Fembio Specials Europäische Jüdinnen Alice Herz-Sommer
Fembio Special: Europäische Jüdinnen
Alice Herz-Sommer
(Alice Herz / Alice Hercová [Geburtsname], Alice Herz-Sommer / Alice Hercová-Sommerová [Ehename])
geboren am 26. November 1903 in Prag
gestorben am 23. Februar 2014 in London
tschechisch-israelische Pianistin, älteste Holocaust-Überlebende
10. Todestag am 23. Februar 2024
Biografie • Literatur & Quellen
Biografie
Bereits als junges Mädchen beschloss Alice Herz, Musikerin zu werden und übte täglich stundenlang am Klavier. Dabei ging es ihr nie darum, sich mit anderen zu messen, sondern sie strebte bis ins hohe Alter für sich selber nach Perfektion. Auch nach hundert Jahren Üben geht sie davon aus, dass sie immer noch neue Bedeutungen in Stücken entdecken kann. Langweilig wird ihr nie, und auch in ihrem hohen Alter übt sie täglich noch mehrere Stunden. Als sie krankheitsbedingt nicht mehr mit zehn Fingern spielen konnte, da zwei Finger steif geworden waren, fing sie halt an, die Stücke mit acht Fingern neu einzuüben. Musizieren hat sie ihr Leben lang glücklich gemacht.
Als Alice Herz und ihre Zwillingsschwester Marianne 1903 geboren wurden, galt Prag noch als eine der führenden Kulturmetropolen Europas, zeitweilig sogar als Musterbeispiel der Vielfalt und des Zusammenlebens verschiedener Kulturen. Aufgewachsen in einer deutschsprachigen bürgerlichen Familie - der Vater war Fabrikdirektor, die Mutter vornehmlich an klassischer Musik und Literatur interessiert - war sie von klein auf von Kultur umgeben. Den ersten Klavierunterricht erhielt sie von ihrer älteren Schwester Irma und wechselte später zu deren Klavierlehrer Václav Štěpán, durch den sie den tschechischen Kulturkreis kennenlernte, der ihr bis dahin weitgehend unbekannt war. Hauskonzerte waren damals noch selbstverständlich und eine beliebte Form der Unterhaltung. So bildete Alice Sommer dann auch ein Trio mit ihrem Bruder Paul, der Geige spielte, und einem Freund von ihm, einem Cellisten. Nach ihrem Schulabschluss am Mädchenlyzeum bewarb sich Alice Herz 1920 an der neu gegründeten „Deutschen Akademie für Musik und darstellende Künste“, an der es eine Meisterklasse für Klavier gab. Dass diese für ausgebildete Pianisten sein sollte, konnte sie wenig beeindrucken, war sie doch fest entschlossen, dort einen Platz zu bekommen. Sie wurde als jüngstes Mitglied aufgenommen und in den nächsten drei Jahren von Conrad Ansorge unterrichtet.
Nicht nur übte Alice Herz sechs bis acht Stunden täglich, sie gab nebenher auch noch Klavierunterricht, da sie sich ein neues Klavier kaufen wollte. Ebenso gerne beschäftigte sie sich mit Musiktheorie und sang im Chor der Akademie mit.
1924 hatte sie ihr Debüt an der Tschechischen Philharmonie mit dem ersten Klavierkonzert von Chopin. Ab dieser Zeit gab sie jährlich etwa zwei bis drei Solokonzerte in Prag und unterrichtete weiterhin.
Im Jahre 1925 lernte sie den Handelskaufmann und Kunstliebhaber Leopold Sommer kennen, den sie 1931 heiratete. 1937 kam ihr Sohn Stephan zur Welt. Als Optimistin daran gewöhnt, sich auf das Gute zu konzentrieren und notfalls in die andere Richtung zu gucken, versuchte sie die Besetzung der Tschechoslowakei 1939 weitgehend zu ignorieren. Sie wollte ihr Familienglück nicht durch die politischen Entwicklungen getrübt sehen. Aber natürlich betrafen alle antijüdischen Verordnungen sie genauso wie alle anderen. Ihre beiden Schwestern entschlossen sich, mit ihren Ehemännern nach Palästina auszuwandern, nur sie beschloss zu bleiben. Als die Verbote immer weiter in ihr Leben eingriffen, versuchte ihr Mann zwar noch ein Unternehmen in Belgien aufzubauen, dies aber scheiterte an dem deutschen Überfall auf Belgien. Erst jetzt drang die bevorstehende Gefahr wirklich zu ihnen durch. Ihre Mutter war im Juli 1942 die erste aus der Familie, die einen Deportationsbefehl erhielt und ins Durchgangs- und Sammellager Theresienstadt gebracht wurde. In dieser Zeit war es vor allem die Musik, an der sich Alice Herz-Sommer festhielt. Zum einen war es die Musikalität ihres Sohnes, der das absolute Gehör hatte, und zum anderen nahm sie sich vor, die 24 Etüden von Chopin einzustudieren, den vielleicht schwersten Zyklus, der je für Klavier geschrieben wurde. Längst hätte sie als Jüdin ihr Pianino abgeben müssen, aber als ihr Piano abgeholt wurde, war dieses übersehen worden. Und so gab es trotz des Musik-Verbotes für Juden auch weiterhin Hauskonzerte. An ihrer Musik festzuhalten, sah sie als ihre persönliche Art, sich dem Nationalsozialismus zu widersetzen und sich ihre Würde nicht nehmen zu lassen.
