Fembio Specials Berühmte Italienerinnen Francesca Melandri
Fembio Special: Berühmte Italienerinnen
Francesca Melandri
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geboren am 8. Juni 1964 in Rom
italienische Filmemacherin, Drehbuchautorin und Schriftstellerin
60. Geburtstag am 9. Juni 2024
Biografie • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Kennen und lieben gelernt habe ich Francesca Melandri 2010 durch ihr Buch „Eva dorme“ (auf Deutsch „Eva schläft“, 2011). In ihrem ersten Roman geht es um eine Familie, deren Geschichten sich um Sprach- und Identitätskonflikte in Südtirol drehen; sie umfassen Ereignisse zwischen 1919 und 1992. Erzählt wird im Besonderen die Geschichte von Eva und deren Mutter Gerda in den 1960er Jahren. Francesca Melandri erzählt von den „Bombenjahren“ in dem Land, in dem ich aufgewachsen bin und in dem ich lebe; einem Land, das aus einem komplexen Gewebe besteht – politisch, geographisch, ethnisch, sprachlich.
Im Roman spielen die Begriffe Sprache und Heimat eine große Rolle; in einem Interview erklärt die Autorin:
Eigentlich haben meine Protagonisten definitiv eine Muttersprache, nämlich den Tiroler Dialekt und Deutsch als Muttersprache. Italienisch hingegen kommt sogar als dritte Sprache vor. Ein zentraler Begriff in der Erzählung ist zum Beispiel Heimat, ein Wort, das ein sehr wichtiges Konzept in der deutschen Kultur enthält, das im Italienischen keine Entsprechung hat.
Als der Roman 2010 im Damensalon des Bozner Hotels Laurin vorgestellt wurde, gab es einen Aufschrei italienischsprachiger Boznerinnen: „Wo waren wir damals? Wir hatten keine Ahnung, was die deutschsprachige Bevölkerung in den Tälern damals erlebte!“ Die Geschichten waren neu auch für sie, die im städtischen Bozen, unweit vom Geschehen in den großenteils deutschsprachigen Tal- und Bergdörfern, lebten.
2018 wurde Francesca Melandri für „Eva dorme“ mit dem Großen Verdienstorden des Landes Südtirol ausgezeichnet. Den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln erhielt sie 2019.
„Eva dorme“ gehört mit den Romanen „Piú alto del mare“ („Über Meereshöhe“, 2012) und „Sangue giusto“ („Alle außer mir“, 2018) zur “Trilogie der Väter”.
Der Roman „Über Meereshöhe“ spielt auf einer italienischen Gefängnisinsel vor der Nordwestküste Sardiniens. Der zeitliche Rahmen sind die politischen Unruhen gegen Ende der 1970er Jahre, als es eine breite Protestbewegung gegen das als autoritär empfundene italienische Staatssystem gab. Melandri erzählt mit Sensibilität und poetischer Kraft vom bewegenden Schicksal zweier Familien, die von Männergewalt gegen Frauen und Terrorismus betroffen sind.
„Alle außer mir“ ist Melandris bekanntester Roman und wurde besonders in Deutschland mit Begeisterung aufgenommen und gelesen. Er stand zehn Wochen lang auf der Spiegel-Bestsellerliste. Es geht um die Rolle Italiens im Äthiopienkrieg, um Giftgasangriffe der faschistischen Armee, um brutale Kriegsgewalt gegen militärisch unterlegene Menschen, um Vergewaltigungen, wie sie in Kriegszeiten an der Tagesordnung sind. Es geht auch um eine große Liebe und um eine Migrationsgeschichte, die bis ins Italien der Berlusconi-Epoche reicht. Themen wie Schuld, Lügen, Verdrängung, Familiengeheimnisse, Umgang mit der Vergangenheit werden vor geschichtlichem Hintergrund behandelt.
2018 wurde das Buch in Deutschland von den unabhängigen Buchhandlungen zu ihrem Lieblingsbuch gewählt. Eine besondere Ehre. Auch im literarischen Quartett des ZDF wurde das Buch besprochen.
Francesca Melandri selbst äußert sich zum Schreiben wie folgt: „Bis jetzt hat mich das Verfassen von Romanen immer dazu gebracht, eine gewisse Zeit an den Orten zu verbringen, an denen meine Geschichten spielen, aber vor allem ist es für mich wesentlich, sehr vielen Zeitzeugen zuzuhören. Während des Schreibprozesses mache ich mich auf die Suche nach persönlichen, privaten Erzählungen, nach Momenten lebendigen oder gelebten Lebens.“
Im März 2020, zu Beginn des ersten Lockdowns, ging Melandris Artikel „Lettera ai Francesi dal loro futuro“ („Ich schreibe euch aus eurer Zukunft“) über die Corona-Pandemie um die Welt. Er wurde in der französischen Tageszeitung Libération, im Spiegel und Guardian abgedruckt, in 35 Sprachen übersetzt und weltweit publiziert. In diesem Brief geht es um die Epidemie-Erfahrungen in Italien, die zeitlich den anderen Ländern voraus waren.
