Wer ist hier geschmacklos? Pussy Riot, Schorlemmer oder die Lutherstädte?
Am 10. November entscheiden die Lutherstädte, wer im April nächsten Jahres den Preis „Das unerschrockene Wort“, kurz Lutherpreis, bekommen soll. Die Lutherstadt Wittenberg hat die russischen Heldinnen und Polit-Punkerinnen Pussy Riot für den Preis nominiert, aber nicht wenige sind dagegen, allen voran der prominente Theologe Friedrich Schorlemmer - vormals in der DDR Pfarrer und Bürgerrechtler, heute Publizist.
Schorlemmer und seine Gesinnungsgenossen lehnen die die Nominierung ab, weil sie die Aktionen von Pussy Riot „geschmacklos“ und „nicht preiswürdig“ finden. Es fehlt diesen Ästheten die feministische Sensibilität und die Erfahrung im Umgang mit speziell feministischem Protest, der nicht selten vom Rest der Bevölkerung als „geschmacklos“ abgelehnt wird. Ich erinnere an die „Geschmacklosigkeit“, sich öffentlich der Abtreibung zu bezichtigen oder an die „Geschmacklosigkeit“ der weltweiten SlutWalks oder der ukrainischen Feme-Aktivistinnen, die ihre politischen Forderungen mit entblößtem Oberkörper herausschreien. Schon wenn die Frau überhaupt den Mund aufmacht, finden viele Männer das geschmacklos. Das Weib schweige in der Gemeinde! Schon ihr Anblick ist eine Zumutung, deshalb verschwinde sie unter einer Burka. Und wenn das Weib menstruiert, ist das nicht nur geschmacklos, sondern unrein. Ja, die Frau als solche ist geschmacklos.
Gegen Schorlemmer et.al. haben BefürworterInnen der Ehrung einen ausführlichen offenen Protestbrief geschrieben. Darin heißt es u.a.:
Den jungen Frauen ist mit ihrer couragierten künstlerischen Aktion gelungen wie niemandem bisher zuvor, die Weltöffentlichkeit auf die autoritären gefährlichen Tendenzen in Putins Russland aufmerksam zu machen. Das mutige Auftreten für Demokratie in Russland in dem unwürdigen Schauprozess erfordert höchsten Respekt. In ihren reflektierenden Prozessreden, vorgeführt in Käfigen, aber auch in ihren klugen Interviews haben sie sich als Frauen des unerschrockenen Wortes erwiesen.
Wie wahr! Ich möchte allen politisch und feministisch denkenden Menschen die Lektüre des Protestbriefs ans Herz legen.
Da nun alles Wesentliche schon von Berufeneren gesagt worden ist, möchte ich mich mit einem wenig beachteten Nebenaspekt beschäftigen, nämlich der Knete. Geschmackvoller ausgedrückt: Mit der geldlichen Ausstattung des Preises.
Erst durch Pussy Riot erfuhr ich überhaupt von dem Preis „Das unerschrockene Wort“, den die Lutherstädte alle zwei Jahre verleihen. Dass es mehr als eine oder zwei Lutherstädte (Wittenberg und Eisleben, der Geburtsort) gibt, wusste ich bis dahin auch nicht. Derzeit sind es 16 Lutherstädte und wer weiß, wie viele Städtchen noch entdecken werden, daß Luther mal dort übernachtet hat.
Je mehr Lutherstädte es gibt, umso weniger braucht jede einzelne für den Lutherpreis hinzublättern. Derzeit zahlen 16 Städte insgesamt 10.000 EUR, macht für jede 625 EUR - weniger als der Preis eines einzigen iPhones.
Geiz ist geil, auch für Lutherstädte. Dabei heißt es doch in der Lutherbibel „Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb!“
Und um diese peinliche Kleckersumme wird nun dieses noch peinlichere Theater veranstaltet. Geht’s noch?
Sicher, der symbolische Wert eines solchen Preises ist hoch, und deshalb sollten die Pussy-Riot-Aktivistinnen ihn auch unbedingt bekommen. Je mehr solcher Preise umso besser. Umso eher kommen sie vielleicht aus dem Lager wieder heraus. Laut Amnesty International sind russische Straflager brutal und menschenunwürdig:
„Was die Lebensverhältnisse im Straflager betrifft", klagte unlängst eine ehemalige Insassin, als wäre es einem Kapitel aus dem „Archipel GULAG“ entnommen: „Die Atmosphäre ist unerträglich. Überall Willkür und Gewalt. Wenn du hier jemals wieder rauskommst, bist du todkrank, physisch und psychisch.“ Quelle hier.
