Empfehlungen Regine Beyer, Abendkleid und Filzstiefel (2010). Rezension
Regine Beyer, Abendkleid und Filzstiefel (2010). Rezension
Ein Jahrhundertleben
Doris Hermanns über
Regine Beyer: Abendkleid und Filzstiefel. Die Jazzpianistin und Diseuse Peggy Stone. AvivA 2010. 430S., € 24,80
Es war ein bewegtes Leben, das mehr als ein Jahrhundert umfasste und durch zahlreiche Länder führte: das Leben der Jazzpianistin, Diseuse und Zeichnerin Peggy Stone. Die Autorin Regine Beyer hat Stone noch kurz vor ihrem Tod kennen gelernt und zahlreiche Interviews mit ihr geführt, die sie gekonnt in ihre lebendig geschriebene Biografie eingearbeitet hat.
Geboren wird Peggy Stone 1907 in Berlin als Rosa Goldstein und wächst in Białystok und Berlin in einer gutbürgerlichen jüdischen Familie auf. Bereits im Alter von vier Jahren ist sie in der Lage, Musik, die sie eben erst gehört hat, auf dem Klavier nachzuspielen. Sie besucht nicht nur eine Musikschule, sondern später auch eine Kunstgewerbeschule. Ihre Ausbildung an der Musikhochschule gibt sie auf und damit auch ihren Traum von einer Karriere als Konzertpianistin. Jazzpianistin will sie nun werden, ihr Vorbild ist Josephine Baker. Nach verschiedenen kleineren Gelegenheitsarbeiten als Modell, Charaktertänzerin und Statistin beim Film wagt sie ihren Traum umzusetzen: Mit einer Freundin zusammen tritt sie als Lil und Peggy Stone mit Unterhaltungsmusik an zwei Klavieren auf. Der erste große Auftrittsort ist Zürich. Peggy Stone, wie sie sich jetzt nennt, arbeitet an ihrer Karriere, sie will sich ihren Lebensunterhalt mit Musik verdienen, will etwas von der Welt sehen und einen Ehemann finden, sie entspricht ganz der „Neuen Frau“ der 1920er Jahre.
Nach ihrer Heirat mit den Geiger Bronislaw Mittmann kümmert sie sich nur noch um den Haushalt. Die politische Situation nehmen die beiden lange Zeit nicht wahr, die ersten Emigrationen von NachbarInnen verstehen sie nicht, dennoch entscheiden sie sich schnell nach der Machtübernahme der Nazis, nach Göteborg zu gehen, auch andere Familienangehörige wandern fast zeitgleich aus.
In Göteborg trennt sie sich von ihrem Mann. Zusammen mit Bella Smoljanski, die sie noch aus Berlin kennt, geht sie auf eine Tournee durch Skandinavien, und sie nehmen anschließend das Angebot an, in Moskau aufzutreten. 1936 trennen die beiden sich, Bella geht zurück nach Schweden, Peggy zu ihren Eltern nach Riga. Noch im gleichen Jahr heiratet sie ihren Cousin Alex Silberblatt. Klavier spielt sie jetzt nur noch für Gäste. Aber auch mit ihrem zweiten Mann muss sie wieder fliehen, erst zu den Schwiegereltern nach Wilna, kurz danach geht sie allein nach Moskau. Abschiednehmen wird ihr zur zweiten Natur.
In Moskau muss sie sich erst mal ein neues Repertoire erarbeiten, gesungen werden darf nur noch auf Russisch, das „Rote Zeitalter des Jazz“ ist vorbei. Sie taucht ein in das kollektive Leben der Sowjetunion und passt sich den veränderten Lebensverhältnissen an, so gut es geht. Als die Situation in Moskau für sie unhaltbar wird, schließt sie sich einem rumänischen Orchester an, mit dem sie die nächsten Jahre durch die Lande zieht, fast bis nach Asien. Eintönigkeit, Hunger und andere Entbehrungen prägen ihren Alltag. Dennoch gehört sie als Künstlerin zu den Privilegierten, da die Orchester mit ihren Auftritten den „Großen Vaterländischen Krieg“ unterstützen, d.h. dem Militär und den ArbeiterInnen in schweren Zeiten Vergnügen bereiten sollen.
Nach dem Krieg heiratet sie Hermann Hönigsberg, den Direktor des Orchesters. Erst jetzt erfahren sie, wie es ihren Angehörigen während des Krieges ergangen ist, auch vom Tod ihrer Eltern hört Peggy erst jetzt. Nach der Ausrufung des Staates Israel ziehen sie vorübergehend zu Peggys Schwester nach Tel Aviv, merken aber schnell, dass sie dort auf Dauer nicht leben wollen. Wie gerne hätte sie über den Tod ihrer Eltern mit ihren beiden Schwestern gesprochen, aber sie verweigerten jedes Gespräch darüber.
Im Herbst 1952 zieht Peggy Stone wieder in ein neues Land, es sollte das letzte Mal sein. Amerika war das erste Land, in dem Peggy Stone als Jüdin keine Angst hatte; endlich konnte sie sich sicher fühlen.
In Amerika gelingt es ihr nicht mehr, als Diseuse aufzutreten, zu lange hat sie keine neue Musik mehr gehört, kann es sich auch nicht leisten, die entsprechenden Schallplatten zu kaufen. Sie greift auf ihr zweites Talent zurück: das Malen. In der Modebranche findet sie ein neues Arbeitsfeld.
Regina Beyer ist mit diesem Buch eine sehr überzeugende Biografie gelungen. Nicht nur die Zitate aus Interviews mit Peggy Stone sind gut in den Text eingearbeitet, sondern auch Zeitgeschichtliches; immer wieder führt sie in Fußnoten aus, was den Lesefluß beeinträchtigen könnte. Aber auch diese Fußnoten sind sehr lesenswert, geben sie doch ein genaues Zeitbild von den sich ständig wandelnden Ländern, Situationen und Gesellschaften, in denen Peggy Stone gelebt hat. Zahlreiche Fotos lassen dieses Leben zudem sehr anschaulich werden. Penny Stone starb Ende 2009 im Alter von 102 Jahren – nach einem sehr außergewöhnlichen Leben, über das sich zu lesen lohnt.
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