Empfehlungen MARIA GLEIT: Abteilung Herrenmode. 2023. REZENSION VON ROLF LÖCHEL.
MARIA GLEIT: Abteilung Herrenmode. 2023. REZENSION VON ROLF LÖCHEL.
Seit etlichen Jahren macht sich der kleine Wiener Verlag das vergessene buch um die Wiederentdeckung zu Unrecht vergessener Autorinnen (und auch Autoren) und ihrer Bücher verdient. Zu ihnen zählen etwa Else Jerusalems bedeutender Bordellroman Der heilige Skarabäus oder etliche Werke Maria Lazars. So etwa ihr Roman Viermal Ich.
Nun hat der Verlag der erfreulicherweise immer länger werdenden Reihe Maria Gleits auch heute noch lesenswertes Debüt Abteilung Herrenmode. Roman eines Warenhausmädels hinzugefügt. Die Autorin hatte ihn zwar noch in der Weimarer Republik geschrieben, doch konnte er erst unmittelbar nach der Machtergreifung der Nazis 1933 erscheinen. Damit hatte der emanzipatorische Roman kaum eine Chance, seinen Weg in die Regale der Buchhandlungen zu finden. War er doch „eine Kampfansage an alles, was das nationalsozialistische Weltbild von Frauen erwartete“ (311), wie Vojin Saša Vukadinović, der Herausgeber der Neuausgabe erklärt. 1935 wurde das Buch denn auch explizit verboten.
Zwar haben Sigrid Schmid und Hanna Schnedl 1982 einen wenige Seiten umfassenden Auszug des Romans in die von ihnen herausgegebene Anthologie Totgeschwiegen – Texte zur Situation der Frau von 1880 bis zur Zwischenkriegszeit aufgenommen. Doch es mussten 90 Jahre vergehen, bis der Roman nach seinem ersten Erscheinen dem Publikum nun endlich wieder zugänglich gemacht wurde.
Allerdings war Abteilung Herrenmode keineswegs der erste deutschsprachige Warenhausroman. Vielmehr genoss das kleine Genre Ende der Weimarer Republik eine gewisse Beliebtheit. So erschienen 1928 etwa Kurt Münzers Salon Rausch und 1932 Werner Türks Konfektion. Auch war es keineswegs der erste, den eine Frau verfasst hat. Denn schon 1911 hatte die durch ihr fiktionales Tagebuch einer Verlorenen noch heute bekannte Schriftstellerin Margarete Böhme ihren Roman W.A.G.M.U.S. veröffentlicht, dessen titelstiftende Abkürzung für die fiktionale „Warenhaus-Aktiengesellschaft Müllenmeister und Sohn“ steht.
Von den Romanen der genannten Herren unterscheidet sich Gleits Abteilung Herrenmode in vielfacher, sowohl qualitativer wie auch inhaltlicher Hinsicht; von dem Böhmes durch die Handlungszeit. Spielt dieser vor und um die vorletzte Jahrhundertwende, so jener in der Zeit seiner Entstehung, also in der ausgehenden Weimarer Republik. Und doch ist er auch im 21. Jahrhundert in mancher Hinsicht noch erschreckend aktuell. So ist etwa Gleits fiktionaler Personalchef des „im Herzen Berlins“ (40) gelegenen Warenhauses des „großen Kapitalisten“ (39) Schack ein Wieder- beziehungsweise Vorgänger Harvey Weinsteins, Roger Ailes' und ähnlicher Herren, von denen es schon damals allzu viele gab. Auch Dr. Saffian pflegt die ihm untergebenen weiblichen Angestellten zum alles andere als einvernehmlichen Sex zu erpressen. Denn seine „Ideologie“ besagt, dass nach dem Ersten Weltkrieg „eine Mädchen- und Frauengeneration herangewachsen [war], die wusste, dass sie etwas zu geben hatte, wenn sie etwas haben wollte“ (65). Gemeint ist natürlich Sex gegen eine Anstellung oder die Vermeidung einer Kündigung, vielleicht auch einmal gegen eine Beförderung. Kaum eine der jungen Frauen kann sich dagegen wehren. Denn „sein besonderer Trick“ besteht genau wie in den Fällen Weinstein und Ailes darin, „das Sachliche mit dem Persönlichen dergestalt zu vermischen, dass nur sehr schlagfertige Damen die richtige Antwort fanden“ (74). Wird eine der kaum dem Jugendalter entwachsenen jungen Frauen schwanger, nötigt er sie zu einem illegalen Schwangerschaftsabbruch. Dabei fühlt er sich selbst „im Hafen einer bürgerlich gefestigten Ehe elend gestrandet“ und bildet sich ein, seine Frau „habe ihn zugrunde gerichtet“ (58). Ansonsten ist er „ein Mann ohne Ideale“ (58), der seine „Fahnen“ stets nach dem jeweils vorherrschenden politischen Wind „dreht“ (56), und „dem jeder Zustand recht war, solange er aus ihm seinen Nutzen ziehen konnte“ (58). Kurz: „Ein Mann, der prächtig in die Zeit passt“ (288).
