Wenn die schweigende Mehrheit aufschreit
Zur Erinnerung an Rosa Parks, die gestern 100 Jahre alt geworden wäre. Die deutsche Sexismus-Debatte, Stichwort #aufschrei, habe ich in Boston nicht in voller Intensität mitbekommen. Hier toben derzeit andere Debatten, nämlich die um verschärfte Waffengesetze (gun control) und die Reform der Immigrationsgesetze. Zum Thema Gun Control sagte kürzlich Chuck Schumer, der demokratische Senator des Bundesstaats New York, sinngemäß: „Erstmals in der Geschichte der Vereinigten Staaten bekommen die Waffenliebhaber mehr Gegenwind als die Waffengegner. Es ist politisch nicht mehr opportun, gegen Gun Control zu sein.“ Mit anderen Worten: Es kostet Stimmen. Waffenfreunde spüren die Gefahr, zur Minderheit zu schrumpfen.
Alle drei Debatten - Sexismus, Gun Control, Einwanderung - haben eins gemeinsam: Es geht seit Jahrzehnten hin und her, aber zum ersten Mal sieht es so aus, als hätten die Progressiven die Nase vorn. Zum ersten Mal hat ein US-amerikanischer Präsident Selma, Seneca Falls und Stonewall in einem Atemzug genannt, und das vor einem weltweiten zweistelligen Millionenpublikum, in seiner Inaugurationsrede - wenn auch in historisch falscher Reihenfolge. Er gewichtete mehr nach Status: Selma (1965) steht für die weithin anerkannte Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen, Seneca Falls (1848) steht für die weniger anerkannte Frauenbewegung, Stonewall (1969) für die am wenigsten anerkannte Lesben- und Schwulen- bzw. LGBT-Bewegung.
Auch die Fortschritte der „gay marriage“ in Frankreich und der weltweite Aufschrei nach der Gruppenvergewaltigung in Indien lassen hoffen, dass die Stimme der Vernunft sich langsam, aber sicher Gehör verschafft.
Vor zwei Jahren erlebten wir um diese Zeit den „arabischen Frühling“, der inzwischen zu einer „islamistischen Eiszeit“ zu gefrieren scheint. Wird es diesem feministischen und progressiven Frühling genau so ergehen?
Am 27. Januar hieß es in Günter Jauchs Talkshow, 60.000 Frauen (Männer wie immer herzlich mitgemeint) hätten sich innerhalb von nur 3-4 Tagen auf Twitter Luft gemacht und und sich in einem endlosen Strom haarsträubender Geschichten über den alltäglichen Sexismus in Deutschland beklagt. Am Tag der Heiligen Super-Bowl eine Woche später war das Thema laut twitter-trends.de noch immer an dritter Stelle, heute ist es wieder auf Platz eins.
Die Jauch-Show habe ich mir erst am Freitag angesehen, und auch dabei erlebte ich das erhebende Gefühl, mit meiner Meinung einmal nicht mit Alice Schwarzer in der verpönten Minderheit zu sein, sondern in der Mehrheit, zusammen mit Anne Wizorek, Silvana Koch-Mehrin und (teils) Thomas Osterkorn - gegen Wibke Bruhns, Hellmuth Karasek und den Moderator. Erstmals in der Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland haben SexistInnen Gegenwind. Zu dieser alten Garde von gestern gehören Karasek und Bruhns mit ihrem unangenehm süffisanten Lächeln - ich sage es ungern, denn ich fand ihr Buch „Meines Vaters Land“ gut und mutig.
Liest frau allerdings die neuen Tweets unter #aufschrei, muss sie bekümmert feststellen, dass dort die Eiszeit bereits wieder eingesetzt hat. Antifeministische Einträge, Trivialisierungen, krasse Sexismen in der Mehrheit. ——— Mit dieser resignierten Feststellung hatte ich vorgestern (Sonntag) meinen Textentwurf vorerst abgebrochen. Obwohl ich nur einen ganz kurzen Einblick in die sexistischen Sudeleien unter #aufschrei genommen hatte, mochte ich nicht mehr. Die ungebremste Energie der SexistInnen raubte mir den Elan. Meine Zuversicht und Siegesgewissheit kamen mir plötzlich naiv vor. Es wird sich doch nichts ändern, dachte ich, wie schon so oft.