Ihr werdet Camus' Pest aus dem Regal ziehen, aber ihr werdet feststellen, dass ihr es nicht wirklich lesen wollt.
Ihr werdet wieder essen.
Ihr werdet schlecht schlafen.
Ihr werdet über die Zukunft der Demokratie nachdenken.
Ihr werdet ein unbändiges soziales Leben haben, einschließlich Aperitifs im Chat, Gruppentermine auf Zoom, Abendessen über Skype.
Vor ihrem Erfolg als Schriftstellerin wirkte sie als Drehbuchautorin, u.a. bei der Adalbert Stifter Adaptation „Bergkristall“, dem Märchenepos „Fantaghirò“ nach Italo Calvino, sowie der populären TV-Serie „Don Matteo“ mit Terence Hill. Sie führte Regie bei der Dokumentation „Vera“ über eine kroatische Holocaustüberlebende, die der Vernichtung entrinnen konnte und sich im hohen Alter der Züchtung von reinrassigen Pferden widmet.
Den Zugang zu verschiedenen Sprachen und Kulturen hat Melandri früh gelernt. Ihre Mutter Caterina Minoli war Übersetzerin und hat viele Klassiker der angloamerikanischen Literatur wie Moby Dick oder Tristram Shandy ins Italienische übersetzt. „Als ich aufwuchs, reiste sie am Schreibtisch mit ihrer Olivetti zwischen den Sprachen und den Literaturen hin und her“ erzählt Francesca Melandri in einem Interview.
Francesca Melandris ältere Schwester Giovanna ist eine italienische Politikerin und Kulturmanagerin. Sie ist seit 2012 Stiftungspräsidentin des Museums für zeitgenössische Kunst MAXXI in Rom. Von 1998 bis 2001 war sie Kulturministerin und 2006 bis 2008 Ministerin für Jugend und Sport.
Die beiden Schwestern sind Cousinen von Giovanni Minoli, einem bekannten italienischen Journalisten und Fernsehmoderator.
Francesca Melandri hat zwei Kinder, die einen deutschsprachigen Vater haben und in Deutschland leben. Sie selbst lebt in Rom, aber für sie ist es normal zwischen Berlin, München und Rom zu pendeln.
Reisen spielte in ihrem Leben immer eine große Rolle. Reisen bedeute für sie, „sich von festen Definitionen von sich selbst zu entfernen, sich der Verletzlichkeit auszusetzen, ein Gast im Land der anderen zu sein, diese einfache, aber erstaunliche Erfahrung zu machen, die darin besteht, zu entdecken, dass wir und unsere Kultur weder das Zentrum noch die Besten der Welt sind.“
Geboren wurde die Schriftstellerin in Rom; sie lebte an vielen verschiedenen Orten, in Asien, in den Vereinigte Staaten, in Neuseeland und in Südtirol. Lange Zeit lebte sie in Bruneck, einer Kleinstadt in der östlichen Hälfte der Provinz Bozen. Zu ihrer Beziehung zu den Bergen befragt, antwortete sie:
Ich fühlte mich schon immer zu Höhen hingezogen, zum Abheben vom Boden. Als Kind kletterte ich auf alles, Felsen, Anhöhen, Möbel. Aber ich hatte eine sehr enge Beziehung (die ich immer noch habe) zu Bäumen. Es gab eine Fichte im Garten im Haus in Gröden, praktisch lebte ich dort oben, ich brachte Vorräte und Bücher mit und ging stundenlang nicht hinunter. Als ich 24 war, mussten sie den Baum fällen, ich weinte wie um den Tod eines Freundes.
2021 war Melandri Fellow des Berliner Künstlerprogramms DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst), eines der angesehensten Residenzprogramme bereits etablierter KünstlerInnen. Sie ist auch Gründungsmitglied der deutschen Schriftstellervereinigung PEN Berlin.
Immer wieder nimmt Melandri auch Stellung zu politischen Ereignissen. So hat sie in der italienischen Tageszeitung „Domani“ am 25. April 2022 über die „russische Propaganda gegen unsere Demokratie“ geschrieben.
„Niemand hat uns besser erklärt als Hannah Arendt, die Zeugin der sehr konkreten, sehr aktuellen Schrecken des letzten Jahrhunderts war, dass dieses allgegenwärtige Misstrauen in die Existenz der Realität genau der psychologische Zustand ist, den totalitäre Regime brauchen. Zynismus, Unbeweglichkeit, Desillusionierung, mangelnde Teilhabe am demokratischen Leben.“
Francesca Melandri wurde mit vielen nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet, darunter mit dem Premio Rapallo Carige und dem Premio Selezione Campiello; 2018 war sie Finalistin des Premio Strega. Ihre Werke wurden in zahlreiche europäische Sprachen übersetzt.
