Empfehlungen MARIA LAZAR: „DIE VERGESSENEN THEATERSTÜCKE“ UND „DIE EINGEBORENEN VON MARIA BLUT“ 2024. SAMMELREZENSION VON ROLF LÖCHEL.
MARIA LAZAR: „DIE VERGESSENEN THEATERSTÜCKE“ UND „DIE EINGEBORENEN VON MARIA BLUT“ 2024. SAMMELREZENSION VON ROLF LÖCHEL.
Das große Verdienst des kleinen Wiener Verlags das vergessene buch besteht darin, in den letzten Jahren etliche jener Werke herausgegeben zu haben, auf die sich sein Name bezieht, und sie somit eben dem Vergessen entrissen zu haben. Das gilt in ganz besonderer Weise für Bücher von Frauen und hierunter wiederum für diejenigen Maria Lazars. Denn er hat nicht nur mehrere ihrer ganz zu Unrecht im Orkus der Literaturgeschichte versunkenen Romane neu herausgegeben, von denen einige inzwischen sogar mehrere Auflagen erreichten. In den letzten Jahren hat er zudem bislang unveröffentlichte Werke aus dem Nachlass der österreichischen Schriftstellerin auf den Markt gebracht, wie etwa den Roman Viermal Ich und den Gedichtband An meinen unbekannten Leser.
Nun hat der Verlag drei in einem Band versammelte Theaterstücke folgen lassen, deren letzte ein Bibelwort paraphrasiert und damit ins Gegenteil verkehrt. Versichert die der Christenheit als heilig geltende Schrift, die Liebe höre nimmer auf, so weiß der Titel des als „eine Komödie der Trauer“ ausgewiesenen Stückes, dass sie immer aufhört. Beide, die Bibelstelle wie auch der Titel werden im Stück zitiert.
Um der alten, an einer Krankheit zum Tode leidenden Mutter ihre letzte Zeit zu erleichtern, heuert deren Tochter einen Mann an, der an die Stelle ihres seit langem vermissten und zweifellos toten Ehegatten auftreten soll. Denn „wenn Millionen Menschen an ein Wiedersehen in der Ewigkeit glaube, wie soll eine Mutter nicht glauben wollen, dass ihr verschollener Sohn wieder zu ihr zurückkehrt“ (222). Sein betrügerischer Stellvertreter ist bald gefunden. Von seinem ersten Auftritt an gibt er sich stumm, was seine Komödie erleichtert und der trauernden Schwiegermutter somit neue Hoffnung gibt. Doch nicht nur sie glaubt an die Wiederkehr des verlorenen Schwiegersohns. Mit der Zeit erliegt auch ihre Enkelin dem frohen Glauben, ihr Vater sei zurückgekehrt, und sogar die Ehegattin des Verschollenen, von der die Schmierenkomödie ja initiiert wurde, hält es für möglich, dass sie in dem Gauner vielleicht doch ihren heimgekehrten Mann vor sich hat.
In etlichen „Zwischenszenen“, die oft auf geteilter Bühne spielen, lässt die Autorin zahlreiche Nebenfiguren auftreten, von denen viele ebenfalls glauben, der Verstorbene weile Lazarus gleich wieder bzw. immer noch unter den Lebenden. Andere lassen sich allerdings nicht täuschen. So erklärt ein Journalist seine wundersame Rückkehr für einen ausgemachten Schwindel, der schon seit dem Ende des letzten Krieges von etlichen Männern ausgeheckt worden sei, die sich auf diese Weise bei trauernden Kriegswitwen einquartierten. Dass er damit richtig liegt, bezeugen einige der „Zwischenszenen“, in denen die Autorin zwei Spießgesellen des Blenders auftreten lässt.
