Empfehlungen Angela Steidele: Geschichte einer Liebe - Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens
Angela Steidele: Geschichte einer Liebe - Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens
Angela Steidele Geschichte einer Liebe: Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens Berlin: Insel, 2010
Rezension von Joey Horsley
Angela Steidele hat einen fesselnden, gründlich recherchierten Bericht über die intime Freundschaft zwischen Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens Schaaffhausen geschrieben, zwei brillanten, aber wenig bekannten Deutschen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Durch extensive Verwendung bisher überwiegend unveröffentlichter Briefe und Tagebücher rekonstruiert Steidele einfühlsam die faszinierende Geschichte ihres Lebens und ihrer Beziehung, wie sie einander finden, auseinandergehen und sich wieder vereinigen mitten in ihren bisweilen turbulenten Verstrickungen mit Intellektuellen und Künstlerinnen ihrer Zeit: der Dichterin und Schriftstellerin Annette von Droste-Hülshoff, Goethes Schwiegertochter Ottilie von Goethe, der schottischen Schriftstellerin und Feministin Anna Jameson und der italienischen Demokratin und Mazzini-Anhängerin Laurina Spinola aus Italien.
Dabei erfahren wir viel über die Lebensbedingungen von Frauen des Bildungsbürgertums im frühen 19. Jahrhundert sowie über die Art ihrer intimen Beziehungen vor dem Aufkommen der neuen polarisierende und stigmatisierenden Begriffe „Homo-„ und „Heterosexualität“. Zunächst hauptsächlich wegen ihrer intellektuellen und künstlerischen Begabungen voneinander angetan, unterstützten die Frauen sich gegenseitig inmitten einer patriarchalen Gesellschaft, deren legale und gesellschaftliche Zwänge ihre Freiheit und Möglichkeiten rigoros einschränkten.
Steidele korrigiert das zuvor verzerrte Bild der Schriftstellerin, Scherenschnittkünstlerin und literarischen Agentin Adele Schopenhauer (1797-1849), weniger bekannte einzige Schwester des frauenfeindlichen Philosophen und Tochter der Bestsellerautorin Johanna Schopenhauer. Im Kontext ihrer Beziehungen zu Frauen, besonders zu Sibylle Mertens, erscheint Adele Schopenhauer als Frau von tiefem Gefühl, hoher Integrität und intellektueller und kreativer Begabung, das ganze Gegenteil des herkömmlichen Bildes von ihr als einsame und frustrierte alte Jungfer, die sich über den nicht ergatterten Gatten mit überspannten sentimentalen Phantasien hinwegtröstet. Schopenhauer war in Lebens- und Literaturdingen bei ihrem “Adoptivvater” Goethe in die Lehre gegangen und besaß ein sicheres Gespür für literarische und ästhetische Qualität – die Begabung der großen Dichterin Droste-Hülshoff erkannte sie früh – und erweist sich in ihren Briefen als “Psychologin in schonungsloser Selbstanalyse” (11).
Adele war seit ihrer Jugend heftig verliebt in ihre Freundin Ottilie von Pogwisch (später von Goethe) und musste verzweifelt erkennen, dass ihre Gefühle leidenschaftlicher und ausschließlicher waren als Ottilies Zuneigung zu ihr. Trotzdem ließ sie sich auf Flirts mit Männern ein; zuerst schwärmte sie mit Ottilie für diverse Jünglinge, vermutlich um ihr nahe zu bleiben, aber schließlich erkannte sie, dass sie nur als Vermittlerin von Interesse war. Sie gestand sich ein, dass ihre Liebe zu Ottilie “außerhalb des Normalen” war: “Adele Schopenhauer war sich ihres Anders-Liebens bewusst” (63). Spätere Verbindungen mit Männern ging sie aus Gründen praktischer Notwendigkeit ein; wie die meisten Frauen ihrer Zeit sah sie in der Ehe die einzige Möglichkeit des Überlebens - und für Adele versprach eine Ehe auch die Lösung von ihrer fordernden und finanziell verantwortungslosen Mutter. Aber sie galt als unhübsch und war intelligenter und gebildeter als es sich eine Frau damals erlauben durfte, wenn sie begehrt sein wollte. Ihre stärksten Gefühle galten überdies Frauen, und ihre Briefe zeigen, dass männliche Sinnlichkeit ihr im Allgemeinen zuwider war. Mit der Zeit begann sie zu schreiben und errang durch Veröffentlichung ihrer fiktiven Prosa, Gedichte, Briefe und Essays über Kunst eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit.
