Fembio Specials Pionierinnen der Frauenbewegung Andreas Burnier
Fembio Special: Pionierinnen der Frauenbewegung
Andreas Burnier
© Ineke van Mourik
(bürgerlicher Name: Catharina Irma Dessaur, C.I. Dessaur, Untergrundname: Ronnie van Dijk, Ehename: Catharina Irma Zeylmans van Emmichoven-Dessaur, Autorinnenpseudonym: Andreas Burnier)
geboren am 3. Juli 1931 in Den Haag, Niederlande
gestorben am 18. September 2002 in Amsterdam, Niederlande
niederländische Schriftstellerin und Kriminologin
20. Todestag am 18. September 2022
Biografie • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Sie war zeitlebens eine radikale Denkerin und eine Außenseiterin: Als jüdisches Mädchen musste sie während der deutschen Besatzung untertauchen; als Mädchen fühlte sie sich als Junge, der im falschen Körper steckte; als „transgender avant la lettre“ kämpfte sie mit ihrer Identität; als Ehefrau fühlte sie sich in der falschen Rolle; als Feministin weigerte sie sich, Männerhass und fehlenden Ehrgeiz als Tugenden anzuerkennen; als Autorin wagte sie es, offen lesbische Romane zu schreiben; als Kriminologin bestand sie darauf, streng wissenschaftlich zu arbeiten während einer Zeit, in der alle dem sozialen Umfeld die Schuld gaben; als alle anderen dafür zu sein schienen, kämpfte sie einsam gegen die Legalisierung von Euthanasie. Erst gegen Ende ihres Lebens fand sie ein Zuhause im Judentum.
Als Catharina Irma Dessaur wurde Andreas Burnier 1931 in Den Haag als Tochter von Rosa Louise Jacobs und Salomon Dessaur, Handelsreisender, geboren. Beide gehörten dem liberalen Judentum an. Den Haag beherbergte zu dieser Zeit die zweitgrößte jüdische Gemeinde in den Niederlanden. Ab 1933 gab es dort eine starke Zuwanderung von Flüchtlingen aus Deutschland. Ihre ersten Lebensjahre beschrieb Burnier als vergnüglich und beschützt. Vor allem der mütterlichen Seite ihrer Familie fühlte sie sich ihr Leben lang verbunden. An sich zu klug für die erste Klasse (sie konnte bereits lesen) kam Dessaur auf eine Montessori-Schule, wo sie endlich lernen konnte, was sie wollte und zwar so viel und so schnell wie sie nur wollte.
Die Besatzung der Niederlande durch die deutsche Wehrmacht 1940 setzte diesem unbesorgten Leben ein Ende. Bereits nach kurzer Zeit wurden die auch in Deutschland geltenden Maßnahmen gegen Juden und Jüdinnen eingeführt. Ab August 1941 durften jüdische Kinder keine Schule mehr besuchen, und Dessaur wurde zu Hause unterrichtet. Im Gegensatz zu ihrer Familie waren sich zu dieser Zeit viele noch nicht der Gefahren einer Deportation bewusst. Ein Bruder ihrer Mutter war jedoch bereits im August 1941 nach Mauthausen gebracht worden, wo er nicht mal einen Monat überlebte. Da Den Haag bereits das Zentrum der deutschen Faschisten in den Niederlanden war, beschloss die Familie unterzutauchen, was dadurch erleichtert wurde, dass sie nicht-jüdische Bekannte hatten, die ihnen halfen. Als Burnier elf Jahre alt war, brachte eine Lehrerin der Montessori-Schule sie nach Eindhoven, wo sie unter dem Namen „Ronnie van Dijk“ lebte. Drei Jahre lang sollte sie in verschiedenen Familien an sechzehn verschiedenen Adressen von ihren Eltern getrennt leben. Die Erfahrungen aus dieser Zeit hat sie in ihrem Roman Het Jongensuur (deutsch: Knabenzeit) beschrieben. Den Namen Ronnie behielt sie anschließend bei. Sowohl ihre Eltern als auch alle vier Großeltern hatten den Holocaust überlebt. Aber die Tochter hatte sich von ihren Eltern entfremdet. Sie sah sich zu dieser Zeit als Calvinistin; jüdisch zu sein bedeutete für sie, was sie während des Krieges gelernt hatte: nach einem angenehmen Anfang plötzlich von Männern mit Hunden verfolgt zu werden, die ihr nach dem Leben trachteten, sowie aus ihrer vertrauten Umgebung herausgerissen zu werden.
