Fembio Specials Exilantinnen (1933-1945) Gabriele Tergit
Fembio Special: Exilantinnen (1933-1945)
Gabriele Tergit
(Dr. Elise Reifenberg geb. Hirschmann / Irene Bersill [weiteres Pseudonym] / Christian Thomasius [weiteres Pseudonym])
geboren am 4. März 1894 in Berlin
gestorben am 25. Juli 1982 in London
deutsche Schriftstellerin und Journalistin, Sekretärin des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland
130. Geburtstag am 4. März 2024
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Gabriele Tergit war schon eine weibliche Pionierin der Gerichtsreportage bei großen Berliner Zeitungen, als sie durch ihren zeitkritischen Roman Käsebier erobert den Kurfürstendamm (1931) schlagartig berühmt wurde. Ihre literarische Laufbahn wurde durch Hitler aber jäh unterbrochen, und wie Irmgard Keun vergaß man sie als Schriftstellerin nach dem Krieg weitgehend. Aber die Emigrantin gab nie auf, und trotz ausbleibender Erfolge in der Bundesrepublik arbeitete sie während ihrer letzten 25 Jahre in London unermüdlich als ehrenamtliche Sekretärin des PEN-Zentrums deutschsprachiger AutorInnen im Ausland.
Die Tochter einer Münchnerin aus der Posamentenbranche und eines jüdischen Fabrikanten besuchte gegen den Willen des Vaters die Soziale Frauenschule von Dr. Alice Salomon, um sich auf eine Zukunft in der Sozialfürsorge oder in der Sozialpolitik – im Kampf um die Gleichberechtigung der Frau im Berufsleben – vorzubereiten. Mit 19 Jahren veröffentlichte sie in einer Beilage des Berliner Tageblatts ihren ersten Zeitungsartikel über Frauenprobleme im Krieg. Auch dies gefiel ihrer Familie gar nicht – ein Mädchen aus gutem Hause schrieb doch nicht für Zeitungen! Trotzdem beschloß Tergit (den Namen hatte sie aus dem Wort „Gitter“ gebildet), Journalistin zu werden, zu welchem Zweck sie dann auch Geschichte und Philosophie studierte. 1925 promovierte sie. Drei Jahre später heiratete sie den Berliner Architekten Heinz Reifenberg.
Seit 1920 veröffentlichte sie Feuilletons in der Vossischen Zeitung und dem Berliner Tageblatt, 1925 bekam sie eine feste Stelle als Gerichtsreporterin beim Berliner Tageblatt. Zusammen mit ihrem Kollegen „Sling“ (Paul Schlesinger) von der Vossischen Zeitung erhob sie die Gerichtsreportage durch lebendige Sprache und sozialkritische Perspektive zu einem eigenen literarischen Genre. Tergits Artikel gegen die Ungerechtigkeit und die reaktionären Richter der Zeit erschienen auch in der von Carl von Ossietzky herausgegebenen progressiven, antifaschistischen Weltbühne.
Ihr Erstlingsroman, eine Satire auf die korrupte, sensationshungrige Gesellschaft (und Presse) Berlins in der späten Weimarer Republik, handelt von dem unbekannten Volkssänger Käsebier, der von den Medien berühmt gemacht wird, um dann in der Wirtschaftskrise traurig zu enden. Mit Käsebier wurde Tergit selbst berühmt, die Presse verglich sie mit Zola und fand, sie hätte den besten Zeitroman geschrieben und das Unmögliche zustandegebracht: „Lachen im Elend des Zugrundegehens.“
Als am 4. März 1933 eine Horde SA-Männer in ihre Wohnung eindrang und sie verschleppen wollte, erkannte Tergit, dass sie nicht länger in Deutschland bleiben konnte. Obwohl dieser Anschlag abgewehrt werden konnte, verließ sie Berlin am selben Tag und emigrierte mit Mann und Sohn Peter in die Tschechoslowakei und dann nach Palästina.