Sibylle Mertens (1797-1857), die ungewöhnlichere der beiden Frauen, dürfte den heutigen LeserInnen noch weniger bekannt sein als ihre Lebenspartnerin, und das ebenso unverdientermaßen. Sie stammte aus einer wohlhabenden Unternehmerfamilie im Rheinland, bekam die beste musikalische und ästhetische Erziehung - und wurde mit 19 Jahren an einen passenden Nachfolger für das Unternehmen ihres Vaters verheiratet. Ihre Meinung wurde weder eingeholt noch berücksichtigt bei der Verkupplung mit dem fast 16 Jahre älteren Mann, der keine ihrer Interessen, sei es Geschichte, Kunst oder Musik, teilte. Sie und Louis Mertens waren beide temperamentvoll and willensstark – die Droste nannte ihre Beziehung eine “wahre Höllenehe” (30). Obwohl sie bis zu ihrem 31. Lebensjahr sechs Kinder gebar, ließ sich Sibylle durch mütterliche oder eheliche Pflichten nicht von ihren intellektuellen und gesellschaftlichen Passionen ablenken. Die Architektur und Kunstwerke der römischen Kolonialvergangenheit von Köln und seiner Umgebung faszinierten sie; ihre Sammlungen und ihr Fachwissen, besonders auf dem Gebiet antiker Münzen und Gemmen, waren bald weithin berühmt. Im Musik- und Kulturbetrieb der Städte Köln und Bonn spielte sie als Mäzenin und Mitgestalterin eine führende Rolle; in ihrem Salon traf sich die künstlerische und intellektuelle Elite, von dem Shakespeare-Übersetzer und Sanskritgelehrten A. W. Schlegel über Künstler und Sammler wie Wilhelm Schadow und Sulpice Boisserée bis hin zu Komponisten wie Johann Nepomuk Hummel und Sängerinnen wie Angelica Catalani. Zu den Lieblingsgästen der charismatischen Sibylle gehörte Annette von Droste-Hülshoff. Ein Beispiel für die Kostbarkeiten, die Steidele ausgegraben hat, ist ihre Beschreibung, wie die beiden kurzsichtigen Frauen in gleicher Weise gegen den Zwang aufbegehrten, in der Öffentlichkeit glamourös aufzutreten, d.h. ohne Brille: “Nichts war [Sibylle] lästiger, ‘als das Gewirre eines überfüllten Salons, wenn ich keine Brille auf meine lange Nase setzen darf.’ Die Droste litt noch mehr unter solchen Konventionen, denn sie war mit ca. -13 Dioptrien ohne Lorgnette quasi blind.” (57) Wie später auch Sibylle und Adele, fühlten sich diese beiden außerordentlich begabten und klugen Frauen “in geistiger Hinsicht wechselseitig angezogen.’” (57)
Adele Schopenhauer traf Sibylle zum ersten Mal, als sie im Januar 1828 ihren Salon besuchte; beide Frauen waren sich sofort sympathisch. Im Gegensatz zu der früheren schwärmerischen Idealisierung Ottilies, erwärmten sich Adeles Gefühle für Sibylle trotz der Wahrnehmung ihrer Schattenseiten. Sibylle “hat die Eisrinde meines Herzens gelöst,” schrieb sie. “Wie ich sie liebe werde ich wohl nie wieder jemanden lieben” (79). Sie verbrachten die Tage und Nächte miteinander, entfernt von Sibylles Kindern und dem Gatten, der von ihrer Freundschaft nicht begeistert war und Adele schließlich Hausverbot erteilte. Schon im Sommer desselben Jahres verglich Adele sich und Sibylle mit “ein Paar Leuten die sich spät finden und dann einander heirathen.Stürbe sie, so spräng ich jetzt in den Rhein, denn ich könnte nicht ohne sie bestehen.” (87)