Da Leopold Sommer bei der jüdischen Gemeinde arbeitete, gehörte seine Familie zu den letzten Juden, die 1943 ins Konzentrationslager Theresienstadt gebracht wurden. Die jüdische Selbstverwaltung dort hatte die Pianistin bereits im Voraus wissen lassen, dass sie gleich nach ihrer Ankunft im Ghetto ein erstes Konzert geben könnte. Daraus schöpfte sie die Zuversicht, dass es so schlimm schon nicht werden könne, wenn dort sogar Konzerte veranstaltet würden.
Von dem Grauen des Lagerlebens, das sie dort erleben sollte, hatte sie sich keine Vorstellung machen können. Vor allem für ihren Sohn wollte sie überleben; Kraft gab ihr auch in dieser Situation wieder die Musik.
Der Öffentlichkeit sollte vorgespielt werden, dass ältere jüdische Menschen in Theresienstadt ihren Lebensabend in gesicherten Verhältnissen verbringen konnten. So bekamen Prominente gewisse Privilegien, was nur wenige davor bewahrte, später nach Auschwitz gebracht und ermordet zu werden. Die Lagerhäftlinge hatten eine Abteilung für Freizeitgestaltung, in der sie das Kultur- und Musikleben selber organisieren konnten. Daher war Alice Herz-Sommer zeitweilig in der privilegierten Situation, von körperlicher Arbeit freigestellt zu sein. Als Mitarbeiterin der „Freizeitgestaltung“ war es ihr möglich, pro Tag eine halbe Stunde auf einem alten Klavier zu spielen, und so konnte sie über 100 Konzerte geben, während ihr Sohn in 55 Aufführungen der Kinderoper Bundibár mitwirkte.
Für die Gefangenen waren die Aufführungen eine Art Zufluchtsort, bei denen sie manchmal ihren Hunger und ihre Umgebung fast vergessen konnten. Die Musik spendete ihnen Trost und Hoffnung. Alice Herz-Sommer arbeitete dort auch als Musikpädagogin und gab Klavierunterricht. Erst nach Kriegsende erfuhr Alice Herz-Sommer, dass ihr Mann, der im September 1944 von Theresienstadt aus nach Auschwitz deportiert worden war, bereits kurz darauf in Dachau an Flecktyphus gestorben war.
Nach der Befreiung Theresienstadts durch die Rote Armee konnte sie für kurze Zeit nach Prag zurückkehren, war aber entsetzt von dem Antisemitismus und dem Deutschenhass, den sie dort erlebte. Statt Entschädigungen gab es nun weitere Enteignungen durch die Kommunisten, die an der Macht waren. Da ihr Leben von Angst und Misstrauen bestimmt war, entschloss sie sich 1949, mit ihrem Sohn zu ihren Schwestern nach Israel auszuwandern, wo sie, wie sie später sagte, die glücklichste Zeit ihres Lebens verbrachte.
Bei der Einbürgerung fühlte sie sich willkommen geheißen, und von Anfang an waren sie und ihre Zwillingsschwester wieder unzertrennlich. Sie fand schnell eine Arbeitsstelle an der Rubin-Akademie, denn ihr Ruf war ihr vorausgeeilt. Ihre Arbeit empfand sie als sinnvollen Beitrag zum Gemeinschaftsleben. Das Leben dort entsprach in vielem ihrer eigenen Einstellung: ihren sozialistischen Neigungen und ihrer Ablehnung materieller Werte.
Ihre ersten Jahre in Israel waren vom Aufbau des neuen Staates geprägt, in den sie ihr Wissen und Können als Klavierpädagogin einbringen konnte. Mit großem Ehrgeiz lernte sie auch Ivrit, das bereits ihre fünfte Sprache war. Einen Höhepunkt ihrer Woche bildeten für sie die Gespräche mit ihrem Schwager, dem Philosophen Felix Weltsch, mit dem sie sich bereits in Prag über philosophische Fragen auseinandergesetzt hatte.
Der Tod ihrer Zwillingsschwester 1974 war ein tiefer Einschnitt in ihrem Leben. Ab 1975 mietete sie sich eine Wohnung in London, wo ihr Sohn lebte. In den nächsten zehn Jahren verbrachte sie immer zwei Monate im Sommer in London und zwei Monate bei Freunden in Schweden, bis sie 1986 ganz nach London zog, um wieder in der Nähe ihres Sohnes zu sein. Mit 83 Jahren baute sie sich noch einmal einen neuen FreundInnenkreis auf. Zu ihrer Wahlfamilie gehörten während ihrer letzten Lebensjahre vornehmlich fünf Frauen, unter ihnen Anita Lasker-Wallfisch, eine der letzten Überlebenden des Frauenorchesters von Auschwitz.
Den Wunsch, in ihr Geburtsland zurückzukehren, hatte Alice Herz-Sommer nie, sie blieb israelische Staatsbürgerin.
(Text von 2013)
Verfasserin: Doris Hermanns
Literatur & Quellen
Melissa Müller & Reinhard Piechocki: Alice Herz-Sommer „Im Garten Eden inmitten der Hölle“. Ein Jahrhundertleben. München 2006, Droemer
Caroline Stoessinger: Ich gebe die Hoffnung niemals auf. Hundert Jahre Weisheit aus dem Leben von Alice Herz-Sommer. München 2012, Knaur
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