Fembio Specials Nobelpreisträgerinnen Doris Lessing
Fembio Special: Nobelpreisträgerinnen
Doris Lessing
(Doris May Lessing, geb. Tayler, gesch. Wisdom)
geboren am 22. Oktober 1919 in Kermanschah, Persien
gestorben am 17. November 2013 in London
englische Schriftstellerin; Nobelpreisträgerin für Literatur 2007
105. Geburtstag am 22. Oktober 2024
Biografie • Literatur & Quellen
Biografie
Doris Lessing bekam 2007 mit 88 Jahren als ältester Mensch und elfte Frau nach 93 Männern den Nobelpreis für Literatur. Es wurde auch Zeit, fanden viele ihrer LeserInnen und KollegInnen, z. B. Elfriede Jelinek und Julia Franck, und auch sie selbst. Das Nobel-Komitee begründete seine Entscheidung mit den Worten: “Sie ist die Epikerin weiblicher Erfahrung, die sich mit Skepsis, Leidenschaft und visionärer Kraft eine zersplitterte Zivilisation zur Prüfung vorgenommen hat.”
In die “zersplitterte Zivilisation” wurde Doris Tayler kurz nach dem ersten Weltkrieg in Persien hineingeboren, wo ihr Vater, der im Krieg ein Bein verloren hatte und es in England nicht mehr aushielt, Filialleiter einer Bank war. Doris’ Mutter war Krankenschwester; sie hatte den traumatisierten Soldaten in einem Lazarett gepflegt und ihn aus Mitleid und Verzweiflung geheiratet, weil ihre große Liebe im Krieg gefallen war.
Lessing zu ihrem jüngsten Buch über ihre Eltern (Alfred and Emily, 2008): “Die Wut meines Vaters auf den Grabenkrieg griff auf mich über und hat mich nie verlassen. Hier sitze ich und versuche noch immer, von der Last dieser grauenvollen Hinterlassenschaft freizukommen.”
Neun Monate nach der Hochzeit gebar Emily Tayler ihre Tochter Doris unter furchtbaren Schmerzen. Beide Eltern hatten sich einen Sohn gewünscht. Da sie ihr Kind nicht Peter John nennen konnten, wie sie es sich gedacht hatten und ihnen kein Mädchenname einfiel, schlug der Arzt “Doris” vor - und dabei blieb es.
Als Doris fünf war, kehrte die Familie quer durch das chaotische nachrevolutionäre Russland nach England zurück, und von dort brach man bald wieder auf nach Südrhodesien (heute Zimbabwe), wo der Vater ein Stück Land gekauft hatte und sein Glück als Maisfarmer zu machen hoffte. Er scheiterte kläglich. Die Familie laborierte immer verzweifelter am Rande des Ruins. Doris’ Mutter war verbittert, sie vermisste ihre Heimat und ein bürgerliches Leben. Ihre rebellische Tochter Doris ließ sie für ihre Enttäuschung büßen, während der jüngere Bruder Harry geliebt und verhätschelt wurde.
Das Kriegstrauma der Eltern und diese frühen Verletzungen haben Lessings Leben und Werk geprägt - zentrale Themen sind die Suche nach Liebe und Geborgenheit und die nicht leicht gelingende Liebe zwischen Mutter und Kindern.
Lessing verließ ihr Elternhaus (es war sowieso nur eine verfallende Bruchbude) früh und versuchte ihr Glück in Salisbury, der Hauptstadt der Kolonie, als Schwesternhelferin und Telephonistin. Sie konnte auch kleine Texte bei Zeitungen unterbringen und schrieb später zwei Romane, die sie vernichtete. 1938, mit 19 Jahren, heiratete sie Frank Wisdom und gebar in rascher Folge zwei Kinder. Bald ließ sie sich wieder scheiden und heiratete einen jüdischen deutschen Emigranten, Gottfried Lessing. Sie hatte ihn im Kreise interessanter junger Kommunisten kennengelernt, die so ganz anders lebten und dachten als ihre armen Eltern draußen im afrikanischen Veldt. Ihre Kinder ließ sie beim Vater, von ihrer Tochter hört man danach fast kaum noch etwas, obwohl Lessings Schreiben sehr autobiographisch ist. Der Sohn aus erster Ehe sollte noch einmal kurz Erwähnung finden.
