Empfehlungen Paula Modersohn-Becker: Paris – Leben wie im Rausch
Paula Modersohn-Becker: Paris – Leben wie im Rausch
Renate Berger Paula Modersohn-Becker: Paris – Leben wie im Rausch Gustav Luebbe Verlag, 2007
rezensiert von Senta Trömel-Plötz
Renate Bergers Bücher büßen erstaunlicherweise, so schnell sie auch eines nach dem anderen erscheinen, nichts von ihrer Brillanz ein. Mit Paula Modersohn-Becker: Paris – Leben wie im Rausch ist der Autorin wieder ein bemerkenswertes Buch gelungen.
Das Thema, die Paris-Aufenthalte von Modersohn-Becker und ihre Einbindung in einen größeren Kontext, nämlich das Leben und die Gedanken von europäischen Künstlerinnen, die alle zu dieser Zeit um ihrer Kunst willen nach Paris kamen, ist neu und spannend. Für Modersohn-Becker waren ihre Paris-Aufenthalte wesentlich für ihre Kreativität und ihr künstlerisches Selbstbewusstsein. In Paris fühlte sie sich befreit und frei: “Liebe Schwester, ich werde etwas – ich verlebe die intensiv glücklichste Zeit meines Lebens.” (Mai 1906) Dass es nur zeitlich begrenzte Aufenthalte waren und sie sich nicht wie andere Künstlerinnen, z.B. Breslau oder Cassatt, entschließen konnte zu bleiben, sogar nachdem sie sich schon für Paris und die Scheidung von Modersohn entschieden hatte, sollte ihr und ihrer Kunst zum tragischen Ende gereichen. Berger geht dem Grund, warum Modersohn-Becker nicht in Paris und in ihrem Glück verweilen konnte, eher indirekt nach. Frau oder auch man kann, je nach politischem Bewusstsein, etwas erschließen oder auch nicht, denn es wird nie explizit ausgesprochen, dass Modersohn immer wieder ein kreatives Hindernis für seine Frau war oder dass Hoetger, der Modersohn-Becker den unguten Rat gab, zu ihrem Mann zurückzukehren (den sie befolgte), nur ökonomische Gründe nannte (und diese aus seiner patriarchalen Sicht), ihre Gefühle aber missachtete.
Diesen Männern und nicht ihren eigenen Gefühlen folgte Modersohn-Becker: “Gib mich frei, Otto, ich mag Dich nicht zum Manne haben. Ich mag es nicht.” (3.9.1906) Berger schließt sich sogar dem männlichen Interpretationssystem an, wenn sie Modersohn-Beckers Dilemma als unausweichlich, “ohne private oder berufliche Alternativen” darstellt. Aus der Sicht der bürgerlich-patriarchalen konventionellen Männer um Modersohn-Becker herum, Rilke eingeschlossen, da er sich dem Gespräch mit Modersohn-Becker entzog, gab es nichts anderes für eine Frau als: zurück zum Ehemann. Dass Modersohn-Becker weibliche Unterstützung fehlte, dass ihr feministisches Gedankengut fehlte, dass ihr Künstlerinnen als Vorbilder fehlten, obwohl sie in Paris umgeben war von Künstlerinnen – sie hatte offensichtlich keine Kontakte zu erfolgreichen selbständigen Künstlerinnen, ihre Kurzaufenthalte mit ein Grund - , dass Modersohn-Becker sich nur an Männern orientierte, wird von Berger nicht thematisiert und nicht kritisch gesehen. Hier verweigert auch die Biographin noch einmal weibliche Unterstützung. Einzige Freundin Modersohn-Beckers, die sie verstand, war Clara Westhoff-Rilke, aber gerade sie, die als hochbegabte Künstlerin selbst so schwer kämpfen musste, die sich verausgabte, um mit ihrer Kunst sich und später sich und ihre Tochter zu ernähren, konnte keine Ermutigung sein zum autonomen Leben als Künstlerin, im Gegenteil. Und so ging Modersohn-Becker zu ihrem Mann zurück, der sie nicht verstand, in ihre Ehe zurück, in der die Leidenschaft erloschen war, zurück in das dunkle, “enge” Worpswede. Und starb bald darauf im Kindbett.
