Empfehlungen Rolf Löchel: Utopias Geschlechter. Gender in deutschsprachiger Science Fiction von Frauen. 2012.
Rolf Löchel: Utopias Geschlechter. Gender in deutschsprachiger Science Fiction von Frauen. 2012.
Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach im Taunus 2012. 345 Seiten, 34,95 €. ISBN 978-3-89741-336-8
Rezension von Luise F. Pusch
Rolf Löchel ist vermutlich unter den KennerInnen feministischer Literatur der beste. Für das online-Magazin literaturkritik.de hat er seit 1999 sagenhafte 952 Rezensionen geschrieben, das sind sechs pro Monat über einen Zeitraum von 13 Jahren. Ich versuche, keine dieser Rezensionen zu verpassen, und so sind Rolf Löchels Rezensionen oft die einzigen, zu denen ich komme. Als Arbeitsschwerpunkte gibt er bei literaturkritik.de folgendes an: Geschlecht in Literatur, Film und Philosophie; feministische Literaturwissenschaft; dekonstruktiver Feminismus und Gender Studies; feministische Science Fiction; Geschichte der Frauenbewegung.
Löchel will mit seinem Buch eine Forschungslücke zwar nicht „schließen, denn dies wäre ein allzu prätentiöses Unterfangen, aber […] doch […] minimieren“: „angesichts dieser Vielfalt von in der SF-Literatur von Frauen verwirklichten Sexualitäts- und Geschlechterphantasien erstaunt es wenig, dass sich die Gender Studies ihrer zunehmend angenommen haben. Eine ganz bestimmte Forschungslücke besteht aber nach wie vor. Denn einschlägige Literatur von Frauen deutscher Zunge gerät dabei bislang nur ausnahmsweise in den Blick. So ist sie zwar ein inzwischen weites, aber noch immer unausgeleuchtetes Feld.“ [11] Löchel geht chronologisch vor, wobei er den Untersuchungszeitraum feministisch periodisiert. Auf die Zeit vor der Ersten Frauenbewegung (bis 1888) folgt die Zeit der Ersten Frauenbewegung (1889 bis 1918), danach der bei weitem längste Abschnitt „Zwischen den Frauenbewegungen (1919-1967)“, dann die Zweite Frauenbewegung (1968-1985) und schließlich „nach der Zweiten Frauenbewegung (1986-2010)“. Für Löchel hört die Zweite Frauenbewegung also auf genau zu dem Zeitpunkt, da ihre Institutionalisierung und Akademisierung in Deutschland einsetzt (erste Stellen für Frauenbeauftrage, Einrichtung der ersten Häuser für geschlagene Frauen, erste Professuren für feministische Forschung). Mir scheint diese Einteilung nicht immer einleuchtend.
Über das weitere Vorgehen informiert Löchel am besten selbst:
Innerhalb der chronologisch orientierten Ordnung werden die Werke der Autorinnen nicht jeweils separat untersucht, sondern gemeinsam unter je bestimmten Aspekten beleuchtet. Dabei werden insbesondere in den die Zeiten während und unmittelbar nach den beiden Wellen der Frauenbewegung behandelten [sic] Abschnitten auch die Bezüge der untersuchten Werke zu diesen Bewegungen in den Blick genommen. Zunächst aber werden die Autorinnen und ihr jeweiliges Oeuvre in meist nur wenigen Zeilen vorgestellt. Diesen Angaben schließt sich ein inhaltlicher Abriss ihrer hier näher behandelten Werke an. Sodann beginnt die eigentliche Untersuchung der Geschlechterkonstruktionen mit den durch die Werke transportierten allgemeinen Männlichkeits- und Weiblichkeitsvorstellungen und einer erörternden Darstellung der die einzelnen Figuren (namentlich die Protagonistinnen) charakterisierenden Geschlechterkonstruktionen sowie der geschlechtlichen Tönung ihrer Beziehungen zueinander. [15] (m.H.)