Gestern aber bekam ich zwei Mails, die mir einen neuen Energieschub brachten und mich veranlassten, den Text doch fertigzumachen und ins Netz zu stellen. Aus der ersten Mail zitiere ich Auszüge:
Stillschweigend wird in unserer Gesellschaft zwar mit dem Kopf genickt, wenn wir uns über eine Vergewaltigung wie in Indien aufregen, ich sehe aber keinen, der bei Sexismus für die Betroffene eintritt. Eintreten heisst, im Rahmen unseres Umfeldes EINSCHREITEN, Partei ergreifen für das Opfer von Sexismus und Mobbing oder Übergriff und nicht betreten wegsehen. Aktiv Hilfe anbieten, und nicht aus Angst, den Freundeskreis zu verlieren, stillschweigen. Das ist die Devise. Natürlich braucht es etwas Mut, dem Bekannten oder Freund klar zu sagen, daß er sich gerade unmöglich verhalten hat und sich entschuldigen soll. Dort, im Freundeskreis, setze ich an.
Ich wünschte nur, dass mehr Frauen aktiv eingreifen, wenn es zu verbalen Übergriffen kommt. Damit wäre schon etwas erreicht. Aktiv in physische Übergriffe eingreifen, das sollte wohl langsam ein Geschäftsmodell werden wie in USA. In Florida werden Schäferhunde als Begleithunde für Frauen ausgebildet. Große Frage: Könnten die wie bei Behinderten als Therapiehunde günstiger besteuert werden?
Die zweite Email enthielt folgende Passage:
Die Sexismus-Debatte ist entsetzlich. Erinnert mich an die Debatte um Clarence Thomas - wann war das? 92 oder so. Dass im öffentlich-rechtlichen Fernsehen jemand auf die Frage, ob man auf die Brüste einer Frau schauen darf, mit "Das muss man sogar!" ohne heftigsten Widerspruch antworten kann, macht mich sprachlos. Vielleicht waren alle Teilnehmenden auch sprachlos und haben deswegen nichts gesagt.
Beide Mailschreiberinnen bestehen darauf, dass wir den Mund aufmachen und aufschreien müssten da, wo wir meistens resigniert schweigen.
Cristina Perincioli brachte das Dilemma schon 1978 in ihrem berühmten Film „Die Macht der Männer ist die Geduld der Frauen“ auf den Punkt. Wir könnten auch sagen: „Die Macht der Männer ist das Schweigen der Frauen.“
Mit dem Schweigen sollte jetzt endgültig Schluss sein. Die Femen-Frauen in der Ukraine, die Slutwalkbewegung, die russischen Pussy Riots, die soeben für den Friedensnobelpreis nominierte Malala Yousafzai, die Frauen in Indien und die Hunderttausende deutscher Frauen, die ihre Wut unter „#aufschrei“ rauslassen, haben es vorgemacht. Und auf den weltweiten One-Billion Rising Veranstaltungen werden wir am Valentinstag noch mal tüchtig nachlegen. Wir machen weiter, bis die Männer mit dem Scheiß aufhören.
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13 Kommentare
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20.02.2013 um 10:00 Uhr Dürr
@Ein Freier: Sie wollen provozieren, weil Sie sich schämen, ein Mann zu sein. Dazu haben Sie allerdings allen Grund, weil kein Tier auf diese, Ihre Stufe sinken kann. Möge Ihnen Ihre Haltung das Glück bringen, das Sie verdienen!
Dürr
20.02.2013 um 09:59 Uhr Dürr
@Ein Freier: Sie wollen provozieren, weil Sie sich schämen, ein Mann zu sein. Dazu haben Sie allerdings allen Grund, weil kein Tier auf diese, Ihre Stufe sinken kann. Möge Ihnen Ihre Haltung das Glück bringen, das Sie verdienen!
18.02.2013 um 17:28 Uhr Amy
“Kommt billiger als sich mit Frauen rumärgern zu müssen”
Der typische Frauenbenutzer ist beziehungsunfähig, frauenfeindlich, gesetzestreu (derFreitag - Warum gehen Männer zu Prostituierten); der Frauen-/Körper reduziert auf ein Loch, worin sich der Frauenbenutzer nach Lust und Laune austoben kann. Ausgeblendet wird , ob die Frauen Opfer von Menschenhandel sind, von Zuhältern erpresst oder auf eine andere Weise zur Prostitution gezwungen werden. Nur 3-5 Prozent der Prostituierten arbeiten auf eigene Kosten ohne Zuhälter. Um diese Art der Begegnung mit Männern kont. seelisch zu überstehen, nehmen viele Frauen Alkohol oder Drogen zu sich; viele sind traumatisiert, erlebten in der Kindheit sexuelle Gewalthandlungen.