Lazar belässt es nicht dabei, eine Handlung von Betrug, Liebe, Trauer und Tod zu erzählen, sondern erörtert auch ein so philosophisches Thema wie das Verhältnis von Form und Inhalt. So erklärt eine der Figuren „wir brauchen die Formen des Lebens, um seinen Inhalt zu begrenzen“ (225), und eine andere wirft einer dritten vor, sie „verschmäh[e] die Form, weil sie noch mit dem Inhalt kämpft“ (328). Das klingt enigmatisch, doch erhellt es sich schnell. Denn es geht darum, dass eine Trauernde nicht zum Begräbnis des geliebten Menschen gehen will. Aber natürlich lässt sich die Frage nach dem Verhältnis von Form und Inhalt auch auf das Theaterstück selbst beziehen, zu dessen Formen etwa die zweigeteilte Bühne zählt oder, dass die Charaktere wiederholt ins Publikum sprechen. Sein Schluss ist denkbar düster. Denn die jüngste der Figuren bekennt im letzten Satz, sich dafür zu schämen, dass sie lebt. Wer muss da nicht an die Überlebenden der Shoa denken, von denen es vielen ebenso ging. Lazar aber dachte mit Sicherheit nicht an sie, als sie das Stück schrieb. Denn es entstand ebenso wie die beiden anderen des Bandes schon Mitte der 1930er-Jahre.
Ist das Private bekanntlich politisch und wird in dem Stück auch als solches kenntlich, so sind es die beiden anderen ganz explizit. Dabei verknüpft das als „Schauspiel“ firmierende Theaterstück Der blinde Passagier das Private ebenfalls mit dem Politischen – und zwar nicht zuletzt in der Figur eines ausgemachten Antisemiten, dessen Worte und Taten gleichermaßen durch Judenhass wie Eifersucht motiviert sind.
Die Handlung spielt auf einem kleinen Schiff, das Mitte der 1930er-Jahre (also unmittelbar vor der Entstehungszeit des Stückes) entlang der Küsten Nazideutschlands und seiner Nachbarländer Pakete transportiert und ausliefert. Das Figurenkabinett besteht aus sechs Charakteren, von denen fünf namentlich genannt werden. Es sind dies Petersen, der Kapitän des Schiffes, sein als Leichtmatrose auf dem Schiff tätiger Sohn Carl, seine Tochter Nina, die mit dem Steuermann Jörgen verlobt ist und schließlich der titelstiftende blinde Passagier Hartmann, ein jüdischer Arzt, der auf der Flucht vor den Nazis in höchster Not ins Wasser gesprungen ist und von Carl unbemerkt an Bord gezogen wurde. Die namenlose Ausnahme ist „die Mutter“ (10 u.ö). Die so entpersonalisierte Figur wird als „kleinbürgerliche ältliche Hausfrau, selbstgefällig und etwas weinerlich in dem Bewusstsein, ihr Leben der Familie geopfert zu haben“ (11) vorgestellt.
Zwar sind auch die anderen Charaktere etwas typisiert, aber – abgesehen von Jörgen – nicht eindeutig als ‚gut’ oder ‚schlecht’ zu identifizieren, zumal zumindest Nina eine Entwicklung durchmacht, die sie allerdings letztendlich wieder an ihren Ausgangpunkt zurückführt. Zu Beginn des Stückes sind sie, ihr Vater und ihr Verlobter ziemlich gleichgültig gegenüber der Nachricht, dass ein Mann ins Wasser gesprungen und vermutlich ertrunken ist. Denn „man darf sich nicht um alles kümmern“, wie der Kapitän sagt. Überhaupt verschließt er gerne die Augen vor dem Unheil, das auch seine vermeintlich heile Welt bedroht. Als aus Radio NSDAP-Propaganda erschallt, verlangt er etwa, dass ein anderer Sender eingestellt wird: „Ich will Musik. Was Lustiges.“ (54) Und was die Verfolgung des Juden betrifft, den er später nach dem Wunsch seiner beiden Kinder über die Grenze schmuggeln soll, weist er deren Wunsch mit der kategorischen Begründung „Gesetz ist Gesetz und Grenzen sind Grenzen“ (60) zurück.
