Fembio Specials Frauenbeziehungen Amy Levy
Fembio Special: Frauenbeziehungen
Amy Levy
(Amy Judith Levy)
geboren am 10. November 1861 in South Lambeth, London
gestorben am 10. September 1889 in Bloomsbury, London
englische Dichterin, Romanautorin und Journalistin
135. Todestag am 10. September 2024
Biografie • Literatur & Quellen
Biografie
Amy Levys ganzes – kurzes - Leben war das einer Pionierin im ständigen Widerstand gegen den Status quo. Sie entstammte einer bürgerlichen Kaufmannsfamilie, jüdischen Immigranten der zweiten Generation. Ihre nicht sonderlich gebildeten Eltern waren ihrer Zeit insofern voraus, als sie ihren Töchtern die gleiche gute Ausbildung zukommen ließen wie ihren Söhnen. Amy, die schon als Kind einen frühreifen Verstand offenbarte, profitierte am meisten von der Aufgeschlossenheit der Eltern. Sie wurde zunächst zu Hause von einer “fortschrittlichen” Gouvernante unterrichtet, die sie ermutigte, Gedichte zu schreiben und die sie zu Treffen von Frauenrechtlerinnen mitnahm. Ab dem Alter von etwa fünfzehn Jahren ging sie dann in die Brighton Highschool für Mädchen und traf hier auf ihre zweite fortschrittliche Lehrerin, die Schulleiterin Edith Creak.
Creak selbst hatte eine viel bessere Ausbildung genossen als die meisten Frauen dieser Zeit. Was daran lag, dass ihr Vater Leiter einer Jungenschule in Hove war, und dort hatte sie gemeinsam mit dessen Schülern klassische Sprachen gelernt. Im Jahr 1871 war sie eine der ersten fünf Frauen, die zum kürzlich gegründeten Newnham College in Cambridge zugelassen wurden. Edith Creaks Unterricht war für Amy äußerst inspirierend gewesen, und sie errang die gleiche Auszeichnung: Sie bestand in Cambridge die Prüfung, die zum Studium berechtigte, und wurde im Oktober 1879, als erste jüdische Frau, zum Studium zugelassen.
In ihrer Zeit in Cambridge kämpfte Amy gegen ihre „verfluchte Schüchternheit“ an, wie sie es in einem Brief an ihre Mutter nannte. Obwohl sie nicht das Opfer direkter rassistischer Vorurteile war, scheint sie doch überzeugt gewesen zu sein, wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit eine Sonderstellung bei den Mitstudentinnen einzunehmen. Dieses Wissen ließ sie distanziert und zurückhaltend und damit unzugänglich erscheinen. Das Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit und Fremdheit verleitete sie zur Heldenverehrung. Immer wieder ging sie intensive Bindungen zu charismatischen Menschen ein, die – so fand sie - jene herausragenden physischen und/oder intellektuellen Qualitäten hatten, die sie an sich selbst vermisste. Das erste dieser Idole war ihre Schulleiterin in Hove, Edith Creak; das zweite war Jennie Stanford, die Frau von Charles Villiers Stanford, dem Leiter der Musikalischen Gesellschaft der Universität Cambridge. Amy gab ihren Gefühlen für Mrs. Stanford in zweien ihrer schönsten Gedichte beredten Ausdruck: in „To Sylvia“ und in „Sinfonia Eroica“. Beide Gedichte entstanden bald nachdem sie Cambridge verlassen hatte, Ende 1881 oder Anfang 1882. Diese Gedichte, ebenso wie andere an Frauen gerichtete Gedichte, waren der Anlass für die verbreitete Annahme, Amy sei lesbisch gewesen. Dieses einseitige Bild ihrer sexuellen Orientierung ist in letzter Zeit durch Belege dafür erschüttert worden, dass sie ähnliche Gefühle für Karl Pearson hegte. Er war zur gleichen Zeit wie sie in Cambridge, Professor am King's College und später Professor für Mathematik am University College London. Wie Edith Creak verfügte Pearson über eine große geistige Begabung, und wie Jennie Stanford war er ein Paradebeispiel englischer Schönheit – blond, mit blauen Augen und ebenmäßigen Gesichtszügen. Pearson und Amy kannten sich gut, weil sie beide seit 1882 Mitglieder des radikalen Londoner Debattierklubs „A Men and Women's Club“ waren.
Ehe Amy Cambridge verließ, gab ein kleiner Verlag, E. Johnson & Co, ihre erste Gedichtsammlung mit dem Titel Xantippe and Other Verse heraus. Der Erfolg dieses schmalen Bandes bedeutete den ersten Schritt in ihrer literarischen Karriere. In den folgenden neun Jahren veröffentlichte sie zwei weitere Gedichtbände, drei Romane und zahlreiche Artikel für Zeitschriften und Zeitungen. So groß jedoch ihr Erfolg auch sein mochte, nichts konnte ihr schwaches Selbstbewusstsein stärken. Immer wieder hatte sie längere psychische und physische Schwächephasen und unternahm daher Mitte der 1880er Jahre eine Reihe ausgedehnter Europareisen, um der Enge ihres elterlichen Hauses zu entfliehen. Neue Orte und neue Gesichter sollten ihr über die Melancholie hinweg helfen, die sie ihr ganzes Erwachsenenleben quälte. Während des ersten ihrer zwei Aufenthalte in Florenz, im Frühjahr 1886, lernte sie Vernon Lee kennen, die Frau, die in ihren Gefühlen Pearson ablöste, nachdem der sie schwer verletzt hatte: Er verweigerte ihr die Mitgliedschaft in seinem zweiten “Men and Women's Club”, den er kurz nach dem Ende des ersten gegründet hatte.
