Wenn Mamma gemolken wird: Sexismus in den Zeichensprachen
Unser Enkelsohn, 13 Monate alt, kann erst ein paar Silben sprechen, diese dafür aber umso gebieterischer. In plötzlicher, höchster Erregung, mit durchdringender Lautstärke und im Kommandoton ruft der sanfte Junge „Dat!“ oder „Ait!“ oder „Mammammam!“
„More“ (mehr) kann er noch nicht sagen, aber zeigen. Seine Mutter erzählte, dass er von seiner Babysitter schon einige Zeichen der Babyzeichensprache (Baby Sign Language bzw. BSL ) gelernt habe. Wenn er an die Mutterbrust wolle, mache er das Zeichen für „Milch“. Es leitet sich vom Kühemelken ab: Die kleine Faust schließt und öffnet sich abwechselnd, macht also eine Melkbewegung.
Der kleine Junge weiß nicht, wie eine Kuh gemolken wird, wohl aber wissen es die großen Jungs, die das Zeichen für „Milch“ erdacht und es auf Muttermilch übertragen haben. Mamma wird gemolken, wie eine Kuh.
Ich fand das nicht besonders lustig. Zwar sollten wir uns ja als Geschöpfe von Mutter Natur nicht über die Tiere erheben, aber diese Gleichsetzung von stillenden Müttern mit Milchvieh missfiel allen Frauen in unserer Familie gründlich.
Misstrauisch geworden, schaute ich mir ein paar weitere Zeichen der Babysprache, der American Sign Language (ASL) und der ISL (International Sign Language) an. Das Zeichen für "Mutter" in der BSL wie in der ASL ist: Daumen am Kinn im rechten Winkel, die Hand gestreckt und die anderen vier Finger gespreizt. Das Zeichen für "Vater" ist identisch, nur eine Etage höher angesiedelt, nämlich an der Stirn, da wo der männliche Intellekt vermutet wird. Das Zeichen für „Großvater“ ist von dem für „Vater“ abgeleitet, denn, so die sinnige Erklärung, „der Großvater ist ja der Vater des Vaters“. Oder der Vater der Mutter, aber diese Variante fiel den Zeichenentwicklern und Interpreten wohl nicht ein.
Und entsprechend gestaltet sich das Zeichen für „Großmutter“: Es wird von dem für „Mutter“ abgeleitet und wird wieder an der unteren Gesichtshälfte angesetzt. Die Baby Sign Language Webseite meint, das Zeichen könne gerne auch für ältere Frauen allgemein verwendet werden.
Beim "Großvater"-Zeichen fehlt dieser Hinweis. Ältere Männer allgemein gibt es nämlich nicht, sondern es sind Industriebosse, Politiker oder Dirigenten, usw. Auf jeden Fall sind das nicht unbesehen alles Opas.
Das Schema „oben - unten“ organisiert jedes hierarchische System, sei es nun feudalistisch, kapitalistisch, patriarchalisch, sonstwas, alles zusammen oder von allem etwas. Die Herrschenden sind oben, die Beherrschten unten. In der American Sign Language werden die Geschlechter genau nach diesem Prinzip unterschieden: Die obere Gesichtshälfte, da wo das Kontrollzentrum Gehirn sitzt, gehört den männlichen Begriffen, die untere den weiblichen. Auf Youtube macht uns das ein Mann ganz deutlich und findet offensichtlich nichts dabei. Der Info-Text dazu lautet:
Learn how to tell the difference between male and female signs in American Sign Language (ASL). The top half of your face is used for male signs such as MAN, BOY, FATHER, SON, UNCLE, etc. while the bottom half of your face is used for female signs such as WOMAN, GIRL, MOTHER, DAUGHTER, AUNT, etc. Additional gender signs are included in this video. Enjoy!
Angewidert von der sexistischen Struktur auch dieser Sprachen, suchte ich Trost bei der ISL (International Sign Language). Das Zeichen für „Mann“ sieht ähnlich aus wie ein strammer militärischer Gruß, die Hand zackig und in untadeliger Form an die Stirn gelegt. Das Zeichen für "Frau" ist ein leichtes Zupfen am Ohrläppchen (da, wo bei der Frau der Ohrring baumelt), oder die Andeutung einer Halbkugel in Höhe des Busens.
