Fembio Specials Europäische Jüdinnen Anna Maria Jokl
Fembio Special: Europäische Jüdinnen
Anna Maria Jokl
geboren am 23. Januar 1911 in Wien, Österreich-Ungarn
gestorben am 21. Oktober 2001 in Jerusalem, Israel
österreichisch-israelische Schriftstellerin, Übersetzerin, Journalistin und Psychotherapeutin
20. Todestag am 21. Oktober 2021
Biografie • Zitate • Literatur & Quellen
Biografie
„Es sind 6 verschiedene Leben; es wurden, notgedrungen, 3 Sprachen gelernt; jede Phase war ein neuer Beginn. Ein neuer Beruf, da andere Notwendigkeiten kamen (…) Die geographischen wie die andersartigen Veränderungen bedeuteten immer Verlust der Gesellschaft, in der man verwurzelt war.“ (in: Aus sechs Leben)
Wien
Geboren in Wien als jüngste von drei Schwestern einer jüdisch assimilierten Familie erlebte Anna Maria Jokl bereits als Kind ihren ersten der zahlreichen Ortswechsel, die ihr Leben prägen sollten: Sie wurde 1919 aufgrund der schlechten Versorgungssituation im Wien der Nachkriegszeit für ein Jahr zu ihren Großeltern mütterlicherseits nach Breslau geschickt.
Bis zu ihrer ersten Veröffentlichung in den 1930er Jahren wurde sie „Moiderl“ genannt, eine Tiroler Version von „Mädchen“, die sie einem Kindermädchen verdankte und die ihr als Name blieb.
Eine glückliche Kindheit war es nicht: „Immer tauchte meine eigene, so vollkommen vergewaltigte und mißverstandene Kindheit und Jugend auf“. Ihr Vater Berthold Jokl, den sie kaum gekannt hatte, da er erst im Krieg, danach in einer Klinik war, starb 1924. Ihre Mutter („eine Mutter hatten wir nicht, auch wenn sie körperlich anwesend war“) und ihre Schwestern kümmerte kaum, was sie machte oder ob sie zur Schule ging. Wie sie sich in Aus sechs Leben erinnert: „Wir haben uns selber erzogen. (…) Es gab nicht Stütze noch Vorbild. Wir erzogen uns selber. Literatur war unser Lehrmeister.“
Berlin
1927 zog sie zu ihrer Mutter Toni Jokl nach Berlin, die dort den Buchhändler und Antiquar Siegfried Seemann geheiratet hatte.
Anna Maria Jokls künstlerische Anfänge lagen nicht im Schreiben, sondern im Sprechen. So machte sie von 1929 bis 1932 eine Schauspielausbildung an der Piscatorschule und verdiente sich ihren Lebensunterhalt – wie so viele Frauen in dieser Zeit – als Stenotypistin. Über die Schule und die Schriftstellerin Berta Waterstradt sowie den Schriftsteller Jan Petersen (Ps. von Hans Schwalm), mit denen sie befreundet war, kam Anna Maria Jokl in Kontakt zum „Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“ (BPRS). 1931 begann sie ein Studium der „Mikrophonie“ – dem funkgerechten Schreiben und Sprechen – bei Karl Würzburger an der Rundfunkversuchsstelle der Staatlichen Akademischen Hochschule für Musik. In diesem Jahr hatte sie auch ihre erste eigene Funksendung bei der Deutschen Welle, für die sie ein Jahr vorher angefangen hatte zu arbeiten; sie verfasste kleine Hörspiele, die sie live einsprach. Außerdem arbeitete sie als Dramaturgin bei der UFA und schrieb zusammen mit Edgar Beyfuß Drehbücher für Laienfilme. Eines davon wurde unter dem Titel Tratsch verfilmt; als der Film jedoch 1933 in die Berliner Kinos kam, durfte ihr Name als jüdische Autorin bereits nicht mehr genannt werden.
1932 lernte sie den Dichter Johannes R. Becher kennen, zu der Zeit Gründungsmitglied des BPRS, später Minister für Kultur der DDR, mit dem sie eine langjährige Freundschaft verband, von der sie sich lange Zeit mehr erhoffte.
Im April 1933 erschien ihre erste veröffentlichte Erzählung in der Vossischen Zeitung unter dem Titel Der Fremde.
Rückblickend stellte sie fest, dass ihr Leben erst in Berlin begann, allerdings „chaotisch und ungeordnet, planlos, ohne Wärme“. Es waren fünf schwere Jahre, und sie hatte ständig Angst.
Gewarnt von ihren Schriftstellerfreunden verließ sie Deutschland, wo sie für sich keine berufliche Zukunft mehr sah, im September 1933 und ging nach Prag ins Exil.