Unglücklicherweise unterbrachen die Umstände und das eigene Verhalten der Frauen ihre Liebesgemeinschaft jedoch schon nach wenigen Jahren. Für eine Beziehung wie die ihre gab es kein legal oder gesellschaftlich anerkanntes Arrangement; die Katholikin Sibylle konnte sich nicht scheiden lassen, wie Adele es sich wünschte. Krankheiten, Reisen (sogar über die Alpen und wieder zurück) und Sibylles Begeisterung für andere Frauen führten bei Adele zu Eifersucht und Verzweiflung und schließlich zu einer siebenjährigen Trennung. Aber nachdem Adeles Mutter und Sibylles Gatte verstorben waren, fanden die Liebenden sich wieder für die wahrscheinlich glücklichsten sieben Jahre ihres Lebens (1842-49), während derer sie einander hingebungsvoll und treu in ihrer geistigen Arbeit und allen praktischen Belangen unterstützten. Sibylle pflegte Adele während ihrer schrecklichen Krebskrankheit, trauerte lange um sie und bemühte sich, ihre nachgelassenen Werke zu veröffentlichen. Jahre vor und sogar nach Sibylles Tod rächten sich ihre Kinder (vor allem die Schwiegersöhne) an ihr für ihren unabhängigen Lebenswandel und ihre “exzentrischen Freundschaften” (225). In endlosen Prozessen machten sie ihr ihr Erbe streitig, und nach ihrem Tod versteigerten sie die wertvollen Sammlungen in alle Winde, wodurch sie die Erinnerung an Sibylle Mertens’ einzigartige Lebensleistung als Gelehrte und Archäologin praktisch auslöschten.
Angela Steidele sieht diese Lebensgeschichten konsequent im historischen Kontext gleichgeschlechtlicher Liebe: “Sie lebten an der Schwelle der sexuellen Moderne und entwickelten, erprobten und durchlitten die neue lesbische Identität paradigmatisch mit.” (93) Ihre Briefe und Tagebücher belegen, dass Adele and Sibylle intensiv über ihre Liebe zu Frauen nachdachten; beide waren sich bewusst, dass ihre Gefühle außerhalb der Norm lagen. “Ich kann über all meine Empfindungen in dieser Beziehung gegen Niemanden sprechen; denn wer würde mich begreifen? Ist es mir selbst doch mitunter wie ein Räthsel, zu dem meinem Verstande jeder Schlüssel fehlet, und dessen Lösung nur mein Herz denkt”, schreibt Sibylle in ihr Tagebuch über die junge Witwe, in die sie sich in Italien verliebte, bevor sie sich dann mit Adele versöhnte. Und doch wussten diese “Lesben” auch genau, was sie sich wünschten und brauchten, nämlich “[die] tiefe Übereinstimmung der Grundgefühle, jene Harmonie aller Hauptansichten, jenes stete, bestimmte fast instinktmässige Verstehen, und jenes klare Bewusstsein des Verstandenwerdens; jenes unbedingte Hingeben, und jene unerschütterliche Sicherheit, in jedweder Handlung, jedwedem Worte, fast mögte ich sagen, jedwedem, auch unausgesprochenen Gedanken begriffen zu werden” (142). Dass Adele und Sibylle zusammen in einem Bett schliefen und darüber schrieben, wie glücklich sie in den Armen der anderen waren (90), mag zu ihrer Zeit nicht ungewöhnlich gewesen sein, spricht aber doch für die Wahrscheinlichkeit nicht nur emotionaler, sondern auch physischer Intimität, besonders angesichts ihrer intensiven Gefühle füreinander.