Bei Kriegsende war sie 13 Jahre alt und besuchte erst einmal das Gymnasium, wo sie hart arbeiten musste, um ihren Rückstand aufzuholen, bevor sie 1949 anfing, in Amsterdam Medizin und Philosophie zu studieren. Beide Fachrichtungen erlebte sie als Männerbastion; ein Dozent weigerte sich schlichtweg, die damals Achtzehnjährige zu begleiten.
Gleichzeitig aber besuchte sie vornehmlich Schwulenkneipen, froh darüber, dass dort nur Männer waren, denn sie hatte Angst vor sichtbaren Lesben, aber es war ihr wichtig zu wissen, dass es sie gab. Zum COC, dem Interessenverband von Lesben und Schwulen, zu gehen, bedeutete für Dessaur kein „Nach-Hause-kommen“, sondern ein erneutes Untertauchen. Es war eine Zeit der Wirrungen, die zu Alkoholismus und Leseblindheit führte.
1953 heiratete sie den Verleger des Castrum Peregrini Verlags J.E. Zeijlmans van Emmichoven, an den sie einige ihrer ersten Gedichte geschickt hatte. Über das Warum der Heirat sagte sie: „Das war, was alle taten.“ So wie Menschen im Krieg aus Müdigkeit und Feigheit kollaboriert hätten, habe sie geheiratet. Durch die Ehe war sie die Schwiegertochter des prominentesten niederländischen Anthroposophen geworden, aber es war vor allem ihre Schwiegermutter, die großen Einfluss auf sie ausüben sollte und an der sie sich orientierte.
Auch wenn sie nach außen hin wie ein Modellehepaar wirkten und zwei Kinder bekamen, gab es große Spannungen in der Beziehung. Dessaur sah sich als absolut ungeeignet für die Rolle als Mutter und Hausfrau. 1961 erfolgte die Scheidung; sie zog mit den Kindern zu ihren Eltern und fing wieder an zu studieren - fing wieder an zu leben, wie sie es nannte. Diesmal entschied sie sich für Philosophie mit den Nebenfächern Mathematik und Kriminologie in Leiden, ein Studium, das sie mit cum laude abschloss. Zu dieser Zeit lernte sie die Fotografin Paul Franssen kennen, die für die nächsten 17 Jahre ihre Geliebte werden sollte.
Noch während ihres Studiums debütierte sie 1965 unter dem Namen Andreas Burnier mit dem Roman Een tevreden lach (deutscher Titel: Rendevouz bei Stella Artois), in dem sie auf eine für die damalige Zeit sehr offene Weise völlig selbstverständlich über eine lesbische Frau schreibt. Für diesen Roman erhielt sie zwei Jahre später den renommierten Lucy B. und C.W. van der Hoogtpreis. Ab dieser Zeit schrieb sie u.a. auch für die Zeitungen Algemeen Handelsblad und Het Parool. Im gleichen Jahr sollte auch ihr zweites Buch, der Erzählungsband De verschrikkingen van het noorden (deutscher Titel: Die Schrecken des Nordens), erscheinen.
Andreas Burnier war eine wichtige Vorläuferin der zweiten Frauenbewegung. Bereits Ende der 1960er Jahre schrieb sie darüber, was es bedeutet, in einem weiblichen Körper geboren zu werden und über die Geringschätzung, die dies zur Folge hat. Auch wenn sie Mitglied der MVM (Man Vrouw Maatschappij, deutsch: Mann Frau Gesellschaft) war, einer 1968 gegründeten feministischen Aktionsgruppe, in der auch Männer Mitglied sein konnten, so war sie keine Aktivistin. Ihre Stärke lag in ihren inspirierenden Reden und Veröffentlichungen. Dabei kam es durchaus immer wieder zu Konflikten mit Feministinnen aus der Frauenbewegung. Was sie im Feminismus vor allem vermisste, war eine konkrete Idee, eine Vision des Menschen, ein Weltbild. Zu viele Frauen schienen ihr nur zu jammern und zu klagen, ohne den Versuch zu unternehmen, eine positive Alternative zu suchen.