Seit 1938 in London, arbeitete Tergit weiter an ihren Schriften. Der 1933 begonnene Familienroman Effingers konnte erst 1951 in der Bundesrepublik erscheinen, aber diese „jüdischen Buddenbrooks“ fanden dort keinen großen Widerhall. Danach schrieb sie hauptsächlich kulturgeschichtliche Studien, z.B. Kaiserkron und Päonien Rot: Kleine Kulturgeschichte der Blumen (1958) und gab als Sekretärin des PEN-Zentrums zahlreiche Berichte und Autobiographien von AutorInnen heraus.
Ihre eigenen Erinnerungen Etwas Seltenes überhaupt erschienen posthum 1983.
Verfasserin: Joey Horsley
Zitate
Seltsamerweise beschrieb die kommunistische Welt am Abend meine einfache, nur 1931 unübliche Psychologie am richtigsten: „Die Tergit ist eine Bürgerin, die sich noch den Sinn für Sauberkeit bewahrt hat und inbrünstig an ein liberales Gesellschaftsideal glaubt … Sie will die kapitalistische Welt in ihrem Roman für Entartung bestrafen, um sie zu bessern.“
(Gabriele Tergit über ihren Roman Käsebier erobert den Kurfürstendamm)
Die Wahrheit, lieber Herr Professor, ist unter die Hitler-Opfer zu rechnen. (Gabriele Tergit, Quelle)
Links
Bliedtner, Nadine: Ein Vergleich der Neuen Frau mit dem Girl bei Gabriele Tergit und Irmgard Keun. Hausarbeit, Fachbereich Germanistik – Neuere Deutsche Literatur (Note: 2,3). Hausarbeiten.de.
Katalog der Deutschen Nationalbibliothek: Gabriele Tergit.
Köhler, Carola: Gesellschaft im Taumel. Gabriele Tergits Roman Käsebier erobert den Kurfürstendamm. Rezension. In: scheinschlag, Ausgabe 02/2004. scheinschlag.de.
Köhler, Carola: Ich finde, die Akademikerinnen sind arg ins Hintertreffen gekommen. Die Schriftstellerin Gabriele Tergit. In: scheinschlag-online, Ausgabe 02/2002. scheinschlag.de.
Literaturport.de: Lexikon – Gabriele Tergit. Mit Literaturhinweisen und Angaben zum Wohnsitz.
Ujma, Christina von: Neue Frauen, alte Männer – Gabriele Tergits “Frauen und andere Ereignisse”. Rezension. literaturkritik.de.
Links geprüft und korrigiert am 19. Juli 2022 (AN)
Literatur & Quellen
Quellen
Brinker-Gabler, Gisela; Ludwig, Karola; Wöffen, Angela (1986): Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen 1800-1945. München: Dt. Taschenbuch-Verl. (dtv, 3282).
Larsen, Egon (1987): Die Welt der Gabriele Tergit. Aus dem Leben einer ewig jungen Berlinerin. München: Auerbach.
Tergit, Gabriele (1932): Käsebier erobert den Kurfürstendamm. Roman. Berlin: Rowohlt.
Tergit, Gabriele (1951): Effingers. Roman. Hamburg: Hammerich & Lesser.
Tergit, Gabriele (1983): Etwas Seltenes überhaupt. Erinnerungen. Frankfurt: Ullstein (Ullstein Buch, 20324).
Wall, Renate (1988): Verbrannt, verboten, vergessen. Kleines Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen 1933 bis 1945. Köln: Pahl-Rugenstein (Kleine Bibliothek Frauen, 510).
Deutsches Literaturarchiv Marbach: Nachlass Tergit, Gabriele.
Heimberg, Anke von: Wer schießt aus Liebe? – Gerichtsreportagen von Gabriele Tergit. Rezension. literaturkritik.de.
Reinhold, Ursula: Wiederentdeckte Novelle als Zeitbild. Rezension zu „Der erste Zug nach Berlin“. In: Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2001. berliner-lesezeichen.de.
Wörtche, Thomas: Crime Watch – Wer schießt aus Liebe? Gerichtsreportagen. Rezension. freitag.de.
Werke von Gabriele Tergit
Jatho, Gabriele; Rother, Rainer (Hg.) (2007): City Girls. Frauenbilder im Stummfilm. Katalog. Enthält „Sorores Optimae“ von Gabriele Tergit. Berlin: Bertz + Fischer (Filmheft, 11).