Ihren Sohn Peter aber aus der zweiten Ehe nahm sie mit nach London, nachdem auch diese Ehe geschieden worden war. Danach heiratete Lessing nicht mehr, hatte aber viele meist zermürbende Liebschaften, u.a. Ende der 50er Jahre mit Nelson Algren, dem 10 Jahre zuvor bereits die andere Ikone des Feminismus, Simone de Beauvoir, verfallen war.
Ab 1949 versuchte sie in London, sich als allein erziehende Mutter durchzuschlagen und als Schriftstellerin einen Namen zu machen. 1952 wurde sie Mitglied der kommunistischen Partei (“die neurotischste Handlung meines Lebens”), trat aber nach der sowjetischen Invasion Ungarns wieder aus.
Ihr erster Roman, The Grass is Singing, kam gut an, desgleichen ihre Erzählungen über das koloniale Afrika (manche halten Lessings Erzählungen für ihren bedeutendsten Beitrag zur Literatur). In ihrer ersten Pentalogie Children of Violence (1952-69) schildert Lessing die Lebensgeschichte ihres alter ego Martha Quest bis zur Abreise nach England. Die zweite, Canopus in Argos (1979-83) hält sie für ihr wichtigstes Werk. Für das Genre hat sie sogar einen neuen Namen geprägt, nicht Science Fiction, sondern Space Fiction. In England war die Pentalogie ein Super-Bestseller, auf die jeweils neuste Folge wartete die Lesegemeinde fast so begierig wie jüngst auf den neusten Harry Potter. In Deutschland dagegen blieb die Reaktion verhalten.
Weltruhm erlangte Lessing 1962 mit dem Roman The Golden Notebook. Literarisch am auffallendsten ist seine innovative, komplexe Struktur - rezipiert wurde das Buch jedoch hauptsächlich als identitätsstiftender weiblicher Selbsterfahrungstrip im gerade ausbrechenden Geschlechterkrieg. Lessing nimmt oft Themen vorweg, deren Relevanz die Allgemeinheit erst viel später erkennt.
Und sie liebt plötzliche Kehrtwenden, Überraschungen, Provokationen - ein Zeichen ihrer kritischen Wachheit und Lebendigkeit. Alle sind gespannt, was ihr als nächstes einfällt.
————- Nachtrag: Doris Lessing starb 94-jährig am 17. November 2013 in London.
Verfasserin: Luise F. Pusch
Literatur & Quellen
Conrad, Bernadette. 2006. Nomaden im Herzen: Literarische Reportagen. Lengwil. Libelle.
Lessing, Doris. 1987. Das Leben meiner Mutter. Aus d. Engl. von Adelheid Dormagen. Berlin. Wagenbach.
Lessing, Doris. 1991 [1989]. Das Doris Lessing Buch. Frankfurt/M. Fischer TB 10824.
Lessing, Doris. 1994. Unter der Haut: Autobiographie 1919-1949. Aus dem Engl. von Karen Nölle-Fischer. Hamburg. Hoffmann und Campe.
Lessing, Doris. 1997. Schritte im Schatten Autobiographie 1949-1962. Aus dem Engl. von Christel Wiemken. Hamburg. Hoffmann und Campe.
Lessing, Doris. 2008. Alfred und Emily. Hamburg. Hoffmann und Campe.
Pierpont, Claudia Roth. 2001. “Memoirs of a Revolutionary: Doris Lessing”, in dieselbe: Passionate Minds: Women Rewriting the World. New York. Vintage. S. 223-249
Sollten Sie RechteinhaberIn eines Bildes und mit der Verwendung auf dieser Seite nicht einverstanden sein, setzen Sie sich bitte mit Fembio in Verbindung.