Aber nützlich und schön wäre es doch auch, wenn nicht nur die Symbolik stimmte, sondern auch die Kasse. Wenn der hohe symbolische Wert des Preises nicht durch seine Mickrigkeit konterkariert würde. Denn es geht den Pussy Riot-Aktivistinnen schlecht im Straflager. Pro Gefangene gibt die russische Regierung pro Tag umgerechnet 1 EUR aus. Davon kann keine Heizung bezahlt werden, und der russische Winter ist kalt.
Verliehen wird der Preis erst im Frühling. Bis dahin können die Pussy Riots schon erfroren sein.
Also spendet fleißig, am besten hier: [url=http://freepussyriot.org/help]http://freepussyriot.org/help[/url]
Und schreibt an die Lutherstädte, sie sollen den Preis gefälligst finanziell gehörig aufstocken. Oder ist die ganze Preisaktion nur eine billige PR-Maßnahme zur höheren Ehre von popeligen „Lutherstädten“, denen „Das unerschrockene Wort“ buchstäblich fast gar nichts wert ist?
•••••••••••••• Zum Weiterlesen:
Begründung für die Preisverleihung "Das unerschrockene Wort" an Pussy Riot von Werner Schulz
Offener Protestbrief der Pussy-Riot-UnterstuetzerInnen-Community
Kommentar von Elfriede Jelinek: [url=http://www.elfriedejelinek.com]http://www.elfriedejelinek.com[/url] (> Aktuelles > Pussy Riot)
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4 Kommentare
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31.01.2013 um 07:37 Uhr schmerztherapie
Was ist heute in? Minus Ionen Armbänder der Marke Zazen52 oder Zenturio stellen die Krönung von Magnetschmuck dar.
10.11.2012 um 14:15 Uhr anne
die entscheidung ist gefallen - wieder einmal unerschrocken der kirchliche einfluß auf das `unerschrockene wort` protestierender frauen in der kirche. die luther-preis-auszeichnung geht nicht an die frauen-punk-band (nachzulesen in faz.net vom 10.11.2012)
zitiert: “Pussy Riot hat den Lutherpreis verdient (Welt Online, Werner Schulz, Europa-Grüner und menschenrechtler, 8.11.2012 - seine Antwort auf auf den text des philosophen und evangl. theologen Richard Schröder, der behauptet, die russische punkband hätte den preis der `lutherstädte` nicht verdient.)
Unheilige Allianz zwischen Kirche und Kreml
Kampf dem Scheinheiligen
Die Frauen geben der gebildeten, aufbegehrenden Mittelschicht, die Russland für seine Modernisierung braucht, ein Gesicht. In ihren Interviews und dem furchtlosen Auftreten vor Gericht haben sie den despotischen Charakter und die Willkürjustiz des russischen Staates enthüllt. Sie sind nicht zu Kreuze gekrochen, haben nichts zurückgenommen und sich auf ihr Gewissen berufen.
Luther in Worms und Pussy Riot vor dem Moskauer Gericht sind gewiss zwei verschiedene paar Schuhe, doch sie passen auf denselben Leisten. Pussy Riot haben unerschrocken dem Scheinheiligen den Kampf angesagt und deswegen den Preis der Lutherstädte verdien
Ja, ihr Protest hat noch keine Mehrheit gefunden, aber ist das nicht das Schicksal aller Rebellen, Dissidenten oder Bürgerrechtler? Ihre Entschuldigung vor Gericht mag naiv sein, ist aber kein Eingeständnis, dass ihr Auftritt ein unbedachtes Wort war. Wohl eher der Versuch, die aufgehetzten Gemüter zu beruhigen. Ihr Video war nicht darauf angelegt, religiöse Gefühle zu verletzen, das hat erst die staatliche Propaganda bewirkt.
Pussy Riot hat eine Debatte ausgelöst, die es bisher in Russland nicht gab, nämlich darüber, dass die unheilige Allianz zwischen Kirche und Kreml eine orthodoxe Zivilisation anstrebt, ein Russland, das sich vom Westen abwendet, in dem die Kirche die ideologische Leere ausfüllt, die der Stalinismus hinterlassen hat und die unfehlbare Moral vertritt, die einst Sache der kommunistischen Partei war.