Ob ihn eine der Frauen am Ende zur Strecke bringt und ihn letztlich ein ähnliches Schicksal ereilt wie Weinstein und Ailes, soll hier nicht verraten werden. Und selbst wenn es so sein sollte, würde das „gar nichts nützt[en]“, denn „[d]ie ganze Chose läuft verkehrt herum“ (289), wie Lotte Stein ganz genau erkannt hat. Und damit meint sie zwar vor allem, aber nicht nur das hierarchische Geschlechterverhältnis und alles, was daraus folgt.
Lotte und nicht Dr. Saffian ist denn auch die zentrale Figur des Romans. Sie arbeitet zu Beginn des Romans als Verkäuferin in der Schuh-Abteilung des Warenhauses, wo ihr „Freund und Kollege“ (29) mit dem lautmalerisch sprechenden Namen Walter Böhmelmann höchst eifersüchtig an ihr vorbeiliebt. Lotte, die „mit ihren zweiundzwanzig Jahren eine Menge erlebt“ (38) hat, geht eher aus Mitleid und um ihre Ruhe zu haben als aus erwiderter Liebe schließlich mit dem „unscheinbare[n]“ (34) Mann ins Bett. Denn „dieses tapfere und besonnene, dieses wissende Mädchen ihrer Zeit“ (124) ist in romantischer Hinsicht völlig illusionslos. Wie sich herausstellt, ist sie allerdings dennoch nicht davor gefeit, gegen alle Vernunft von der Liebe oder doch eher einer Verliebtheit „überfallen“ zu werden „wie von einem Unglück“ (202).
Zunächst aber einmal wird Lotte in eine andere Abteilung versetzt. Denn der Inhaber und Chef der Firma kommt aus einem Amerika-Urlaub mit ganz neuen und bahnbrechenden Ideen zur Umsatzsteigerung zurück und nimmt die „großzügige Erweiterung der Abteilung Herrenmode“ (18) in Angriff, die zugleich mit einer „Vergirlung der Abteilung“ (179) einhergeht. Es werden die attraktivsten Verkäuferinnen aus allen Abteilungen des Kaufhauses, zu denen auch Lotte gehört, herausgesucht, ebenso adrett wie uniform eingekleidet, auf dass sie einen „erfreuliche[n] herzerquickende[n] Anblick“ (19) bieten und mit ihrem „Sex appeal“ (52) die Herren zum Kauf von was auch immer animieren. Denn auf diese Weise soll der potentielle Käufer „das Gefühl bekommen, das er hat, wenn er zum Beispiel ein Tanzetablissement betritt. […] Er soll erst in zweiter Linie, quasi im Unterbewusstsein, wissen, dass er gekommen ist, um eine Krawatte, ein Paar Handschuhe, einen Anzug zu erwerben“ (27). Das Vorhaben gelingt aufs Vortrefflichste und schon in den ersten Tagen wird die qua „Vergirlung“ (179) rundum erneuerte Abteilung Herrenmode von kauflustigen und mehr noch schaulustigen Herren gestürmt, von denen manch einer dieser oder jener Verkäuferin ein nicht immer ehrenhaftes Angebot unterbreitet. Obwohl die Abteilung prächtig floriert, stehen die Verkaufgirls“ (52) mächtig unter Druck, die „vorgeschriebene Verkaufsquote“ (62) zu erfüllen. Droht ansonsten doch jederzeit die Kündigung oder das Bett des Personalchefs Dr. Saffian. Denn sie wissen sehr wohl, dass sie „in der Zwickmühle [sitzen]“: „Wir können uns nicht wehren, die können mit uns machen, was sie wollen“ (81).