Bergers Biographie ist kein angriffiges, kein radikales Buch; es ist eher angepasst an den momentanen akademischen Ton, mit der Betonung des Männlichen, mit elegant angedeuteter oder unterlassener Kritik – Patriarchatskritik als Camouflage wenn überhaupt. Frau freut sich dann umso mehr, wenn ab und zu doch die Dinge beim Namen genannt werden. Es ist jedoch ein anspruchsvolles, unsentimentales und oft berührendes Buch, letzteres überhaupt der Grund für meine Rezension. Mich interessiert nur noch eine Biographie, die so tief wie möglich geht – aus Liebe zu der Person. Die Liebe, so verhalten sie sich darstellt, ist zu spüren bei Renate Berger: Dass sie die Monate und Wochen zählt, in denen Paula Modersohn-Becker frei und glücklich und kreativ war in Paris, dass sie ihr ihre Konventionalität verzeiht, dass sie einen Satz wie diesen über Modersohn-Becker sagt ohne jegliche Qualifizierung: “Sie ließ sich von niemandem einnehmen,” mehr Wunschvorstellung, wahr und auch das Gegenteil wahr, ihre wundersamen Bildbeschreibungen (S.171, S. 219) und vor allem das ganz zauberhafte Ende des Buches, wo die Freundin, Westhoff-Rilke, Früchte auf das Grab von Modersohn-Becker legt und Modersohn-Beckers Mutter ihr schreibt, dass Paula sie ”mehr liebte als einen anderen Menschen auf der Welt”. Wenn es nicht wahr wäre, hätte Renate Berger dieses Ende erfunden!
So hat die Autorin Renate Berger viel Kredit bei mir, schon wegen ihrer anderen Bücher, aber dieser Kredit hört bei Rilke auf. Ihre bizarre Rilkeverehrung beeinflusst ihre Fakten und noch schlimmer ihre Sprache:
Berger sieht Westhoff-Rilke und Rilke weitgehend als Paar, was den Fakten widerspricht (siehe Marina Sauers exquisite Dissertation und Biographie), sie idealisiert dieses Paar und seine anfänglichen Ziele und lässt unerwähnt, dass ihr Leben als Künstlerpaar misslang, dass ihre Ehe misslang, und vor allem ihr Leben als Paar mit Kind völlig misslang – Rilke verließ seine Frau mit Baby nach eineinhalb Jahren Ehe, weil “er sie nicht ernähren konnte.”
Berger behauptet, dass nur Rilke Modersohn-Becker verstand; ich bestreite dies aus vielen Gründen und behaupte, dass Westhoff-Rilke sie mit Sicherheit besser verstand und obendrein auch zu ihr stand, im Gegensatz zu Rilke.
Bergers Sprache, die eigentlich eine Leichtigkeit hat und manchmal eine Schärfe, mit der sie in ein paar Worten etwas präzise trifft, wird in Anlehung an Rilkes verbale Selbstgefälligkeit und verkitschte Pathetik oft selbst befremdend und bemüht: “das Drama des Werdens” S.11, “Biographie ihres Werdens” S.15, “ein Bild wie ein Gebet” S.205, “Gebärden zu Gott” S.260, “Rilke ein Gebender” S.273. Als Linguistin wehre ich mich gegen das Geschwafel vom “Werden” und die strukturelle Gleichsetzung mit Modersohn-Beckers “Ich werde etwas”. “Ich werde etwas” ist nicht gleich “ich werde” und “dass es etwas wird” ist nicht gleich “das Werden” von S.69. Modersohn-Becker wollte etwas ganz Bestimmtes, ganz Konkretes werden, nämlich eine Künstlerin; sie war kein “Wesen, das sich mit Haut und Haaren dem Werden anheimgegeben hatte” (sic! S.235) und “ihr Werden” von S.15 ist schlicht im heutigen Deutsch ihre Entwicklung als Künstlerin. Als Linguistin, die zum Sexismus im Deutschen publizierte, wundere ich mich über fehlende sprachliche Sensibilität, wenn ich auf der allerersten Seite des Buches eine Referenz auf Modersohn-Becker mit “ein Mensch, der – er – sein” finde. Keiner Lektorin eines renommierten US-Verlages wäre eine solche Falschbenennung entgangen.
Renate Berger entschädigt mich jedoch schon auf den nächsten Seiten mit feinen Formulierungen. Ich freue mich an den Asymmetrien, die sie aufzeigt, wenn sie Künstlerinnen und Künstler vergleicht, an den Umkehrungen (S.240, 245), die uns helfen etwas zu sehen, an ihrer impliziten Korrektur von Rilkes “Mädchen” oder “Frau eines berühmten Malers”, wenn er von Modersohn-Becker spricht. Ich freue mich an diesen Feinheiten ihrer Sprache.
Als Feministin wehre ich mich gegen die zahlreichen Männerzitate, insbesondere die Rilke-Zitate. Das Buch beginnt und endet mit Rilke. Dazwischen haben wir Rodin und Nietzsche und um das Maß voll zu machen nochmal Rilke. Obwohl das Buch einer Frau gewidmet ist, wird uns auf derselben Seite in totaler Diskrepanz, wenn nicht Geschmacklosigkeit ein unsäglich schwülstiges Rilke-Zitat zugemutet: “Heilig sind die, welche werden” (sic!) Besonders ärgerlich angesichts der Tatsachen ist Rilkes Sentenz “Man soll sich immer gefährden.” Soll das ein Ratschlag für eine Frau sein oder für einen Mann, von einem, der sich mit Gönnerinnen umgab und sich nie gefährdete, der jedoch seine Frau und seine Tochter auf unterschiedliche Weise ein Leben lang gefährdete. Jedenfalls haben die beiden Lesarten
man soll sich immer gefährden frau soll sich immer gefährden
sehr unterschiedliche Bedeutungen und unterschiedliche Grade der Dummheit.