Der richtige Ort für den Protest
Die Christ-Erlöser Kathedrale ist die Kirche von Patriarch und Zar. Dort fand die Krönungsmesse von Putin I. statt, stand bei der Ostermesse Putin III. im Mittelpunkt. Da Kyrill I. verkündet hat, Putin sei von Gott gesandt, ihn müsse man wählen, war hier für den Protest auch der richtige Ort.
Stalin hat die Kirche sprengen lassen. Und die Tschekisten, die für die Christenverfolgung verantwortlich waren und wieder an der Macht sind, hatten keine Skrupel den heiligen Ort als Freibad zu nutzen. Den Zynismus, dass viele von ihnen ohne Reue plötzlich fromm geworden sind, haben Pussy Riot angeprangert und damit zugleich auf die fehlende Aufarbeitung verwiesen.
Gegen christlich verbrämte Autokratie
Den Frauen von Pussy Riot war bewusst, was sie taten. Darum wäre die Preisverleihung eine Ermutigung für alle, die sich unerschrocken gegen das Entstehen einer christlich verbrämten Autokratie einsetzen.
Wir können mehr tun, als unsere Betroffenheit und Solidarität sowie die folgenlose Forderung nach Freilassung aufs Papier zu bringen. Die Erfahrung politischer Gefangener besagt, dass die Anerkennung ihrer mutigen Taten die stärkste Stütze war, die ungerechte Bestrafung aufrecht durchzustehen.
Wenn man Luther mit all seinen Leistungen in die Waagschale wirft, dann wird jeder der bisherigen Preisträger zu leicht erscheinen, auch Schröder. Wer Pussy Riot nur auf das Punk-Gebet reduziert, greift zu kurz.
08.11.2012 um 15:20 Uhr Amy
Ja, die Lutherstädte vergeben den Preis und nicht die Kirche (Das erschrockene Wort).
Aber auch Hans Küng (kath. Theologe a.d. Schweiz, Kirchenkritiker) bekam den Preis f.d. Standhaftigkeit b.d. Vertretung seiner Thesen zur kath. Glaubenslehre. Die Deutsche Bischofskonferenz entzog Küng im Dezember 1979 die kirchl. Lehrerlaubnis. Küng sah darin vor allem eine Reaktion auf seine Kritik am Dogma der Unfehlbarkeit. Diese Zeit beschrieb er als die vier schlimmsten Monate seines Lebens:
“Ja, ein Blick zurück im Zorn könnte es sehr wohl geben, (..) wenn ich zurückdenke an die psychische und physische Erschöpfung nach einem Kampf auf theologischer, kirchenrechtlicher, staatsrechtlicher, publizistischer und politischer Ebene, in Fakultät und Universität, Wissenschaftsministerium und Landesparlament; auf der anderen Seite Bischof, Bischofskonferenz, Nuntius und letztlich bestimmend Papst und Kurie. Wahrhaftig: vom 18. Dezember 1979 bis zum 10. April die vier schlimmsten Monate meines Lebens, die ich auch meinen erbittertsten Gegnern nicht wünschen kann.”
2003 erhielt ihn die Superintendantin des österr. Burgenlandes, Gertraud Knoll, deren Engagement gegen Rassismus sogar Morddrohungen folgten.
Wie sagte Luther doch in seinen Tischreden:
“Wer die Musik verachtet, wie denn alle Schwärmer tun, mit denen bin ich nicht zufrieden. Denn die Musik ist eine Gabe und Geschenk Gottes, nicht ein Menschengeschenk. So vertreibt sie auch den Teufel und macht die Leute fröhlich: man vergißt dabei allen Zorns, Unkeuschheut, Hoffart und anderer Laster. Ich gebe nach der Theologie der Musik die nächste Stelle und die höchste Ehre. ”
“Dies Übel regiert am meisten denen, die etwas voraus zu haben glauben vor anderen und ein ehrbares Leben führen und mehr Gnade haben. Die blähen und brüsten sich; was ihnen nicht gleich ist, das muss sinken, das richten sie, das verachten sie, und sie sind das hübsche Kätzlein im Hause.”