Prag
Prag war eine Stadt, von der sie vorher kaum etwas gewusst hatte, aber sie wurde ihr Heimat.
Anna Maria Jokl arbeitete dort als Journalistin für die Arbeiter Illustrierte Zeitung, das Prager Tagblatt und den Prager Börsenkurier.
1935 erschien unter dem Namen A. M. Joklová das kleine filmtheoretische Werk Umĕlecké základy amatérského filmu. (Zábĕa a montaz) (Die künstlerischen Grundlagen des Laienspielfilms. Aufnahme und Montage), zwei Jahre später gefolgt von dem anti-technischen, prowissenschaftlichen Physik-Roman für Kinder Basilius Knox. Román pro dĕti od 10 do 70 let, das erst 1948 unter dem Titel Die wirklichen Wunder des Basilius Knox im deutschen Original erscheinen sollte. Im gleichen Jahr folgt noch die Auftragsarbeit Das süße Abenteuer. Eine Geschichte für Kinder. Auch wenn sie sich nicht als Kinderbuchautorin sah, so empfand sie Kinder als die einzige Leserschaft, die ihr in diesem Chaos vertrauenswürdig schien.
Innerhalb von sechs Wochen schrieb sie in diesem Jahr auch ihr wohl bekanntestes Buch Die Perlmutterfarbe, das allerdings erst 1948 im Ostberliner Dietz Verlag veröffentlicht wurde.
Nach dem Einmarsch der Deutschen in Prag gelang es ihr mit anderen über Polen, wo sie in einem Flüchtlingslager auf ein Visum des PEN-Clubs warten musste, und Schweden nach England zu fliehen.
„Nie war ich vorher irgendwo zu Hause gewesen, in Prag wurde ich es.“ (in: Aus sechs Leben) – und so wurde der Verlust von Prag wie ein „stiller schmerzlicher Tod“ für sie.
London
In England, wo Anna Maria Jokl im Mai 1939 ankam und zu den Flüchtlingen aus der Tschechoslowakei gehörte, die unter dem Schutz des Czech Refugee Trust Fund standen, blieb sie Teil der tschechischen ExilantInnen-Gemeinschaft.
In London schrieb und inszenierte sie beispielsweise das Exil-Kabarett Going, Going – Gong, eine Bearbeitung des Märchens Des Kaisers neue Kleider und den politischen Sketch Hurrah, die Butter ist alle! (Guns for Butter).
Im September des gleichen Jahres zog sie nach Broadstairs an der englischen Südküste, wo sie bis zu dessen Schließung und Evakuierung 1940 ein vom Czech Trust Fund gegründetes Heim für Emigrantenkinder leitete und dort unterrichtete. Diese Zeit empfand sie als großes Glück; durch die Arbeit mit den Kindern konnte sie für den Augenblick leben.
Sie schrieb und inszenierte dort die dreisprachige Kindertheaterrevue Where do you come from? (auf Deutsch, Englisch und Tschechisch), die unter anderem in London aufgeführt wurde.
Nach der Evakuierung zog sie zurück nach London, wo sie in einem Großhandel für Schallplatten und in der Lederwarenindustrie arbeitete. Außerdem hatte sie die kulturelle Leitung der tschechischen Exil-Jugendorganisation „Young Czechoslovakia“ inne und schrieb und inszenierte weitere Theaterrevuen. Zugleich entstanden verschiedene Arbeiten für diverse Exilzeitschriften, wie Einheit, Zeitspiegel, Frau in Arbeit, und für Anthologien.
Nachdem Anna Maria Jokl 1944 die Jungianerin Toni Sussmann kennengelernt hatte, begann sie ein Jahr später eine Trainingsanalyse bei ihr. Neben der Ausbildung zur Psychoanalytikerin sorgt sie mit ihrer Arbeit als Sekretärin für ihren Lebensunterhalt. 1948 setzte Jokl ihre Ausbildung am neu gegründeten C. G. Jung Institut in Zürich fort. Die Abschlussprüfung im folgenden Jahr konnte sie jedoch nicht bestehen; ihr wurde bereits vorher davon abgeraten, daran überhaupt teilzunehmen, obwohl keinerlei Zweifel an ihrer Qualifikation bestanden; es sei nicht erwünscht. Sie, die bis jetzt in ihrem Leben kaum persönlichem Antisemitismus begegnet war und der es selbstverständlich war, Jüdin zu sein, musste jetzt erfahren, dass es unerwünscht war, dass „eine jüdische Emigrantin aus »keiner Familie«, das erste Diplom machen sollte“. (in: Die Reise nach London)
Trotz dieses fehlenden Abschlusses arbeitete sie in London an verschiedenen Kliniken als Psychoanalytikerin. In diese Zeit fällt auch ihre Freundschaft mit Doris Lessing.