Doch sind die meisten Figuren nicht nur ambivalent, einige machen auch Entwicklungen durch oder es treten ihre Charaktereigenschaften im Laufe des Stückes deutlicher zutage. Nina etwa verhält sich Hartmann gegenüber zunächst ablehnend und möchte, bevor sie ihn überhaupt auch nur gesehen hat, dass ihr Bruder ihn wieder „fort[schafft]“ und zwar „noch heute Nacht“ (26). Dabei „weiß“ sie „natürlich, dass man die Juden verfolgt und das alles“ (33). Dennoch kann sie einfach nicht verstehen, warum Hartmann fliehen musste, bloß weil er Jude ist. Dann aber entschließt sie sich, ihm aus humanitären Gründen zu helfen. Denn sie findet, „Hauptsache ist, dass niemand ihm was antun darf, dass er unter anständige Menschen kommt“, also in ein anderes Land, in dem er „ nicht gejagt wird wie ein Tier“ (41). Unter ihre humanitäre Motivation mischt sich allerdings schon bald auch etwas Verliebtheit, was sie nicht daran hindert, zuletzt doch wieder die Ehe mit Jörgen eingehen zu wollen. Dieser ist ein von Beginn ein negativ gezeichneter Charakter, der zunächst zwischen Gleichgültigkeit und offenen Sympathien für die Nazis changiert, bis er immer offener als Antisemit auftritt. Zugleich behauptet er, er wisse nicht, was in Nazideutschland geschieht und er wolle es auch nicht wissen. Denn „es geht uns gar nichts [an]“ (46). Und außerdem gebe es „das alles […] gar nicht“ (ebd.), womit der eliminatorische Antisemitismus der Nazis gemeint ist. Seine Rechtfertigungsversuche sind also denkbar widersprüchlich, zumal er erklärt, sie kämen ins Gefängnis, wenn Hartmann auf dem Schiff gefunden werden sollte.
Tatsächlich wird der Kutter nach Hartmann durchsucht, woraufhin Jörgen die Nazi-Schergen damit verteidigt, dass sie „nur ihre Pflicht [tun]“ und überhaupt „sehr freundlich“ (50) sind. Später verrät er dem Kapitän, dass dessen Kinder den Juden heimlich an Bord verstecken und rechtfertigt sich ebenfalls damit, dass es seine Pflicht gewesen sei. Hartmann aber kann in Jörgen trotz alledem kein besonders übles Exemplar der menschlichen Gattung erkennen, da er weiß, dass dieser „so [ist,] wie die meisten Menschen sind“ (78). In Nina erkennt er hingegen „ein gutes Mädchen“, appelliert jedoch an sie, sie „müsse[.] aber auch ein kluges Mädchen sein“ (82). Diese Verniedlichung der jungen Frau als Mädchen hat etwas männlich Herablassendes, das sich später verdichtet, als er, Weiblichkeitsklischee perpetuierend, meint, dass Nina „alles Schutzlose lieb[t]“, weil „Frauen […] einmal so [sind]“ (84).
Angesichts der heutzutage in Europa, namentlich in Deutschland Asyl suchenden Menschen und dem Erstarken der extremen Rechten von der AfD bis hin zu bekennenden Neonazis ist die Thematik des Stückes von beklemmender Aktualität. Wie Simon Strauss im Nachwort zum gesamten Band mitteilt, hatte seine erste Fassung Birgit Nielsen zufolge einen anderen Schluss. „Auf die Frage, wodurch die nationalsozialistische Bewegung eine so große Ausbreitung erfahren habe“, hatte „dem Theaterpublikum ein Spiegel vorgehalten“ werden sollen. Da die Kopenhagener Theater, wo Lazar im Exil lebte, es unter Hinweis auf diese Szene ablehnten, das Stück zu spielen, schrieb Lazar die Szene um. Tatsächlich hätte die Schlussszene allerdings auch besser in ein deutsches Theater gepasst. Gespielt wurde Der blinde Passagier trotz des entschärften Schlusses bis heute nicht. Aber immerhin will es das Düsseldorfer Schauspielhaus in den Spielplan des Jahres 2025 aufnehmen.
