem Persönlichkeitsbild. Weinheim. Deutscher Studien Verlag.
Bäumer, Gertrud. 1933. Lebensweg durch eine Zeitenwende. Tübingen. R. Wunderlich.
Bäumer, Gertrud. 1939. Gestalt und Wandel: Frauenbildnisse. Berlin. Herbig.
Clemens, Bärbel.1988. “Menschenrechte haben kein Geschlecht!” - Zum Politikverständnis der bürgerlichen Frauenbewegung. Pfaffenweiler. Centaurus.
Drewitz, Ingeborg.1981. “Gertrud Bäumer (1873-1954)”, in: Schultz, Hans Jürgen. Hg. Frauen: Porträts aus zwei Jahrhunderten. Stuttgart. Kreuz. S. 244-260.
Evans, Richard. 1976. The Feminist Movement in Germany 1894 - 1933. London. Sage.
Göttert, Margit. 1993. “... als würde die geheime Kraft der Erde einem mitgeteilt!” : Frauen, ihre Freundschaften und Beziehungen in der alten Frauenbewegung, in: L' homme: Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft, Jg. 4(1993) Nr. 1, 40-56. DOI: https://doi.org/10.25595/1214.
Göttert, Margit. 2000. Macht und Eros: Frauenbeziehungen und weibliche Kultur um 1900 - eine neue Perspektive auf Helene Lange und Gertrud Bäumer. Frankfurt/M. Ulrike Helmer.
Kennicott, M.B. 1955 [1934]. Das Herz ist wach: Briefe einer Liebe. Stuttgart; Tübingen. Rainer Wunderlich Verlag Hermann Leins.
Lange, Helene & Gertrud Bäumer. Hg. 1901-1906. Handbuch der Frauenbewegung. 5 Bde. Berlin. W. Moeser.
Lange, Helene. 1957. Was ich hier geliebt: Briefe. Hg. von Emmy Beckmann. Mit e. Lebensbild von Gertrud Bäumer. Tübingen. Wunderlich.
Matthes, Eva & Caroline Hopf. 2001. Helene Lange und Gertrud Bäumer. Ihr Engagement für Frauen- und Mädchenbildung. Kommentierte Texte. Bad Heilbrunn. Klinkhardt.
Reicke, Ilse. 1984. “Gertrud Bäumer”, in: Ilse Reicke. Die großen Frauen der Weimarar Republik: Erlebnisse im Berliner Frühling. Freiburg/Br. Herderbücherei 1029. S. 21-29.
Schaser, Angelika. 1997. ““Innere Emigration” als 'konformer Widerstand': Gertrud Bäumer 1933-1945”, Ariadne: Almanach des Archivs der deutschen Frauenbewegung. Heft 32, S. 16-25.
Schaser, Angelika. 2000. Helene Lange und Gertrud Bäumer: Eine politische Lebensgemeinschaft. Köln. Böhlau.
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