Bereits 1971 machte sie auf einem Frauenkongress in Bunnik, bei dem sie eine Rede über sie Situation von Frauen u.a. an Universitäten hielt, den Vorschlag, eine „free university“ zu gründen. Frauenforschung an Universitäten sollte jedoch noch fünf Jahre auf sich warten lassen. Wieder einmal, wie so oft in ihrem Leben, war sie der Gesellschaft weit voraus.
Von 1983 bis zu ihrem Lebensende lebte Burnier mit Ineke van Mourik zusammen, einer Redakteurin, Publizistin und Bibliothekarin des Instituts für Frauengeschichte Aletta (heute Atria) in Amsterdam.
Andreas Burnier war von 1973 bis 1988 Hochschullehrerin für Kriminologie an der katholischen Universität in Nijmegen. Während dieser Zeit publizierte sie neben diversen Romanen auch zahlreiche Essays, Briefe und Artikel, mit denen sie zu gesellschaftlichen Diskussionen Stellung bezog. So veröffentlichte sie 1986 ein Buch mit dem Titel Mag de dokter doden? (Darf ein Arzt töten?), in dem sie sich eindeutig gegen die Legalisierung von Euthanasie aussprach, die sie für unnötig und unmoralisch hielt. Sie hatte die Befürchtung, dass die Kriterien für die Zulassung immer breiter würden und hegte Zweifel an einer „Freiwilligkeit“ bei Alten und Kranken, also abhängigen Menschen, eine Garantie für deren eigene Entscheidung hielt sie für unmöglich. Wo es vielen Menschen in den Niederlanden seit Ende der 1960er Jahren darum ging, Themen wie z. B. Sexualität und Tod aus der Tabuzone zu holen, wies Burnier auf den Bezug zum Nationalsozialismus hin. Anders als bei anderen Publikationen erntete sie hierfür im Wesentlichen negative Kritik.
Aufgrund ihrer Erfahrungen während des Krieges hatte sich Burnier lange Zeit von ihrem jüdischen Hintergrund abgewandt. Erst in den 1980er Jahren sollte sich dies ändern; in ihrem letzten Roman De wereld is van glas (Die Welt ist aus Glas), spielt das Judentum eine tragende Rolle. Wichtig für sie war, dass die frauenfeindlichen Bräuche und Gesetze, gegen die sie sich immer zur Wehr gesetzt hatte, innerhalb der liberalen jüdischen Gemeinde größtenteils abgeschafft waren. Jetzt erst lernte sie Hebräisch und viel über das Judentum, über dessen Traditionen und Gebräuche. Sich selber sah Burnier als spirituell Suchende. Nach ihrer Pensionierung arbeitete sie hauptsächlich in Lerngruppen und schrieb Essays zu jüdischen Themen. Sie blieb weiterhin eine öffentliche Intellektuelle. Burnier sah es als Privileg an, innerhalb einer unterdrückten Gruppe geboren worden zu sein.
1991 wurde sie als Ridder in der Orde van Oranje Nassau ausgezeichnet, dem niederländischen Verdienstorden für Menschen, die sich besonders für die Gesellschaft und das Gemeinwesen eingesetzt haben.
Andreas Burnier starb 2002 im Alter von 71 Jahre an einer Gehirnblutung.
(Text von 2017; alle Bilder mit frdl. Genehmigung von Ineke van Mourik; die Bildrechte liegen bei ihr.)