Dass es auch anders geht, zeigt die Britische Zeichensprache. Dort ist das Zeichen für „Mann“ eine Bewegung, die einen Bart andeutet. Einen Bart hat zwar nicht jeder Mann, aber der Körperteil, der allen Männern gemeinsam ist, ist denn vielleicht doch zu weit unten angesiedelt. Und außerdem passt eine so krude Gleichsetzung nur für Frauen und ihren Euter - äh, Busen. •••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••
Mehr Glossen von Luise F. Pusch gibt es hier. Jeder Band enthält rund 50 Glossen und kostet 9,90 EUR:
Kommentieren für diesen Channel-Eintrag nicht möglich
28 Kommentare
Nächster Eintrag: Frauen in Männerkleidung oder Der Boyfriend Blazer
Vorheriger Eintrag: Delethalisierung im Alltag
18.08.2014 um 18:31 Uhr anne
Mit den händen verstehen / interessantes erfahre ich über zeichen, gesten, gebärden zu politikerInnen, z.B. für Angela Merkel gibt es unterschiedliche anwendungen; manchmal müssen auch ihre nach unten zeigenden Mundwinkel herhalten oder die Frisur.
Gerhard Schröder - der “Schwanker”
Guido Westerwelle - “Aknehaut”
Oskar Lafontaine - der Mann mit der Nase
Joschka Fischer - der “Dickdünne”
Ob das immer sinnvoll ist oder gefällt?
http://www.bild.de/video/clip/gebaerden-10497598.bild.html
18.08.2014 um 16:19 Uhr Joey Horsley
@Felix Sachs
Thank you for your explanation. As an American I too feel uncomfortable with nationalist – and especially triumphalist – rhetoric and sentiment. Typical for this is the notion held by many of our politicians and citizens that the US is an “exceptional” nation. Obama was condemned as a virtual traitor when he – at first – hesitated to endorse this shibboleth.
I am not a linguist, but it is my sense that the meanings of words evolve and shift not only through time, but also according to context and usage community. For example, the word “feminist” has a positive connotation for some, but negative resonance for others, depending on their experience, exposure to various ideas and influences, etc. The comment of Vilinthril on 08/13 at 08:17 PM makes a similar point regarding the possible evolution of the term “Gebärdensprache.”
17.08.2014 um 22:45 Uhr Felix Sachs
@Joey Horsley
Thank you, Joey, for answering to my comment on the very ineresting discussion in the website of Luise F. Pusch! It’s very far from me to take any influence on the English language in this way. I’m horrified of all forms of nationalism, especially our swiss national holiday (1st of August with wild loud „Knallerei“). It is based on pure myths (Wilhelm Tell and „Rütlischwur“...). I would prefer a remembering of the 12th September 1848 (coming into force of the new Constitution for the Swiss conferation, partially following the model of the US constitution; with a real democratic order, with obligatory schooling for boys and girls…) – but no swiss citizen knows anything about it!
My question about an English equivalent to the German „Gebärde“ is only linguistic. I think „sign language“ has in no way any discriminating meaning. I focused only on justifying the choice of the term „Gebärdensprache” instead of „Zeichensprache“. Mirjam Münger (deaf woman in Bern, responsable for information events and courses for deaf persons, especially job applicants) and Penny Boyes Braem (founder of the Forschungszentrum für Gebärdensprache – 1982 – and author of many articles and books on that topic) are two women very conscious of linguistic correctness.
(I ask you to excuse me for my clumsiness in English expression – thank you!)
Felix Sachs
17.08.2014 um 20:30 Uhr Joey Horsley
I hope Felix is not suggesting that we try to find an English substitute for “sign language” which better approximates the emotional relationship (allegedly) conveyed by the term “Gebärdensprache”? Or
Sollte wieder “am deutschen Wesen
Einmal noch die Welt genesen”?
Just as “Gebärdensprache” has become the accepted term in German, “sign language” or “signing” are standard in English.
17.08.2014 um 10:14 Uhr Felix Sachs
Mir kommt gerade noch ein Vergleich in den Sinn: Ist der Unterschied zwischen “Gebärde” und “Zeichen” nicht etwa der gleiche wie der zwischen “Stillen” und “Melken”? Beim Stillen wird der Säugling von der Mutter rein biologisch betrachtet mit Milch ernährt, da geschieht aber viel mehr: Es wird eine intensive Beziehung aufgebaut. Auch Kälber “melken” die Kuh nicht, sondern sie werden “gesäugt”. Durch das “Melken” werden Kühe im Grunde entwürdigt, für menschliche Zwecke missbraucht. “Zeichen” werden in der Informationstheorie nur von ihrem Zweck her betrachtet, dass sie der Informationsübertragung dienen; hier reden wir von “Sender” und “Empfänger”. Wenn Gehörlose miteinander “sprechen”, geschieht auch viel mehr als nur eine reine Informationsübertragung, es geht auch um Gestaltung und Festigung persönlicher Beziehungen. Um das auszudrücken, ist eben “Gebärdensprache” besser geeignet als “Zeichensprache”. Das englische “sign language” kann nicht als Beleg dienen, dass “Zeichensprache” genauso gut geeignet wäre. Jeder gute Übersetzer weiss, dass es nicht genügt, im Wörterbuch nachzuschlagen, es ist immer auch der emotionale Gehalt zu beerücksichtigen. Ich habe gerade gesehen, dass es kaum ein englisches Wort für “Gebärde” gibt. Ich glaube nicht, dass “gesture” das Gleiche auszudrücken vermag. Oder weiss jemand ein besseres englisches Wort?