Es empfiehlt sich, dieses Programm während der Lektüre ausgedruckt vor sich liegen zu haben, sonst verliert frau in der „eigentlichen Untersuchung“ leicht den Überblick, zumal die meisten der erörterten Werke den meisten LeserInnen unbekannt sein werden. Mich jedenfalls hat die Informationsdichte oft angestrengt und zu häufigem Vor- und Zurückblättern gezwungen.
Natürlich ist hohe Informationsdichte eine Eigenschaft wissenschaftlicher Texte. Lockere Lesbarkeit erhoffen wir uns, meist wird diese Hoffnung allerdings enttäuscht. So auch bei Löchel. Er breitet seine spannenden Fakten vor uns aus und belegt seine Erkenntnisse in großer Ausführlichkeit. Für ein Seminar über „Gender und SF“ wird seine Untersuchung zweifellos Standardlektüre sein; für eine wir mich, die an dem Thema mehr allgemein interessiert ist, würden die Einleitung, Höhepunkte der „eigentlichen Untersuchung“ sowie das Schlusskapitel ausreichen.
Auch stilistisch hält Löchel sich an die Tradition speziell deutscher Wissenschaftsprosa: Die Informationsdichte wird noch gesteigert durch seine Vorliebe für eingebettete Relativsätze, wie ich sie im obigen Zitat kursiv markiert habe. Die Unpersönlichkeit der Passivkonstruktion gilt als „wissenschaftlich“ - für mich macht sie die Texte unpersönlicher und damit weniger ansprechend. Ich fühle mich nicht eingeladen, sondern ausgeladen. Nicht selten wird der spröde Wissenschaftston jedoch belebt durch Ironie und Sarkasmus - die ja bei dem Thema wahrhaftig auch angebracht sind.
Dennoch bewirkt die bisweilen mühevolle Lektüre etwas Wichtiges - weshalb auch die nur allgemein Interessierte davon durchaus profitieren kann. Löchel klopft jeden seiner Texte unerbittlich auf Geschlechterklischees, Biologismen, Essentialismen ab, und er wird (fast) überall fündig - was denn doch bei dem Genre SF von Frauen überrascht. Wir hätten von unseren Schwestern mehr Originalität erwartet und erhofft. Was uns Löchel aber wieder und wieder, Buch für Buch und manchmal Satz für Satz, vor Augen führt ist, dass es aus dem Käfig der Geschlechterklischees, in den wir nun mal alle hineingeboren werden, anscheinend nur schwer ein Entrinnen gibt, denn diese Klischees sind normalerweise wenig bewusst - ähnlich der grammatischen Struktur unserer Muttersprache. Nur einem wie Löchel, der sich berufsmäßig und Tag für Tag mit dem Thema beschäftigt, bleibt nichts verborgen, und indem er uns alle Fundstücke vorführt, entwickeln auch wir allmählich ein immer empfindlicheres Sensorium. Ich würde sogar so weit gehen, dass ein männlicher Feminist mit der Wissensausstattung Löchels hier eine noch reichere Ausbeute vorlegen kann als eine Feministin. Um es politisch unkorrekt mit einem satten Geschlechterklischee auszudrücken: Als Mann reagiert er auf klischeehafte Männerfiguren wahrscheinlich empfindlicher als ich. Nach vielfältigen schmerzhaften Zusammenstößen mit dem „real existierenden Patriarchat“ neige ich doch öfter dazu, die Untaten, die Männer gegen uns verüben, für „Hormonstörungen“ oder sonstwie biologisch bedingt zu halten. Anders ausgedrückt: Wo ich die Hoffnung fast aufgegeben habe, sieht er als Mann „naturgemäß“ noch Spielraum für Hoffnung. Wo ich den untersuchten Autorinnen zustimme mit: „Ja, genau so isses!“ ruft er aus: „Hab ich dich, Geschlechterklischee!“
Im Kapitel 4.2 werden die BRD und die DDR bis zum Beginn der Zweiten Frauenbewegung 1968 behandelt. Löchel ortet für diesen Zeitraum ganze zwei Kurzgeschichten (von Keun und Büttner) sowie zwei Romane der Österreicherin Friedlinde Cap. Marlen Haushofers Roman „Die Wand“, der 1963 im Sigbert Mohn Verlag in Gütersloh erschien, hat er in seine Sammlung nicht aufgenommen, weil er seiner Meinung nach nicht der Gattung SF zuzurechnen ist (briefl. Mitteilung). Das ist schade, besonders angesichts der von Löchel doch so bedauerten „denkbar dürftigen Quellenlage“. Das m.E. literarisch wie feministisch wohl bedeutendste Exemplar der Gattung hätte die „dürftige Quellenlage“ vielleicht zur fruchtbarsten, mindestens zur interessantesten gemacht. Am 11. Oktober kommt "Die Wand" mit Martina Gedeck in die Kinos. Schade auch, dass der aktuelle Bezug verpasst wurde.