Ich habe inzwischen hässliche Kommentare von den Gegnern der Preisvergabe an die Frauenband Pussy Riot gelesen, dass sich manchmal der Gedanke aufdrängt, warum einen Preis vergeben ausgerechnet mit dem Namen eines Mannes, der u.a. nicht gerade frauenfreundliche Worte in die Welt hinausposaunte, der sich für die Hinrichtung von Hexen, Gotteslästerern ausgesprochen hat…(Die Zauberinnen sollst du nicht leben lassen. Es ist ein gerechtes Gesetz, dass sie getötet werden, sie richten viel Schaden an).
Und Schorlemmers Worte? “Mein Hauptvorwurf an diese Pussys ist, dass sie nicht beten sondern provozieren. Es ist etwas anderes, wenn Frauen in eine Kirche eindringen und rumhüpfen…Als Fotzenaufstand, hat jemand gesagt, müsste das richtig übersetzt werden - seltene Vokabeln aus dem Munde eines Pastors. Friedrich Schorlemmer hat sie in den letzten Tagen mehrfach gebraucht…” (Taz v. 24.10. 2012 - Im Intimbereich des Glaubens)
Zur Information ein Artikel “Das erschrockene Wort”
http://www.christundwelt.de/themen/detail/artikel/das-erschrockene-wort/
04.11.2012 um 14:11 Uhr anne
starke glosse mit vielen wichtigen infos!! überhaupt ist es für das patriarchat unerträglich, dass ausgerechnet frauen sich so lautstark in sein heiligtum einfanden; dürfen sie auf keinen fall den altar betreten - ob die verunreinigung infolge der menstruation oder durch die angebliche `entweihung` am altar erfolgte, die bärtigen gottesmänner sehen sich gottähnlich und dementsprechend in ihrer würde ausgerechnet von frauen schwer beleidigt. was ist schon gotteslästerlich? normalerweise müsste der `geschädigte` vor gericht selbst aussagen dürfen, aber Er schweigt dazu..
eigentlich für kritische menschen unerträglich, worauf sich die kirche beruft: kaiser konstantin der grobe, ein despot und ein mörder:” Und Konstantin wird folgerichtig hochgelobt. Was nicht in das Bild des “ersten christlichen Kaisers” paßt, wird weggedeutet. Kein Stäubchen soll die Fiktion beschmutzen. So wird unter anderem die Aufblähung des Ichs eines groben Menschen und der “vollkommensten Verkörperung des Soldatentums” (Otto Seeck) erst gar nicht thematisiert. Es fällt auf, wie häufig abschwächende Erwähnungen bei manchen Autoren das Bild bestimmen. Sie vermeiden allzu oft, allzu gern die Grausamkeit des Kaisers zu schildern, um ein möglichst ‘positives’ Bild Konstantins zeigen zu können. Seit Konstantin tut sich eine Symbiose von Bigotterie und Mordlust auf, die bestimmten Charakteren auf den Leib geschnitten ist, ein institutionalisiertes Zusammenwirken auch von Thron und Altar, ein Hin-und Herloben, das nur den erstaunt, der die Folgezeit nicht entsprechend zu deuten weiß: Über Jahrhunderte hinweg fordern Priester die Macht, das Privileg, das Geld, und verdammen alle weltlichen Herrscher, die nicht detailgenau so wollen wie es ihnen gepredigt wurde. Sie berufen sich mehr oder weniger wörtlich auf niemand anderen als auf jenen Urvater der Symbiose, der exemplarisch wußte, wozu er Priester benötigte. Zum Beten wahrscheinlich am allerwenigsten, zur Propaganda eher.
Fakten festigen ein anderes Urteil: Konstantin war nach innen wie nach außen ein Despot, dessen Idealisierung unangemessen ist. Doch der allgemeine Verblendungszusammenhang ist noch längst nicht aufgedeckt. Es hat vielmehr den Anschein, als gälten die von dem zwielichtigen Autor Laktanz noch zu Lebzeiten Konstantins gefeierten Massenmorde an kriegsgefangenen Franken noch immer als wegweisend für die spätere Rezeption. Wer aber die Schandtaten eines Kaisers verschweigt oder herunterredet, ist kein Jota redlicher als derjenige, der einen Massenmörder bejubelt wie seinerzeit der christliche Pamphletist Laktanz.”/zitatende (nachzulesen in konstantin der grobe, Horst Herrmann)
der begriff der `Reinheit` im christentum und die auswirkungen auf die rolle der frauen
http://www.oddblog.de/reinheit/seite-11.html