Felix Sachs
15.08.2014 um 18:09 Uhr Vilinthril
@anne: Keine Frage, in vielen (zu vielen!) Gebärdensprachen gibt es noch zahlreiche (viel zu zahlreiche!) Beispiele für inhärent sexistische (und auch rassistische oder sonst wie stereotypisierende) Gebärden. Der Sprachwandel und die Bewusstseinsschaffung wirkt hier schon, wenn auch noch viel zu langsam, keine Frage. (Zum konkreten Beispiel bzgl. Milch und Stillen siehe aber den Beitrag von Birgit weiter oben, sowie auch den von Felix zur allgemeinen Situation bzgl. diskriminerender Gebärden).
Das ist aber unabhängig von der Tatsache, dass Gebärdende den Begriff „Zeichensprache“ als diskriminerend empfinden.
14.08.2014 um 18:36 Uhr anne
Sexismus in der zeichen-gebärdensprache: hier heisst es auch, dass die alte geste für `frau` (busen) diskriminierend empfunden wurde. Ferner (zitiert) im französischen ist die gebärde für `mädchen` fast identisch der für `frau`. sie wird lediglich verdoppelt. Man beachte, dass jungen in beiden ländern `denken`, während das deutsche mädchen durch ohrringe charakterisiert wird . also ich finde das ziemlich heftig.
Auch in einigen internet-schnupperkursen wird für `frau` genau die handbewegung zum busen gezeigt, während für den `mann` die stirn `gereicht` wird, da wo der männliche intellekt sitzt.
Wenn betroffene den begriff `gebärdensprache` lieber wählen, ist das natürlich zu akzeptieren, aber letztlich `zeichensprache` als begrifflichkeit diskriminierend zu empfinden, wertet auch sie ab, denn zeichen sind nun einmal grundlage der sprachen? Andere könnten ebenso auf den gedanken kommen und sagen, gebärdensprache besteht ja nur aus gebärden.. sprache ist etwas wundervolles und außerordentlich vielfältig , egal wie sie aufgebaut , genutzt und erweitert wird.
Außerdem geht es doch in der glosse um den sexismus , die sexistische struktur in den sprachen , sogar angedeutet durch `zeichen`. Ich erinnere mich an Luises frühere Glosse `crotch grab`, der griff in den schritt, ein uraltes männl. ritual als zeichen, geste ungebrochener männlichkeit. Die symbolische zurschaustellung der männl. genitalien soll in vielen kulturen teil der männl. körpersprache gewesen sein ... zu weit `unten` angesiedelt, um als zeichen, als gebärde f.d. mann aufzunehmen?
Danke an Luise!
http://www.arte.tv/de/die-sprache-die-gebaerdensprache-teil-2/7074456,CmC=1770376.html
13.08.2014 um 20:17 Uhr Vilinthril
Nein, so einfach kann man es sich nicht machen. Viele DGS-/ÖGS-/DSGS-Gebärdende gebärden als Fremdsprache auch in ASL (oder ISL, BSL, …), dadurch sind sie natürlich auch davon betroffen, wie diese Sprachbegriffe übersetzt werden. Und selbst, wenn sie das nicht wären, geht es um die Einheitlichkeit der Begrifflichkeiten; ASL, BSL, ÖGS, DGS, … sind eben Gebärdensprachen und keine Zeichensprachen.
Bzgl. „warum wird das als diskriminierend empfunden“ kann ich nur mutmaßen (wie gesagt, empfehle Krausneker, bereits oben verlinkt, oder das IDGS in Hamburg). Historisch wird es aber wohl mit der jahrzehntelangen (und immer noch erschreckend prävalenten!) Geringschätzung der Gebärdensprachen der Art „keine echten Sprachen“, „die gestikulieren ja nur herum“, etc. zu tun haben; wie genau da im deutschsprachigen Lautsprachumfeld die Begriffsgeschichte hinsichtlich diskriminierender Konnotationen ist, wissen die Fachleute sicherlich.