Steideles Konzentration auf Frauenbeziehungen wirft auch ein neues Licht auf Annette von Droste-Hülshoff, die von Literaturhistorikern traditionell als alte Jungfer gesehen wird, die in unerfüllter Liebe zu dem weit jüngeren Schriftsteller Levin Schücking entbrannte. Steidele stellt fest, dass die intensiven Freundschaften der Droste mit Frauen ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger waren, die (nicht gleichzeitigen) mit Sibylle und Adele inbegriffen. Einmal erwog Annette die Gründung einer SchriftstellerInnengemeinschaft mit Adele, Schücking und dem Dichter Ferdinand Freiligrath - ein kühner Traum, der sich niemals verwirklichte (184-5). Überdies, so Steidele, sind verhüllte Geschichten über gleichgeschlechtliche Liebe wichtige Elemente der Drosteschen Dichtung (165ff, 183f).
Details aus dem Alltags- und Liebesleben der Frauen lesen sich faszinierend wie eine “Klatschkolumne” aus der Biedermeierzeit. Wenn eine der Freundinnen erkrankte, was nur allzu oft geschah, kam eine andere, wohnte bei ihr und pflegte sie, und konnte so zugleich mit der Freundin auch die intime Freundschaft stärken und beleben. Annette pflegte Sibylle, Sibylle Annette und Adele. Mit der schottischen Erfolgsschriftstellerin und frauenliebenden Frühfeministin Anna Jameson ergab sich eine weitere Komplikation im erotisch-romantischen Freundinnenkreis. Jameson, die aus praktischen Gründen verheiratet blieb, obwohl sie von ihrem Mann getrennt lebte, wiederholte Adele Schopenhauers Obsession für die unwiderstehliche, doch entschieden heterosexuelle Ottilie von Goethe. Und als Ottilie, obwohl seit vier Jahren verwitwet, schwanger wurde (“Sie trug den berühmtesten Namen Deutschlands und saß tief in der Patsche”), schmiedeten Anna Jameson und Sibylle Mertens einen Plan, um sie vor dem Skandal zu bewahren: Das Kind sollte heimlich in der relativen Anonymität von Wien zur Welt kommen, mit Anna als Hilfe vor Ort und finanzieller Unterstützung von Sibylle (120).
Die Moderne kündigte sich u.a. darin an, dass Frauen, die “androgyne” oder “maskuline” Eigenschaften zu haben schienen, mit George Sand in Verbindung gebracht, also als Typus erfasst wurden. Sibylle Mertens mit ihrer kraftvollen Persönlichkeit und ihrem unkonventionellen Auftreten wurde mit Sand assoziiert (200f), genau wie die französische Bildhauerin Félicie de Fauveau (224), die Männerkleidung trug und für ihre “Emanzipationsansichten” berüchtigt war. Steidele charakterisiert ihre Protagonistinnen hinsichtlich der Abweichung von den Weiblichkeitsnormen ihrer Zeit wie folgt: “Während Adele Schopenhauer als hässlicher Blaustrumpf ihre Weiblichkeit verriet, provozierte Sibylle Mertens mit einer Attitüde, die in der Weimarer Republik vielleicht Kesser Vater genannt worden wäre und heute butch.” (94) Die unschuldige Ära der gesellschaftlich akzeptierten “romantischen Freundschaften” zwischen Frauen bekam immer mehr Risse durch Frauen wie Jameson, Mertens, Droste und Adele Schopenhauer, die traditionell den Männern vorbehaltene gesellschaftliche und geistige Vorrechte für sich beanspruchten und sich obendrein weigerten, ihre Liebe zueinander der Liebe zu einem Mann unterzuordnen. Angela Steidele hat einen wichtigen Beitrag zur weiblichen Sozialgeschichte geleistet, indem sie diese faszinierenden Geschichten von Anziehung und Sehnsucht, Betrug und Treue, Erfüllung und Verlust entdeckt und zu einem wunderbaren, anregenden und lange nachwirkenden Lesegenuss aufbereitet hat.
(Aus dem Englischen von Luise F. Pusch) Das englische Original befindet sich hier.
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