Diese Zitate sagen natürlich etwas aus über die Autorin und auf wessen Seite sie sich schlägt. Das finde ich besonders schade, weil Renate Berger hier Künstlerinnen, Dichterinnen, Schriftstellerinnen, Philosophinnen zum Schweigen brachte, obwohl sie die interessante These aufstellt, diese Frauen gewännen “eine zweite geheime Existenz” mit ihren autobiographischen Texten. (S.10) Da hätte es sich angeboten, eine von ihnen am Anfang jedes Kapitels sprechen zu lassen anstatt wieder und wieder Rilke mit seiner gänzlich obsoleten und semantisch leeren Sprache. Modersohn-Becker durchschaute übrigens Rilkes Verbosität bei semantischer Leere: “Die eigentliche Nuss ist hohl.”
Im Text jedoch finden wir einen Schatz von Frauennamen, freuen uns am Wissen der Kunstwissenschaftlerin, am Reichtum ihrer Bibliographie, an der Behandlung von Künstlerinnen in der Literatur mit separater Bibliographie. Das alles ist eindrucksvoll, und ich frage mich, warum Berger, der es wirklich nicht an faszinierendem neuen Material mangelt, uns Rilke auftischt.
Spiegelt sich hier in der Biographin nochmal Modersohn-Beckers Ambivalenz zwischen dem Wunsch nach Akzeptanz in der Männerwelt und der Sehnsucht nach weiblicher Autonomie?
Hier sind wir wieder beim Thema des Buches: die Entwicklung Modersohn-Beckers auf die Situation von Künstlerinnen aus aller Welt zu beziehen. Wird das geleistet? Modersohn-Becker wird zwar in einen Kontext gestellt, wo wir über andere Künstlerinnen, ihr Leben, ihre Ideen und Schaffensbedingungen einiges erfahren, sie wird auch ausführlich mit Westhoff-Rilke kontrastiert, aber sie bleibt unter diesen Künstlerinnen eher die Ausnahme, bescheiden, brav, anonym, zurückgezogen, ohne Kontakte und - antifeministisch. Teilt sie wirklich Vorstellungen mit diesen Künstlerinnen wie Berger behauptet (S.9), kannte sie überhaupt bedeutende, international gefragte Malerinnen (S.11), welche Verbindungen gab es zu anderen Künstlerinnen – diese Fragen bleiben unbeantwortet, es sei denn Modersohn-Beckers Unwissen über ihre Vorgängerinnen, von denen sie profitierte (S.32) und von denen sie sich absetzte (S.45) ist eine intendierte Antwort.
Dohm zu lesen oder Breslau persönlich zu kennen wäre nützlicher für Modersohn-Becker gewesen als sich mit Modersohn, Rilke, Nietzsche, Hauptmann, Sombart, Hoetger abzumühen. (Fast erinnert sie an Ingeborg Bachmann, die sich auch mit Männern umgab). Diese Männer hatten negative Erwartungen an Frauen, vor allem ihre Ehefrauen - Rilke zerstörte geradezu Westhoff-Rilke als Künstlerin; von ihnen war nichts zu erwarten wie sie auch von ihrem eigenen Vater nichts zu erwarten hatte. Trotzdem hing sie an ihrer aller Worte. Modersohn unterstützte sie zeitweilig, machte sie aber auch abhängig von seinem Geld. Nach der anfänglichen gegenseitigen Hochschätzung und Inspiration folgte seine explizit negative Kritik sowohl ihrer Kunst wie auch ihres Charakters; erst als er sie zu verlieren drohte, kamen seine sexuelle Großzügigkeit und seine Treue zum Vorschein. Die Tatsache, dass Modersohn-Becker ihre Bilder praktisch vor allen versteckte, zeigt uns wie sehr sie sich schützen musste: eine Reaktion auf ihre ungeschützte, verletzbare, verwundbare Situation allein unter all den Männern, inklusive Vater und Bruder, und leider auch den Frauen ihrer Familie.
Es besteht eine Gefahr bei so viel Männerpräsenz und Betonung ihrer Sicht durch Zitate und Gedichte, einen negativen Raum zu schaffen, in dem wir Modersohn-Becker dann auch so sehen, wie die Männer sie sahen. Berger ist dieser Gefahr nicht immer entgangen. Das größte Verdienst von Modersohn-Becker ist es, ihre Kunst nicht aufgegeben zu haben, entgegen den Negativprognosen ihres Vaters, der ihr eine Stufe über dem Mittelmaß vorhersagte, entgegen den Negativerwartungen der ganzen Gesellschaft, in der sie aufwuchs und in der sie eingebettet blieb - trotz ihrer Parisaufenthalte. Dass sie, obwohl sie im deutschen Patriarchat lebte und aufging, hartnäckig bei ihrer Kunst blieb, darin zeigt sich ihre Stärke als Künstlerin und auch als Frau.
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