Tergit, Gabriele (Hg.) (1959): Autobiographien und Bibliographien. International PEN, a World Association of Writers. Erschien unter Tergits Realnamen Elise Reifenberg. London: Expedite Dublicating Co.
Tergit, Gabriele (1932): Käsebier erobert den Kurfürstendamm. Roman. Berlin: Rowohlt.
Tergit, Gabriele (1951): Effingers. Roman. Hamburg: Hammerich & Lesser.
Tergit, Gabriele (1954): Das Büchlein vom Bett. Mit Zeichnungen von Gerhard Kreische und Erhard Klepper. Berlin-Grunewald: Herbig.
Tergit, Gabriele (1958): Kaiserkron und Päonien rot. Kleine Kulturgeschichte der Blumen. Mit Zeichnungen von Elfriede Fulda. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
Tergit, Gabriele (1965): Das Tulpenbüchlein. Hannover: Landbuch-Verl.
Tergit, Gabriele (1983): Etwas Seltenes überhaupt. Erinnerungen. Frankfurt: Ullstein (Ullstein Buch, 20324).
Tergit, Gabriele (1984): Blüten der zwanziger Jahre. Gerichtsreportagen und Feuilletons 1923-1933. Herausgeg. von Jens Brüning. Berlin: Rotation-Verl.
Tergit, Gabriele (1994): Atem [aus] einer anderen Welt. Berliner Reportagen. Herausgeg. von Jens Brüning. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch, 2280).
Tergit, Gabriele (1996): Im Schnellzug nach Haifa. Mit Fotos aus dem Archiv Abraham Pisarek. Herausgeg. von Jens Brüning. Berlin: Transit Buchverl.
Tergit, Gabriele (1999): Wer schießt aus Liebe? Gerichtsreportagen. Herausgeg. von Jens Brüning. Berlin: Das Neue Berlin.
Tergit, Gabriele (2000): Der erste Zug nach Berlin. Novelle. Herausgeg. von Jens Brüning. Berlin: Das Neue Berlin.
Tergit, Gabriele (2001): Frauen und andere Ereignisse. Publizistik und Erzählungen von 1915 bis 1970. Herausgeg. von Jens Brüning. Berlin: Das Neue Berlin.
Weiterführende Literatur
Deighton, Alan (Hg.) (1995): Order from confusion. Essays presented to Edward McInnes on the occasion of his sixtieth birthday. Enthält: Von Frauen und Frauenbeinen – Girls, Mädchen und andere in der Reportage von Joseph Roth und Gabriele Tergit von Helen Chambers. Hull: German Department Univ. of Hull (New German studies Texts & monographs, 10).
Josting, Petra; Fähnders, Walter; Karrenbrock, Helga (2005): Laboratorium Vielseitigkeit. Zur Literatur der Weimarer Republik ; Festschrift für Helga Karrenbrock zum 60. Geburtstag. Enthält: Mediensatire wider die Entpolitisierung der Zeitung. Journalismuskritik in Romanen von Gabriele Tergit und Erich Kästner. Bielefeld: Aisthesis-Verl.
Mockel, Eva-Maria (1996): Aspekte von Macht und Ohnmacht im literarischen Werk Gabriele Tergits. Dissertation. Aachen: Shaker (Berichte aus der Literaturwissenschaft).
Schönfeld, Christiane; Finnan, Carmel (2006): Practicing modernity. Female creativity in the Weimar Republic. Würzburg: Königshausen & Neumann.
Schüller, Liane (2005): Vom Ernst der Zerstreuung. Schreibende Frauen am Ende der Weimarer Republik Marieluise Fleißer, Irmgard Keun und Gabriele Tergit. Dissertation. Bielefeld: Aisthesis-Verl.
Warren, John (Hg.) (2005): Vienna meets Berlin. Cultural interaction 1918-1933. Enthält: Eine ganze Welt baut sich im Gerichtssaal auf – Law and Order in the Berlin Reportage of Joseph Roth and Gabriele Tergit von Helen Chambers. Oxford: Lang (Britische und irische Studien zur deutschen Sprache und Literatur, 41).
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