In einem Blog habe ich kürzlich einen Kommentar einer betroffenen Frau gelesen: “Ich habe als Prostitutierte den Respekt vor Männern verloren, sie belügen sich und verdrehen Tatsachen, um ihr Tun zu rechtfertigen. Es sind Männer, die Frauen in Not überhaupt erst die Option ermöglichen, den Körper, die eigene Intimität zu verkaufen. Ich kann sehr schwer beschreiben, was es mit mir gemacht hat, und ich weiß nur, dass es unumkehrbar ist.”
Prostitution hat nichts mit Liebe zu tun ; welche liebevollen Qualitäten hat schon ein sog. `Freier` , der `billigen` Sex bevorzugt als sich mit Frauen rumärgern zu müssen? Der Begriff Freier (auf Brautschau) ist in dieser Hinsicht völlig absurd. Er sollte den Mut haben, sich als das zu bezeichnen, was er ist und was er tut: ein Frauenbenutzer.
http://www.rp-online.de/kultur/buch/lisa-moos-das-erste-mal-und-immer-wieder-1.2044196
17.02.2013 um 12:59 Uhr Ein Freier
‘@ Amy
Ich gehe gerne zu Huren. Jeden Sonntag auch heute. Erst schoen. Was essen und dann wird ge…..
Dafuer bezahle ich 400 Euro im Monat. Kimmt billiger als mich mit Frauen rumaergern zu muessen.
Ich gehe allerdings nur zu deutschen Huren und behandele sie mit Respekt.
Ich bin klar gegen Zwangsprostitution deswegen gehe ich nur zu deutschen Huren die auch was kosten
Ist das denn soo schlimm? Ihr bezahlt auch Leute die sich am Bau die Knochen kaputt machen,
16.02.2013 um 15:45 Uhr Amy
Im England des späten 19. Jahrhunderts engagierten sich Abolitionistinnen für die Abschaffung der Prostitution; betroffen von Prostitution waren damals wie heute Frauen, die aus der `Armut` kommen . Und die aus der Armut kamen, waren f.d. menschen-unwürdigsten Arbeiten gut genug? Weil (reiche) Männer sie für den Verkauf ihres Körpers bezahlten?
Der “Aufschrei” damals kam von mutigen Frauen - wie auch immer ihre Aktionsformen aussahen. Es ging darum, sich Gehör zu verschaffen, was bei den Gegnern nie auf Gegenliebe stieß.
Josephine Butler schrieb: Prostitution ist weibliche Sklaverei ... Wie wichtig schon damals der unerwünschte “Aufschrei” mutiger Frauen zeigt mir das Zitat der Autorin M.P. - Josephine Butler setzte sich in den Folgejahren vor allem gegen den Frauenhandel ein. Sie trug außerdem dazu bei, dass 1885 das Ehemündigkeitsalter in Großbritannien von 13 auf 16 Jahre heraufgesetzt wurde. Über die langfristigen Auswirkungen, die ihre Kampagne hatte, schrieb die Autorin Melanie Phillipps:
“[In den sechzehn Jahren, bis der Erlass widerrufen wurde] veränderte diese Kampagne die politische Landschaft. Mit der Kampagne wurden soziale und sexuelle Konventionen hinterfragt, die nie zuvor öffentlich diskutiert wurden. Die Kampagne radikalisierte zahlreiche Frauen, härtete sie ab gegenüber öffentlichen Angriffen und Verleumdungen und schuf eine Infrastruktur des politischen Protests.”
Auf mich wirken die Großbordelle mit Flatrate-Garantie, die etlichen Laufhäuser für bis zu 1000 Männern und Gaffern, die hier durchgeschleust werden, um Frauen nach Lust und Laune - auch gleichzeitig mit mehreren - zu penetrieren, wie Kasernen. Frauen werden für die Sexarbeit kaserniert, rekrutiert, abgerichtet. Und die meisten Prostituierten kommen dazu noch aus tiefer Armut, die meisten aus Osteuropa, Asien, Lateinamerika. Wobei damals wie heute z.B. die reichen Bordellbesitzer, sog. Freier Sexarbeit f. ihre nächsten weiblichen Angehörigen strikt ablehn(t)en.
Frau kann gar nicht wütend genug sein, um gegen Sexismus zu protestieren. Ich glaube nicht an das Märchen der glücklichen Huren - vor allem, wenn ich alles über die Geschichte der Prostitution lese. Wie viel Opfer steckt in Sexarbeit? Ich glaube damals wie heute eine ganze Menge…
Insb. wenn ich folgendes zur sog. Freier-Kultur lese: ” Der schwedische Soziologe Sven-Axel Mansson hat zahlreiche Freierstudien analysiert und seine Ergebnisse vor kurzem dem Europäischen Parlament vorgestellt. Mansson zufolge sind viele Freier chauvinistisch eingestellt.