Interessant sind die „Ausgrabungen“, die Löchel uns präsentiert - Autorinnen, von denen wir (oft zu Recht) noch nie etwas gehört haben und vergessene Werke von bekannteren Autorinnen, wie Suttners „Maschinenzeitalter“ und „Der Menschheit Hochgedanken“, Keuns „Nur noch Frauen…“ oder Seghers’ „Sagen von Unirdischen“ (1972). Insgesamt analysiert Löchel 36 Werke, darunter auch so bekannte und oft untersuchte wie Harbous „Metropolis“ und Wolfs „Selbstversuch“. In der Nazizeit kam die weibliche SF-Produktion komplett zum Erliegen, die männliche hingegen keineswegs. Was sagt uns das? Dass Frauenbewegung und weibliche SF-Produktion miteinander zu tun haben, wenn nicht gar voneinander abhängen. Bekanntlich erstarb die Frauenbewegung in der Nazizeit ebenfalls sang- und klanglos.
Seine wichtigsten Forschungsergebnisse fasst Löchel am Ende des Buchs zusammen unter der Überschrift „Unterwegs zum Sex“. Das Kapitel enthält folgende Unterabschnitte:
• Frauenbewegungen und weibliche Science Fiction: Sie hängen zusammen, weibliche SF behandelt die jeweils wichtigsten Themen der jeweils zeitgenössischen Frauenbewegung.
• Die Befreiung aus dem Ehejoch: Auch hier spiegelt die weibliche SF weitgehend die Auffassungen ihrer Zeit. War während der Ersten FB nur ehelicher Geschlechtsverkehr legitim, so hat sich das in der Folgezeit gründlich geändert.
• Der Verkehr der Geschlechter: Er wird im Laufe der Zeit immer expliziter thematisiert, nicht selten auch negativ dargestellt. Erstaunlich selten kommt Homosexualität vor.
• Techniken der Reproduktion: „In den 1920er Jahren war man im Prinzip noch immer nicht über die Vorstellungen von Goethe und E.T.A. Hoffmann hinausgekommen, die einen Homunculus in einer Phiole aufzogen bzw. einen Mann einen ’weiblichen’ Automaten bauen ließen.“ Dies änderte sich erst mit den realen biotechnologischen Neuerungen gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Die Möglichkeiten werden entweder gefeiert (Sophie Behr), als Bedrohung gesehen (Jutta Heinrich) oder ambivalent beurteilt (Streeruwitz).
• Das weinende Geschlecht: Löchel beschließt seine Betrachtungen mit den schönen Worten: „Ein Geschlechterstereotyp scheint zumindest in der Vorstellung der Literatinnen unwandelbar: Frauen sind das weinende Geschlecht. […] Hingegen entrinnt nur höchst selten einmal eine Träne dem Auge eines Mannes. […] Höchste Zeit, dass sich das ändert. Und so manches andere auch.“
Noch eine weibliche Träne rinnt, diesmal aus dem Auge der Rezensentin: Das Buch ist leider ziemlich oberflächlich lektoriert; es enthält zahlreiche Druckfehler. Aber der Apparat ist beachtlich, vor allem gibt es auch ein Register, was in deutschen feministischen Publikationen nicht selbstverständlich ist. Mir z.B. wurden sie öfters verweigert mit dem Hinweis: Zu teuer!
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