Nicht minder düster als die beiden anderen Stücke ist das dritte. Schon sein Titel Die Hölle auf Erden verheißt nichts Gutes, mag es auch als Komödie firmieren. Und die ist es tatsächlich, eine tiefschwarze allerdings, die kein Fünkchen Hoffnung ausstrahlt. Dennoch hat das Stück eine Moral, und zwar die, dass alle eine Verantwortung für die Hölle auf Erden tragen – und auch dafür, sie zwar sicher nicht in ein Paradies, aber doch in eine etwas bessere Welt zu verwandeln.
Im Mittelpunkt der Handlungen stehen einige himmlische Figuren und eine höllische sowie ein für den Völkerbund tätiger Professor der Psychiatrie, der mit Weisheiten aufwartet, die etwa besagen, dass „wir Menschen […] eben komische Leute [sind]. Alles Menschliche ist uns fremd, alles Natürliche ist uns zuwider“ (123). Seine Frau wiederum ist religiös, die Tochter Kommunistin, der Sohn ein Nationalsozialist, der es mit der Maxime hält „wozu noch denken, wenn man marschieren kann“ (187). Er weiß die Liberalität seines Vaters bestens für sich zu nutzen. Etwa, dass dieser für „freie Meinungsäußerung“ (132) eintritt. Auch das klingt in der heutigen Zeit wieder hochaktuell, in der rechte Kreise unter Berufung auf die freie Meinungsäußerung ihre gegen diese gerichteten politischen Pläne lauthals kundtun. Und auch der Teufel weiß es zu schätzen, dass „die wahre Demokratie […] mit jedem [verhandelt]“ (151).
Der Professor wiederum hat eine Annonce aufgegeben, in der er den lieben Gott bittet, angesichts eines drohenden Weltkrieges auf der Erde doch einmal nach dem Rechten zu sehen. Der aber hat schon lange genug von dem blauen Planeten und ist in Pension gegangen. Deshalb schickt er Petrus in Begleitung der beiden Engel Pax und Lux in die irdischen Gefilde, wo dieser sich als Gott ausgibt.
Ebenso wie in Die Liebe höret immer auf lässt Lazar auch hier ein überaus großes , dabei aber noch weit stärker typisiertes Figurenkabinett auftreten. Auch arbeitet sie wiederum in mehreren Szenen mit einer (diesmal sogar drei-)geteilten Bühne. Neben dem besagten Professor treten noch drei weitere auf, die ebenso wie drei Detektive und drei Scheitel jeweils nur als A, B und C bezeichnet werden. Letztere sind als Angehörige des Völkerbundes nicht nur namens-, sondern auch gesichtslos. Denn sie sind nur von hinten zu sehen. Des weiteren zählen ein armes, ein reiches und ein krankes Kind, ein Kinderfräulein, eine Mutter und eine Krankenschwester, ein Pastor, eine Pastorenfrau, ein alter und ein junger Journalist, ein Oberst, ein General, ein dicker und ein magerer Irrer sowie einige andere zum Figurenkabinett – und natürlich der Teufel, der in Gestalt des Besitzers einer Kampfgasfabrik auftritt. Sie alle bleiben ohne Namen. Gott selbst zählt allerdings nicht zum Figurenensemble, was der kluge Professor damit begründet, dass es aus Gründen der Zensur „nicht sehr ratsam [ist], den lieben Gott in eigener Person auf einer Bühne auftreten zu lassen“ (184).
Nicht nur Petrus, auch der Teufel hat ein spezielles Anliegen auf der Erde und ist damit wesentlich erfolgreicher als jener. Denn nachdem er, kurz bevor der Heilige auf der Versammlung des Völkerbunds sein Plädoyer für den Frieden halten kann, eben dort eine Bombe platziert hat, erhält er den Friedensnobelpreis, wohingegen Petrus und die beiden Engel nach einigen Umwegen schließlich in einer Irrenanstalt landen. Der Teufel aber versichert, er sei „so wie kein anderer für den Frieden“ (151). Denn der sei am besten fürs Geschäft der Rüstungsindustrie.
