Empfehlungen Ilse Aichinger – Die größere Hoffnung
Ilse Aichinger – Die größere Hoffnung
Ilse Aichinger Die größere Hoffnung Neuauflage 2000 – gebunden – 253 S. S. Fischer – EUR 14,32
Gastkommentar von Birgit Rühe:
Es ist, als hinge der graue Winterhimmel auf einmal tiefer über dem Dorf, als stünde eine fahle Sonne bleicher über meinem Garten, als ergriffe mich eine Trauer, die aus Ilse Aichingers Roman Die größere Hoffnung aufsteigt, eine Trauer, die so alt ist wie Krieg, Angst, Verfolgung überhaupt.
Ilse Aichinger schrieb dieses Buch 1948 mit 27 Jahren. Es hat auch nach 63 Jahren - obwohl wir seither viel gelesen haben über diese dunklen zwölf Jahre - nichts von seiner literarischen und geistigen Gültigkeit verloren. Die größere Hoffnung ist aus einem tiefen Wissen um Fremdheit und Ausgestoßensein heraus geschrieben.
Ilse Aichinger, 1921 in Wien geboren (am 1. November 2011 feiert sie ihren 90. Geburtstag), überlebte die Kriegsjahre mit ihrer jüdischen Mutter, einer Ärztin, in einem Zimmer in Wien in der Nähe der Gestapo. Ihre Zwillingsschwester konnte mit einer Tante nach England fliehen. Die Großmutter wurde deportiert. Diese biografischen Hintergründe spiegeln sich verschlüsselt im Roman:
" - und da stimmt ja auch etwas mit den Großeltern nicht: zwei sind richtig und zwei sind falsch!" schreit das Mädchen Ellen. Sie kämpft verzweifelt um ein Visum, denn ein Visum ist "Die große Hoffnung"; bis dieser seltsame, hilflose Konsul sie selbst ihr Visum unterschreiben läßt ...
Es sind gespenstische, groteske, surreale, immer neue Situationen und Bilder um das Thema Krieg, Verfolgung, Deportation. Nur einzelne Wörter wie Stern, Jude, Visum, Amerika, Polen tauchen in einer Fülle fantastischer Situationen und Geschichten auf, in deren Mittelpunkt das Mädchen Ellen steht. Sie schließt sich den jüdischen Kindern an, die am Kai unter den Brücken spielen, auf dem alten Friedhof den Kutscher erwarten, der sie über die Grenze bringen wird. Aber er fährt nur im Kreis, denn alle Grenzen sind schon geschlossen.
Ellen trägt keinen Stern, und die Großmutter hat ihr verboten, einen zu tragen. Darum ist sie die einzige, die beim Konditor die prächtige Geburtstagstorte für Georg kaufen kann. Die Kinder mit dem Stern - Herbert, Ruth, Bibi, Leon und Georg - sitzen um den Tisch und warten auf Ellen. Aber Ellen hat sich selbstbewußt den Stern angeheftet. Sie will dazugehören. Die Konditoreibesitzerin verkauft Ellen die Torte nicht und wirft sie hinaus.
"Der Stern bedeutet den Tod", sagt Bibi.
Ellen will mitspielen, als die Kinder das Weihnachtsspiel proben in dem verlassenen, dunklen Mietshaus. Maria und Josef, der Stern, drei Landstreicher als Heilige Drei Könige... Immer wieder unterbricht schrilles Klingeln das Spiel. Die Kinder lassen den großen Fremden herein.
"Warum spielt ihr im Dunkeln?" fragt er. "Wir sehen besser so!" Der Fremde spielt mit. Dann weint er, denn er soll die Kinder aufhalten, bis sie fortgebracht werden. Er ist ein Häscher.
Auch die Großmutter ist gestorben. Ellen irrt allein durch die belagerte Stadt. Auf der Suche nach den Kindern gerät sie in die Hände der Polizei:
"Wie heißt du?" "Mein Halstuch ist himmelblau", sagt Ellen, "und ich sehn mich weg von hier." Durch Ellens seltsame Antworten beflügelt, beginnen auch die Polizisten Unerwartetes und Ungewöhnliches zu sagen. Der Oberst tobt. Eine verwandelte Wirklichkeit mit biblischen Anklängen.
Die Stadt wird von den fremden Soldaten erobert. Ellen wird verschüttet. Die Schlachthöfe stehen offen. Sie trifft den fremden Soldaten Jan. Auch er will nach Hause, auch er will zu den Brücken. So gehen sie zusammen. Die Stadt brennt. Ellen versorgt den verwundeten Jan, entzündet ein Feuer in einem verlassenen Haus. "Noch immer hielt Jan den heilen Arm um Ellen."
Aber Ellen geht allein weiter. "Zu den Brücken muß man allein." "Nicht dorthin!" schreit eine Frau. Doch Ellen geht todesmutig weiter, so wie sie immer ihren Weg gegangen ist. Es folgt ein Dialog mit dem toten Georg. "Georg, die Brücke steht nicht mehr!" "Wir bauen sie neu!" "Wie soll sie heißen?" "Die größere Hoffnung, unsere Hoffnung!" "Georg, Georg, ich sehe den Stern!"
Das vielschichtige Motiv des Sterns ist nur eines, wenn auch das wesentlichste, in einer Fülle von Mythen, Symbolen, Geschichten und Bildern, die diesen Roman ausmachen. Immer lebt im Dunkel die Hoffnung, die größere Hoffnung.
Eine explodierende Granate zerreißt Ellen, als sie auf den zersplitterten Rest der Brücke springen will. "Über der umkämpften Brücke stand der Morgenstern."
So endet der Roman.
Das Bild des Sterns findet sich wieder in Ingeborg Bachmanns Gedicht Alle Tage: ...
Die Uniform des Tages ist die Geduld, die Auszeichnung der armselige Stern der Hoffnung über dem Herzen ...
Nach dem Krieg beginnt Ilse Aichinger ein Medizinstudium, das sie nach sechs Semestern abbricht, um ihren Roman Die größere Hoffnung zu schreiben.
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