Lotte bleibt allerdings nicht lange in der Abteilung, denn sie wird von Hans Kreuznacher jun., dem Juniorchef eines Geschäftspartners des Warenhausbesitzers Schack abgeworben. Kreuznacher ist ein misogyner Womanizer, der mehrere Beziehungen gleichzeitig führt, während ihm die Ehe als „eine scheußliche Einrichtung“ gilt, „eigens dazu erfunden, die Menschen wie Galeerensträflinge aneinander zu ketten ein Leben lang“ (177). Bei einem Geschäftsbesuch im Warenhaus, „mustert[.]“ er die „Mädels“ der Abteilung Herrenmode, „als seien sie eine Zuchtkarnickelherde“ (85). Diese himmeln den gutaussehenden Mann ihrerseits samt und sonders an. Das heißt, eine nicht: Lotte. Eben darum ist es ihm ein besonderer „Sport“, auch sie, „die sprödeste zu bezaubern“, obwohl ihm „gar nichts“ (132) an ihr liegt.
Er bietet ihr eine weit bessere Stellung in seiner eigenen Firma an, die sie nach einigem Zögern und trotz eines zweiten, ebenfalls attraktiven Angebots annimmt. Und er ist es auch, in den sich Lotte verliebt „wie eine Verzauberte“ (190). Dabei ist sie sehr wohl klug genug zu bemerken, dass sie „nicht an ihn heran[kommt]. Aber nicht, weil er sich verbirgt und sich zurückzieht – sondern - - weil da einfach nichts - - -“ (223f.) Auf einer Geschäftsreise kommt es zu einer 'Liebes'nacht, nach der das beiderseitige Begehren erloschen und abgetan ist. Kreuznacher hat bekommen, was er wollte; Lotte ist ernüchtert.
Mit seiner Kritik der Geschlechter- und Klassenverhältnisse thematisiert der Roman also schon zur Zeit der Weimarer Republik das, was heute unter dem Label Intersektionalität als der Theoriemoden letzter Schrei gilt. Dabei nimmt er zwar vornehmlich die Innenperspektive seiner Protagonistin, aber auch die anderer Charaktere bis zur geringsten Nebenfigur hin ein. So etwa die von Lottes überaus junger, unsicherer und unselbständiger Freundin Annemarie, die zum Opfer von Dr. Saffians erpresserischen Avancen wird, oder dem Proletarier Kurt Simon, Annemaries verzweifeltem und nach deren Schwangerschaft zunächst wenig verständnisvoll reagierendem Freund. Auch in das Seelenleben der „mit all ihren Tugenden erstaunlichen Mammi Böhmelmann“ (121) schaut die Autorin mit einfühlsamem Blick. Und selbst was ein für das Geschehen völlig belangloser Hotelpage denkt und fühlt, wird den Lesenden nicht vorenthalten. Überdies unterhält der Roman mit originellen Bildern und Metaphern. So etwa, wenn er eine Figur sich „wünschen“ lässt, “der neue Tag, der am Horizonte hochsteigen würde, möge ungeboren ins Weltall zurückfallen“ (123).
Lotte jedenfalls klettert durch eigenes Engagement auf der Karriereleiter einige Sprossen empor. So zeigt der Roman auch, dass es eben doch nicht so ganz zutrifft, wenn Annemaries Freund Kurt meint, „dass persönlicher Mut und persönliches Können gar nichts galten in diesen verwirrten Tagen, dass man Beziehungen und Glück haben musste“ (286).
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