Nach dieser Zurückweisung wurde ihr klar, dass ihr unabhängiger Lebensstil nicht mit der Rolle vereinbar war, die die jüdische Gesellschaft Frauen vorschrieb. Sie war daher entschlossen, sowohl ihr Einkommen als auch ihren Ruf in der literarischen Welt zu verbessern, indem sie sich der wirtschaftlich erfolgreicheren Gattung des Romans zuwandte. Der erste ihrer Romane, The Romance of a Shop, erschien 1888. In einem Brief an Vernon Lee räumte sie offen ein, dass sie ihn mit dem Blick auf den Markt geschrieben hatte, und beschrieb ihn als „leicht, und gedacht für junge Menschen“. Sie fügte hinzu: „Du darfst mich dafür nicht zu hart verurteilen – er entspricht mehr oder weniger meinen eigenen Zielen ...“. Die Geschichte erzählt die Abenteuer von vier Schwestern, die nach dem unerwarteten Tod des Vaters in der Londoner Baker Street ein Fotogeschäft eröffnen. Es ist ein frühes Beispiel des New Woman-Romans, der dann in den 1890ern seine Blüte hatte.
Ganz anders ihr zweiter Roman. Hier nahm Amy ihr Lesepublikum mit auf die Reise in eine Gesellschaft, die den meisten völlig unbekannt gewesen sein dürfte, in das verschlossene, konservative Innerste der Londoner jüdischen Gemeinde. Im Unterschied zu den unabhängigen, starken Protagonistinnen von Romance of a Shop ist die Heldin von Reuben Sachs, Judith Quixano, der Prototyp jener Frau, über die Amy in einem früheren Aufsatz im Jewish Chronicle hergezogen war. Ihr Aufsatz mit dem Titel „Jüdische Frauen der heutigen Mittelschicht“ beschrieb diese als „einen Haufen halbgebildeter, verwöhnter Geschöpfe, die nur nach materiellen Genüssen streben … deren sehnlichste Wünsche im Leben (gleich nach einem Ehemann) ein Zobelmantel und mindestens ein Paar Brillantohrringe sind“. Judith Quixano betrachtet sich selbst ganz ähnlich, als „nur eine in einer riesigen Schar von Mädchen, die auf Aufstieg durch die Ehe warten“. Reuben Sachs war ein wirtschaftlicher Erfolg, das unvorteilhafte Bild aber, das Amy auch hier von ihrer ethnischen Familie entwarf, von deren physischen und emotionalen Unzulänglichkeiten, rief erheblichen Unmut in der Gemeinde hervor.
Vielleicht deshalb griff sie in ihrem dritten Roman, Miss Meredith, zu einem erprobten und bewährten Muster. Die literarische Gattung – Schilderung der Leiden der viktorianischen Gouvernante – war in den 1880ern zwar längst überholt. Da der Roman jedoch ursprünglich als Fortsetzungsroman im British Weekly erscheinen sollte – dessen Lesepublikum „fortschrittliche“ Literatur definitiv nicht goutiert hätte – , ist es durchaus denkbar, dass Amy, wie schon bei The Romance of a Shop, ihre Erzählung auf das potentielle Lesepublikum zugeschnitten hatte.
Trotz ihres literarischen Erfolgs und der Unterstützung durch Freundinnen, Freunde und Familie gelang es Amy leider letztlich nicht, die Realität ihres Lebens mit dem zu versöhnen, was Oscar Wilde „das Sehnen ihres Herzens“ nannte. Kurz vor ihrem achtundzwanzigsten Geburtstag, am 9. November 1889, schloss sie sich in einen kleinen Raum im Haus ihrer Eltern in Bloomsbury ein, entzündete im Kamin ein Kohlenfeuer, legte sich aufs Bett und wartete auf die tödlichen Schwaden, die sie ins Vergessen tragen sollten. Im Tod, wie im Leben, trotzte sie Konvention und Jüdischem Gesetz – sie hinterließ die Anweisung, dass ihr Körper nicht beerdigt, sondern verbrannt werden sollte, und war so die erste Jüdin, die in England kremiert wurde. (Aus dem Englischen von Liselotte Glage)
Verfasserin: Christine Pullen
Literatur & Quellen
Pullen, Christine. 2010. The Woman Who Dared: A Biography of Amy Levy. Kingston, Surrey. Kingston UP.
Amy Levy: Critical Essays. 2010. Ed. Naomi Hetherington and Nadia Valman. Athens, Ohio, Ohio UP.
Levy, Amy. The Romance of a Shop. 2006. Ed. Susan David Bernstein. Broadview Press.
Levy, Amy. Reuben Sachs. 2006. Ed. Susan David Bernstein. Broadview Press.
Beckman, Linda Hunt. 2000. Amy Levy: Her Life and Letters. Athens, Ohio. Ohio UP.
New, Melvyn. 1993. The Complete Novels and Selected Writings of Amy Levy. Gainesville, Tallahassee Tampa Boca Raton Pensacola Orlando Miami Jacksonville. UP of Florida
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