Literarische Preise:
1967 – Lucy B. en C.W. van der Hoogtprijs für Een tevreden lach
1980 – Jan Greshoffprijs für De zwembadmentaliteit
1983 – Annie Romeinprijs für ihre ‘zahlreichen eigenwilligen, originelen, immer interessanten und zum Nachdenken anregenden Publikationen auf dem Gebiet der Frauenkultur’
1985 – Publikumspreis Anna Bijns
1987 – Busken Huetprijs für ihre Essays 1968-1985
1991 – Verzetsprijs für ihr Gesamtwerk
Verfasserin: Doris Hermanns
Links
Website über Andreas Burnier: http://www.andreasburnier.nl/
Literatur & Quellen
Literatur von Andreas Burnier:
Een tevreden lach. Roman. Amsterdam, Querido, 1965 (deutsch: Rendevouz bei Stella Artois. Berlin, Twenne, 1994, Übersetzung: Waltraud Hüsmert)
De verschrikkingen van het noorden. Verhalen. Amsterdam, Querido, 1967 (deutsch: Die Schrecken des Nordens. Darmstadt, Melzer, 1968, Übersetzung: Jürgen Hillner)
Het jongensuur. Roman. Amsterdam, Querido, 1969 (deutsch: Knabenzeit. Berlin, Twenne, 1993, Übersetzung: Waltraud Hüsmert, Neuauflage: Berlin, Klaus Wagenbach, 2016)
De huilende libertijn. Roman. Amsterdam, Querido, 1970
Wetenschap tussen cultuur en tegencultuur. Nijmegen, Katholieke Universiteit Nijmegen, 1973 (Dirrede unter C.I. Dessaur)
Poëzie, jongens en het gezelschap van geleerde vrouwen. Essays, verhalen en gedichten. Amsterdam, Querido, 1974
De reis naar Kíthira. Roman. Amsterdam, Querido, 1976
De zwembadmentaliteit. Essays. Amsterdam, Querido, 1979 (online: www.dbnl.org/tekst/burn001zwem01_01/)
Na de laatste keer. Gedichten. Amsterdam, Querido, 1981
De droom der rede. Het mensbeeld in de soicale wetenschappen. Een poging tot criminosofie. ’s-Gravenhage, Martinus Nijhoff, 1982 (unter C.I. Dessaur)
De litteraire salon. Roman. Amsterdam, Querido, 1983 (online: www.dbnl.org/tekst/burn001litt01_01/)
Belletrie 1965-1981. Amsterdam, Querido, 1985
Essays 1968-1985. Amsterdam, Querido, 1985
De trein naar Tarascon. Roman. Amsterdam, Querido, 1986
Mag de dokter doden? Argumenten en documenten tegen het euthanasisame. Pamfelt. Amsterdam, Querido, 1986 (unter C.I. Dessaur, zusammen mit C.J.C. Rutenfrans)
Gesprekken in de nacht. Briefwisseling 1981-1986 met René van Hezewijk en Chris Rutenfrans. Amsterdam, Querido, 1987
De rondgang der gevangenen. Een essay over goed en kwaad, in de vorm van zeven brieven aan de Platoclub. Amsterdam, Querido, 1987 (unter C.I. Dessaur)
Mystiek en magie in de literatuur. Essays. Leiden, Nijhoff, 1988 (Tekst Albert Verwey-lezingen)
Die Wirklichkeit des Geistigen in der abstrakten Kunst. Stuttgart, Freies Geistesleben, 1988. Übersetzung von „Het spirituele in de kunst“: Angelika Sandkühler & Frank Berger
De achtste scheppingsdag. Essays 1987-1990. Amsterdam, Meulenhoff, 1990
Een wereld van verschil. Het jodendom als religie tussen de wereldreligies. Amsterdam, De Rode Hoed, 1994 (Abel Herzberglezing; ’94)
De wereld is van glas. Roman. Amsterdam, Meulenhoff, 1997
En al die onaangenaamheden omdat je geen man bent: brieven van een jonge schilderes rond 1900. Auteur: Sanne Bruinier. Uitgegeven door Andreas Burnier & Caroline van Tuyll van Serooskerken. Amsterdam, Contact, 1993
Joods lezen. S.l., s.n., 1997 (Jubileumuitgave Joods Boekenweekend 1997)
Een gevaar dat de ziel in wil. Essays, brieven en interviews 1965-2002. Samenstelling: Ineke van Mourik & Chris Rutenfrans. Amsterdam, Augustus, 2003
Na de laatste keer. Gedichten. Herziene uitgave. Samenstelling: Ineke van Mourik, Maaike Meijer & Jonne Linschoten. Amsterdam, Augustus, 2003
Ruiter in de wolken. Joodse essays en artikelen 1990-2002. Samenstelling & redactie: Daniel van Mourik & Manja Ressler. Amsterdam, Atlas Contact, 2015
Literatur über Andreas Burnier:
Burnier, Andreas: Waar kan men oude namen vinden, wie kent de naam die mij verliet? In: Lust & Gratie nr. 38, 1993, S. 7-22
Lockhorn, Elisabeth: Andreas Burnier: Metselaar van de wereld. Amsterdam, Augustus Atlas Contact, 2015
Vermeij, Lucie Th.: Andreas Burnier, in: Sketches of 28 Dutch and Flemish Women Writers, in: Lucie Th. Vermij: Women Writers from the Netherlands and Flanders. Translation: Great Kilburn. Amsterdam, International Feminist Book Fair Press, 1992
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