Aber in London wurde sie nie heimisch, viele ihrer Bekannten hatten die Stadt bereits verlassen, sie fühlte sich dort einsam und verließ England ohne Bedauern.
Berlin – Ost und West
Jan Petersen, ihr alter Bekannter aus Berlin, sorgte nach dem Krieg dafür, dass ihre beiden Kinderbücher in der DDR veröffentlicht wurden, auch in Polen sollte es erscheinen. Die Perlmutterfarbe wurde ein Bestseller. Von der DEFA erhielt Anna Maria Jokl einen Vertrag zur Verfilmung des Romans. So zog sie Ende August 1950 auf Einladung des Kulturministeriums der DDR nach Ostberlin, wo zu der Zeit viele alte Bekannte von ihr lebten.
Die Freude war jedoch nur von kurzer Dauer: Am 1. November wurde ihr die Aufenthaltsgenehmigung für die DDR entzogen. Die Gründe dafür sind bis heute unklar. Sie musste Ostberlin verlassen und zog nach Westberlin, das Drehbuchprojekt wurde abgebrochen. Zu einer Verfilmung des Romans sollte es dann erst 2008 kommen.
Die grundlose Ausweisung empfand sie als Beleidigung und sah sich in einer Reihe ausländischer Intellektueller, deren Gemeinsamkeit es war, dass sie jüdisch waren.
Ab 1951 arbeitete Anna Maria Jokl in Berlin als Publizistin und frei praktizierende Psychotherapeutin, so unter anderem 14 Jahre im Jüdischen Krankenhaus.
Vom Vorstand der Jüdischen Gemeinde wurde sie in den Rundfunkrat des SFB gewählt, für den sie auch selbst Beiträge schrieb.
1956 lernte Anna Maria Jokl bei einer Tagung der Evangelischen Akademie in Berlin den Religionsphilosophen Martin Buber kennen, mit dem sie weiterhin in Kontakt bleiben sollte.
Erst in Berlin fällt ihr auf, dass sie nie auf die Idee gekommen war, zu heiraten. „Heim und Kinder“ waren während der Zeit der Emigration für sie nicht von Bedeutung.
Auf vier Israel-Reisen reifte ihr Entschluss, dorthin auszuwandern; erste Überlegungen dazu hatte sie bereits in England, aber es dauerte noch bis 1965, bis sie diese Idee umsetzte.
Kurz vor ihrer Auswanderung entdeckte sie durch die Lektüre von Rahel Varnhagen und Eichmann in Jerusalem die Philosophin Hannah Arendt: „(…) was das für eine gescheite Frau ist (…). Endlich eine Frau!“ (in: Aus sechs Leben)
Jerusalem
Die Ausreise nach Israel sah Anna Maria Jokl als „historische Konsequenz“, und sie nahm auch die israelische Staatsbürgerschaft an. Von dort aus bemühte sie sich auf vielfältige Weise um den deutsch-jüdischen Dialog.
In Jerusalem arbeitete sie noch von 1965 bis 1985 als Psychotherapeutin. Ab 1978 wurde sie Mitglied im Verband deutschsprachiger Schriftsteller in Israel. Sprache war für sie die Konstante in ihrem Leben, Schreiben ihre Überlebensstrategie. In ihrem dort entstandenen Spätwerk bemühte sie sich um die Verständigung mit der Generation, die erst nach der Shoah geboren wurde.
1977 unternahm sie eine 30-tägige Reise nach London, über die sie in ihrem autobiografischen Bericht Die Reise nach London mit vielen Rückblicken, nicht nur auf ihre dortige Zeit, schrieb.
Zur Entgegennahme des Hans-Erich-Nossack-Preises für ihr Gesamtwerk, den sie 1995 erhielt, reiste sie ein erstes und einziges Mal seit ihrer Auswanderung zurück nach Deutschland.
