Empfehlungen Helke Sander: Der letzte Geschlechtsverkehr und andere Geschichten vom Altern. Kunstmann 2011.
Helke Sander: Der letzte Geschlechtsverkehr und andere Geschichten vom Altern. Kunstmann 2011.
Reifeprüfung
von Luise F. Pusch
Fast ein Vierteljahrhundert nach ihrem Bestseller „Geschichten der drei Damen K.“ erzählt Helke Sander uns in „Der letzte Geschlechtsverkehr“ weitere Schnurren über traurige bis schaurige Geschlechterverhältnisse. Die „Damen“ von damals sind älter geworden. Vielfältige Kränkungen müssen sie aushalten, ihr Wunsch nach Liebe und Nähe, möglichst inklusive Geschlechtsverkehr, wird permanent enttäuscht - aber GV pur spielt bei weitem nicht die Rolle, die der Titel erwarten lässt.
Wie Sanders alternde Frauen mit den Zumutungen des Patriarchats fertigzuwerden versuchen - das ist mindestens so komisch wie Valentin/Karlstadts oder Buster Keatons aussichtslose Kämpfe mit den Tücken des Objekts. Vor allem aber ist es herzzerreißend, denn Sanders Heldinnen kämpfen mit den Tücken des Liebesobjekts. Bei allem heiteren Darüberstehen - diese Geschichten nehmen uns mit. Ob Helga, Beate oder A.: Es geht um uns, jetzt oder etwas später.
Die Geschichten lassen sich grob einteilen in Burlesken einerseits und Tragikömodien andererseits. Oder, was auf dasselbe herauskommt, in sechs Geschichten ohne GV und drei mit GV.
Da ist z.B. die gewitzte 95jährige, die der Stadtverwaltung allerlei längst Überfälliges abtrotzt - in ihr erkennen Eingeweihte unschwer Sanders Mutter. Hoffen wir, dass die Autorin deren Beständigkeit geerbt hat und wir uns noch auf viel Gutes und Böses von ihr gefasst machen dürfen.
In der Geschichte über den Ur-Konflikt Alter gegen Jugend hat die Autorin ihre erfrischende Kritik an der heutigen Jugend klüglich auf zwei alte Knacker verteilt.
In „Leichenschmaus“ ist die Heldin, die von einer quälenden Leidenschaft zu einem verheirateten Mann besessen war, bereits tot. Einmal jährlich versammeln sich ihre Freundinnen, um der früh Dahingegangen liebevoll zu gedenken und über sie herzuziehen.
„Tantra in der Wohngemeinschaft“ ist eine knochentrockene Groteske, wie sie heute in Deutschland wohl nur Helke Sander abliefert.
In den Tragikomödien „mit GV“ wird zwar auch kein GV „vollzogen“, aber es geht um ihn, mehr oder weniger ausschließlich. Allerdings ist hier wie sonst „GV“ mehr ein Code-Wort für Zweisamkeit, denn „die Sehnsucht nach Liebe und Nähe und Gemeinsamkeit und Vertrauen wagt frau sich gar nicht mehr einzugestehen.“
Die Bibliothekarin Helga ist 43; „ihre früheren Geliebten sind ihr abhanden gekommen“. Sie sehnt sich nach Liebe und nach einem Mann, aber in ihrer Lebenswelt kommen keine Männer vor, denn die Bibliothek wird fast ausschließlich von Frauen frequentiert. Sie probiert es schließlich mit einer Anzeige - kann das gutgehen?
A. geht auf die 60 zu, kommt „meist gut mit dem Alleinsein zurecht“ und sinniert über „die vielen älteren, allein wohnenden, gut ausgebildeten Frauen und parallel dazu die mit ihnen gleich alten Männer mit neuen jüngeren Frauen“. Plötzlich packt sie wilde Lust auf einen Orthopäden. Er ist anscheinend auch nicht abgeneigt…
In der Titelgeschichte muss E. damit zurechtkommen, dass Sex ihr zunehmend gleichgültig wird, dass sich das aber in ihren Kreisen nicht schickt.
Bleibt noch festzustellen, dass dies alles sehr notwendige Geschichten sind, die ein Thema ausloten, das ungefähr so wichtig ist wie Gesundheit und damit wie das Leben selbst. Das Thema Sex im Alter war lange tabu, inzwischen wird es marktschreierisch breitgetreten. Helke Sander findet ihren ganz eigenen Weg durch dies Labyrinth. Es geht nicht nur um den letzten Geschlechtsverkehr, sondern überhaupt um letzte Dinge, und das vergnüglich, lakonisch, auf höchstem Niveau. Das soll der Autorin erstmal jemand nachmachen.
•••••••••••• (Diese Rezension erschien zuerst in der Literaturbeilage der NZZ am Sonntag am 30. Oktober 2011.)
Helke Sander: Der letzte Geschlechtsverkehr und andere Geschichten vom Altern. München. Verlag Antje Kunstmann 2011. Gebunden. 165 Seiten 16.90 EUR
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