Auch gebe es zahlreiche Männer, die von der Vorstellung fasziniert sind, Frauen zu benutzen oder zu konsumieren. “Sie stellen sich den Sex mit einer Prostituierten so vor, als gingen sie zu McDonald’s”, sagt Mansson.
Für viele Sex-Käufer stelle das Bett einer Prostituierten eine letzte anti-feministische Bastion dar. Nur dort könnten Männer die alten Machtverhältnisse herstellen und Frauen buchstäblich in die Vergangenheit zurückstoßen.
Studien des amerikanischen Soziologen Michael Kimmel von der Stony Brook University im US-Staat New York stützen diese Ansicht ebenso wie die Analysen der Genderforscherin Janice Raymond von der University of Massachusetts.
Prostitution ist die Geschichte von Frauenverachtung und -ausbeutung, Sexismus. Verachtung, Ausbeutung, Ausgrenzung, Sklaverei, Sexismus haben nicht nur Frauen erlebt, sondern Menschen unterschiedlicher Zugehörigkeit zu einer Religion, Hautfarbe usw.
Zutritt nur für Männer
http://www.faz.net/aktuell/rhein-main/rotlichtviertel-im-schein-der-lichterketten-11710819.html
16.02.2013 um 10:48 Uhr Dürr
Mit vielem Aussagen der e*vibes bin ich einverstanden, aber mit der Folgenden nicht:
“Ihr setzt die Shoa und den Porajmos mit Prostitution gleich – als würden Frauen gezielt und industriell zu Millionen ermordet, weil sie Frauen sind. Das ist wirklich nicht zu fassen und in keiner Weise tragbar.
Faschismus, Genozid und Holocaust werden hier relativiert und verharmlost.”
Was, bitte schön, ist der Unterschied zwischen Juden, die systematisch ermordet werden und Frauen, die systematisch ermordet werden?! Das katholische Patriarchat hat das in den Hexenverfolgungen getan, die Sexindustrie macht dies heute - unter anderen, verharmlosenden Bezeichnungen wie Frauenhandel, erweiterter Suizid, häusliche Gewalt, Pornografie, Pädophilie, Abtreibung (von Mädchen, genitale Verstümmelung, Zwangsehe usw.. Seelenmord ist kein Mord? Mädchenmord kein Holocaust?
Sind Frauen also die weniger wichtigen Menschen als die Juden? Was wird relativiert, wenn gegen den heutigen Femizid protestiert wird? Was wird verharmlost?! Hier wird die systematische, millionenfache (seelische) Ermordung der Frauen relativiert - und das auch noch von Frauen! - und damit bin ich nicht einverstanden!
15.02.2013 um 13:14 Uhr alice d.
> Mit dem Schweigen sollte jetzt endgültig Schluss sein. Die Femen-Frauen ... haben es vorgemacht. <
ich bitte darum, die aktionsformen von femen germany kritischer zu betrachten:
http://evibes.blogsport.de/2013/01/29/offener-brief-an-femen-germany/
06.02.2013 um 11:51 Uhr anne
nachtrag: “Die Belästigung von Frauen ist normaler Teil der österreichischen Gesellschaft geworden. Die kulturelle Definition von Männlichkeit muss hinterfragt werden - da gibt es allerdings noch sehr viel zu tun.
Leugnen und Abstreiten
Der Aufschrei zeigt: Sich des Ausmaßes des Problems einmal bewusst zu werden ist ein tiefgreifender und störender Prozess, dem sich nicht jeder stellen möchte. Leugnen und Abstreiten stellt für viele den harmloseren Weg dar. Oft ist es auch schlicht einfacher, anderen sexistischen Männern stillschweigend zuzusehen, als sich dagegen auszusprechen.
Es ist geradezu zynisch, dass Männer, die sich offen gegen Sexismus bekennen, oft als Weicheier oder humorlos bezeichnet werden, wenn diese eigentlich mehr Selbstvertrauen und Selbstsicherheit aufweisen als jene, die nichts sagen, Dieses Image muss sich umkehren. Wir müssen darüber sprechen, wie Männlichkeit heute kulturell definiert und repräsentiert wird. Wenn es nach wie vor als Ausdruck einer akzeptablen Verhaltensweise gilt, der Aushilfskellnerin im Teenageralter im Vorbeigehen den Po zu tätscheln (wohlgemerkt kein Geschlechtsorgan), dann gibt es noch viel zu tun.” (Laura Wiesböck, DER STANDARD, 6.2.2013)
http://derstandard.at/1358305738827/Licht-in-die-dunklen-Ecken-der-Debatte