(Text von 2021)
Verfasserin: Doris Hermanns
Zitate
„In eine Synagoge, reformistisch oder konservativ, gehöre ich nicht, höchstens als Zuschauer in einer sefardischen, wo die Ergriffenheit naiv und spontan ist; ganz zu schweigen von einer orthodoxen wie in Mea Shearim, einer Welt von fanatischer obgleich authentischer Religiösität.“
„Kommt man entwurzelt in ein neues Land, dann ist die Vergangenheit wie ausgelöscht, der Weg abgebrochen. Man muß sich neu sammeln, definieren, konstituieren. Das braucht lange Zeit.“
Aus: Die Reise nach London
„Ich habe mich nie der allgemeinen menschlichen Gesellschaft so angehörig gefühlt – eher immer wie ein Gast –, als daß ich ein Eingreifen und Mittun in ihren üblichen Formen für wesentlich und mitentscheidend gehalten hätte. Immer das Gast- oder das Kindergefühl.“
„Wer keine Heimat hat, kann sie sich mit der äußersten Kraft zu schaffen suchen – in einem Kind, im Wort oder der Farbe. Es ist ein Ersatz, wenn auch ein Ersatz, der das, was er ersetzen möchte, zu überholen vermag.“
„(…) daß ich Jüdin bin, ist das einzig Sichere in der Welt, das einzig glücklich Unveränderliche; so werde ich ganz sein in der Realität, wohin es auch führt.“
„Ich muß mir Türen aufmachen, wenn sie sich sonst nirgends zeigen. Ich muß mir einen Boden unter meine Füße schreiben, wenn mir der wirkliche zu unreal ist.“
Aus: Aus sechs Leben
Literatur & Quellen
Literatur über Anna Maria Jokl:
Blumesberger, Susanne, Bettina Kümmerling-Meibauer, Jana Mikota: “Hieroglyphe der Epoche?” Zum Werk der österreichisch-jüdischen Autorin Anna Maria Jokl (1911-2001). (2014) Praesens Verlag
Budke, Petra und Jutta Schulze: Schriftstellerinnen in Berlin 1871 bis 1945. Ein Lexikon zu Leben und Werk. Reihe: Der andere Blick. Frauenstudien in Wissenschaft und Kunst. Berlin, Orlanda Frauenverlag, 1995, S. 193f
Herweg, Nikola: „Nur ein Land / mein Sprachland“. Heimat erschreiben bei Elisabeth Augustin, Hilde Domin und Anna Maria Jokl. (2011) Würzburg, Königshausen & Neumann
Lessing, Doris: Schritte im Schatten. Autobiographie 1949 bis 1962. (1997) Übersetzung: Christel Wiemken. Hamburg, Hoffmann und Campe
Mikota, Jana: Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur: Eine kurze Einführung
oder Eine Reise durch die Welt der Kinder- und Jugendliteratur für Lese- und Literaturpädagogen. (2014) neobooks Self-Publishing
Pesch, Pesch: Anna Maria Jokl und der ‚Jossel Rackower’ von Zvi Kolitz. Mit einem “Geleitwort” von Itta Shedletzky und der “Nachbemerkung eines Philologen” von Norbert Oellers (2005). Trier, Wissenschaftlicher Verlag
Rieder, Bernadette: Unter Beweis: Das Leben: Das Leben. Sechs Autobiographien deutschsprachiger SchriftstellerInnen aus Israel. (2008) Göttingen, V&R unipress
Wall, Renate: Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen im Exil 1933-1945. Band 1. Freiburg i. Br., Kore, 1995. S. 154-156
Anna Maria Jokl in der Deutschen National Bibliothek
Anna Maria Jokl in der Österreichischen National Bibliothek
Werke von Anna Maria Jokl:
Aus sechs Leben. (2011) Hg. Und mit einem Nachwort versehen von Jennifer Tharr. Mit einem Essay von Itta Shedletzky. Berlin, Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag
Die Reise nach London. Wiederbegegnungen. (1999) Frankfurt am Main, Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag
Zwei Fälle zum Thema ˃Bewältigung der Vergangenheit˃. (1997) Frankfurt am Main, Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag
Essenzen. (1993) Frankfurt am Main, Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag
Die verzeichneten Tiere. (1950) Berlin, Altberliner Verlag
Die Perlmutterfarbe. Ein Kinderroman für fast alle Leute. (1948) Ostberlin, Dietz Verlag. Neuauflage: Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2001
Die wirklichen Wunder des Basilius Knox. (1948) Zürich, Universum. Neuauflagen: Berlin, Verlag Neues Leben, 1949 und Frankfurt am Main, Insel Verlag, 1997
Das süße Abenteuer. Eine Geschichte für Kinder. (1937) Prag, Industriedruckerei. Neuauflage: Wien, Globus, 1946
Basilius Knox. Román pro dĕti od 10 do 70 let. (1937) Mit einem Nachwort von Oskar Kokoschka. Prag, ČIN
Umĕlecké základy amatérského filmu. (Zábĕr a montaz). (1935) Erschienen in der Reihe: Knihovna kinorádce. Band 3. Prag, E. Beaufort
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