(Text von 2023)
Verfasserin: Ingrid Windisch
Links
Mirandola, Giulia. (2020, Juni). Von Südtirol über Berlin bis Gujarat. Ein Gespräch mit Francesca Melandri. Goethe-Institut Italien. München, Goethe-Institut.
Online verfügbar https://www.goethe.de/ins/it/de/kul/lit/21900771.html, zuletzt geprüft am 09.06.2024.
Gerk, Andrea. (2018, 2. Oktober). Die Migranten sind unsere Wahlverwandtschaft. Francesca Melandri über „Alle, außer mir“. Archiv. Deutschlandfunk Kultur. Köln, Deutschlandradio.
Online verfügbar https://www.deutschlandfunkkultur.de/francesca-melandri-ueber-alle-ausser-mir-die-migranten-sind-100.html, zuletzt geprüft am 09.06.2024.
Francesca Melandri (2018): Alle außer mir. Berlin: Wagenbach. Lann Hornscheidt. Stralsund, w_orten & meer.
Online verfügbar https://www.lannhornscheidt.com/literatur_lesen_inspirert-werden/francesca-melandri-alle-ausser-mir/, zuletzt geprüft am 09.06.2024.
Barbieri, Carmela. Una chiaccherata con Francesca Melandri, autrice di “Eva dorme”. Recensito. Quotidiano di cultura e spettacolo. Archivio. Catania, Multimedia Informazione.
Online verfügbar https://www.recensito.net/archivio/26-interviste/6062-una-chiaccherata-con-francesca-melandri-autrice-di-eva-dorme.html, zuletzt geprüft am 09.06.2024.
Grünbein, Durs. Francesca Melandri. Italien, Literatur, 2021. Bonn, Berliner Künstlerprogramm, Deutscher Akademischer Austauschdienst (DAAD).
Online verfügbar https://www.berliner-kuenstlerprogramm.de/de/artist/francesca-melandri/, zuletzt geprüft am 09.06.2024.
Francesca Melandri. (2024, 17. März). In: Wikipedia.
Online verfügbar https://de.wikipedia.org/wiki/Francesca_Melandri, zuletzt geprüft am 09.06.2024.
Kospach, Juli. „Nicht noch mehr Mauern“. Melandri. Morgen. Ausgabe #264. Grenzen. St. Pölten, Amt der Niederösterreichischen Landesregierung.
Online verfügbar https://www.morgen.at/2019-10-grenzen/interview-francesca-melandri/
Wysling, Andres. (2020, 20. August). «Das Faschismus-Etikett für die Rechten ist eine bequeme Ausrede für die Linken». Die Römer Schriftstellerin Francesca Melandri spricht über Migration, über Faschismus und Kolonialismus sowie über doppelbödige Existenzen. NZZ International. Zürich, Neue Zürcher Zeitung.
Online verfügbar https://www.nzz.ch/international/francesca-melandri-italiens-faschismus-betrifft-rechte-und-linke-ld.1566994?reduced=true, zuletzt geprüft am 09.06.2024.
Jandl, Paul. (2018, 21. Juli): Italiens Niedergang ist das Glück der italienischen Literatur. Francesca Melandri ist nach Elena Ferrante das zweite literarische Wunder Italiens. Sie zeichnet in ihrem Roman «Alle, ausser mir» ein poetisch genaues Sittenbild des Landes im 20. Jahrhundert. NZZ Feuilleton. Zürich, Neue Zürcher Zeitung.
Online verfügbar https://www.nzz.ch/feuilleton/italiens-niedergang-ist-das-glueck-der-italienischen-literatur-ld.1405175, zuletzt geprüft am 09.06.2024.
Hofer, Gustav. 2018. „Alle, außer mir“, ein schonungsloses Porträt Italiens. Arte Journal, [Video, 02:08 Min.]. Strasbourg, Arte GEIE.
Online verfügbar https://www.arte.tv/de/videos/084209-000-A/alle-ausser-mir-ein-schonungsloses-portraet-italiens/, zuletzt geprüft am 09.06.2024.
Literatur & Quellen
Melandri, Francesca. 2011. Eva schläft [=Eva dorme]. Aus dem Ital. von Bruno Genzler. München. Blessing.
ISBN 978-3896674357. (Suchen bei Amazon | Eurobuch | WorldCat)
Melandri, Francesca. 2012. Über Meereshöhe [=Piu alto del mare]. Aus dem Ital. von Bruno Genzler. Berlin. Blessing. ISBN 978-3896674357. (Suchen bei Amazon | Eurobuch | WorldCat)
Melandri, Francesca. 2018. Alle, außer mir [=Sangue giusto]. Aud dem Ital. von Esther Hansen. Berlin. Wagenbach.
ISBN 978-3896674357. (Suchen bei Amazon | Eurobuch | WorldCat)
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