Simon Strauss’ Befund, dass dieses „scharfe Satirestück nicht einfach bissig oder keck, sondern von bösartigen, nihilistischen Anklagen durchzogen“ (338) ist, überzeugt nicht ganz. Sicher ist es scharf und satirisch, aber ebenso sicher sind seine Anklagen weder bösartig noch nihilistisch.
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Nun hat der Verlag das vergessene Buch im Sommer diesen Jahres nicht nur den unbedingt empfehlenswerten Band mit den drei Theaterstücken herausgegeben, sondern in nunmehr bereits dritter, neu durchgesehener und vor allem um Lazars Essay Made in Austria (1945) erweiterten Roman Die Eingeborenen von Maria Blut auf den Markt gebracht.
Nachdem Lazars Versuche, ihren 1935 in Kopenhagen verfassten Roman in Österreich und der Schweiz zu veröffentlichen, lange Zeit ohne Erfolg geblieben waren, konnte sie ihn erst 1958 unter dem Pseudonym Ester Greenen veröffentlichen. Dabei kann er ohne weiteres mit Irmgard Keuns unübertroffenem Roman über den Alltag in Nazideutschland Nach Mitternacht (1937) konkurrieren, und dies nicht nur, weil die satirische Darstellung eines Jubiläumsfestes in Lazars Dorf Maria Blut an diejenige des Frankfurter Hitlerbesuchs in Keuns Roman erinnert.
Maria Blut ist ein kleiner von Arbeitslosigkeit und Armut geprägter österreichischer Ort, in dem ‚Eingeborene’ aller Schichten und Gesinnungen leben. Während die DörflerInnen ganz überwiegend abergläubisch und konservativ bis reaktionär sind, sind die auch erzählerisch eher am Rande stehenden „Eisenbahner“ klassenbewusster und wissen genau: „Die, die jetzt gar so fürs Volk sind, die sind immer gegen die Arbeiterschaft.“ (S. 45).
Den Roman prägen kurze Szenen, die sich mosaikartig zu einem gesellschaftlichen Panoramabild voller Details zusammensetzen, das sich durchaus auch als Wimmelbild bezeichnen ließe. Denn es setzt sich multiperspektivisch aus den Gedanken und Gesprächen der tragenden Figuren zusammen, als da wären: ein atheistischer Arzt, der Pfarrer, ein alter jüdischer Rechtsanwalt, ein nationalsozialistisch gesinnter Oberlehrer, „Domestiken“ (S. 65 u.ö.), eine Baronin, eine Hoheit, eine Gemüsehändlerin, heranwachsende Mädchen, Kellner, eine unverheiratete Schwangere, die abtreibt, und manch andere. In ihrer aller Inneres lässt die Autorin die Lesenden ebenso blicken wie in die Stuben der Figuren, in das Wirtshaus, hochherrschaftliche Häuser und in die Geschäfte.
Eine gnostische Zweiteilung in gute und böse Charaktere gibt es auch hier nicht. Vielmehr sind die Figuren ausnahmslos vielschichtig angelegt, allesamt mit Schwächen und Stärken. Wobei allerdings bei einigen diese, bei anderen jene stärker hervortreten.
Alle Figuren des Romans können hier nicht vorgestellt werden. Einige wenige seien jedoch kurz umrissen. Die zweifellos negativste Gestalt ist ein stramm nationalsozialistisch gesinnter Oberlehrer, besonders positiv ist hingegen Hanni, die Tochter eines sozialdemokratischen Arztes, gezeichnet, die im Nachwort sogar „Lichtgestalt“ (S. 299) genannt wird.
Ihr Vater Gustav Lohmann ist im Ort nicht nur überwiegend unbeliebt, ihm wird auch vorgeworfen, unchristlich zu sein, Abtreibungen durchgeführt oder zumindest begünstigt zu haben und seine jung verstorbene Frau im Krankenbett ermordet zu haben. Tatsächlich wird gegen ihn ermittelt, weil er PatientInnen einer niedrigeren Versicherungsstufe Rezepte einer höheren ausgestellt hat.
Der trinkfreudige Pfarrer wiederum, der heimlich von der Kirche nicht wohlgelittene, vielleicht sogar auf dem Index stehende Lektüren bevorzugt, langweilt sich während der Beichte einer Sünderin, die bekennt, ihrem Gatten die „ehelichen Pflichten verweigert[.]“ (S. 38) zu haben. Ganz anders reagiert er, als ihm jemand von einem größeren Verbrechen berichtet.
Offenbar ernster mit der christlichen Lehre nimmt es Vinzent. Zumindest tat er es als Bub. Denn damals hat er von dem Messwein getrunken, um sich so das Blut Christi einzuverleiben und auf diese Weise selbst zum Erlöser zu werden. Ein Erlöser will er auch heute noch sein. Allerdings der nationalsozialistischen Art. Dabei findet der von allen verlachte und verachtete Mann nicht einmal eine Arbeit. Gelingt es ihm aber doch einmal, verliert er sie alsbald wieder, weil er seine nationalsozialistische Zunge nicht im Zaum halten kann. Mit ihm zeichnet die Autorin eine in ihrem Größenwahn ebenso lächerliche wie gefährliche Figur. Später nimmt diese offensichtliche Hitler-Parodie als vermeintlicher Verräter ein übles Ende.
Ein völlig verarmter Baron bzw. Erzherzog, der womöglich gar kaiserlichen Geblüts ist, träumt hingegen von der alten Zeit. Denn „da hat man noch mit einem reden können, wenn er auch nicht der selben Meinung war“ (S. 197). Darin schwingt eine Klage mit, die geradezu aus heutigen Tagen stammen könnte. Eigentlich möchte er nicht länger in einer „Welt“ leben, die „jetzt verproletarisiert“ (ebd.) ist. Andererseits räsoniert er: „Ein bissel leid täts mir doch, wenn ich schon gar so lang gestorben wär.“ (ebd.) Dabei weiß er sehr wohl, dass er nicht mehr gar so lange zu leben hat und bedauert: „Wenn es nur nicht so fad wär, das Sterben. Ich hab mir das ganz anders vorgestellt. So mit: pfeif drauf und habts mich alle gern. […] Jetzt aber freut mich auch das nicht mehr. Immer so ein lausiger Geschmack im Mund.“ (S. 198)
Zwei miteinander konkurrierende esoterische Rattenfänger treten zwar nicht persönlich auf, sind aber für den Ort und seine Eingeborenen von großer Bedeutung: Kapeller will eine ominöse Raumkraft entdeckt haben. Um sie nutzbringend anwenden zu können, braucht er natürlich die notwendigen Finanzen. Weileis wiederum zieht den Menschen als Wunderheiler das Geld aus der Tasche. Wie das Nachwort informiert, haben sie beide reale Vorbilder. Der Wunderheiler in Valentin Zeileis und der vermeintliche Erfinder der Raumkraft in Carl Schapeller. Die Leute von Maria Blut fallen aber nicht nur auf diese beiden Herren herein, sondern lassen sich sogar einreden, direkt unter dem Dorf sei das sagenhaft Grab von Attila mit all seinen unglaublichen Schätzen zu finden. Überhaupt zählen Gerüchte und Fake News mehr als Fakten und Beweise, solange sie nur zur Gesinnung und den Vorurteilen passen.
Am Beispiel des fiktiven Ortes Maria Blut zeigt Lazars Satire, wie die Naziideologie in die bigott christliche und zugleich abergläubische österreichische Gesellschaft vor dem Anschluss des Landes an Nazideutschland einsickerte, wobei der mit den ersten Hakenkreuzen aufkommende Nationalsozialismus mit reaktionären Geschlechterverhältnissen und einem Wunderglauben Hand in Hand gehen. Das hochpolitische und dabei höchst amüsante Buch empfiehlt sich ebenso wie die Theaterstücke unbedingt zur Lektüre.
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